Fremde in der Nacht. Barbara Sichtermann

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Fremde in der Nacht - Barbara Sichtermann


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Übergewicht zustande. Ich will tun, was ich kann, dass mir das nicht passiert. Früher habe ich mit Radfahren und Gesellschaftstanz ein übriges für die Gesundheit getan, aber nach meiner Trennung von Almut war mir das alles verleidet. Radfahren hatte ich mit ihr begonnen, es war ihr Lieblingssport, und auch zum Tanzen hat sie mich veranlasst. Kaum war sie gegangen, habe ich das Mountain Bike verkauft. Für den Erlös konnte ich mir eine historische englische Dampflok, ein Paar Doppelkreuzungsweichen und zwei neue Trafos leisten. Ich hatte das Rad nicht mal mehr ansehen mögen, so sehr erinnerte es mich an Almut. Zuerst fürchtete ich, die Lok und die Trafos könnten etwas von dieser unerbetenen Erinnerung abstrahlen, weil sie ja das geldliche Äquivalent »unseres« Fahrrades darstellten - aber das war glücklicherweise nicht der Fall. Manches ist mir doch geblieben, manches gehört nur mir. Vor allem meine Eisenbahn, für die sich Almut nie wirklich interessiert hat, außer dass sie fand, sie nehme zu viel Platz weg. Und das Schwimmbad.

      In diesen Tagen, wo der Sommer loslegt und eine höllische Hitze über der Stadt entfacht, bersten die Freibäder.

      Wer geht schon ins Hallenbad bei 30°? Und dann noch nachmittags um vier? Ich. Anschließend werde ich in den Heidelberger Platz hinabsteigen und zu Lothar fahren: Er hat die Stadtbahnstrecke Friedrichstraße-Jannowitzbrücke ausgelegt, und ich darf bei der Einweihung dabei sein.

      Meine Zehnerkarte ist ja nun weggekommen. Erstaunlich, was alles in eine einzige Brieftasche hineinpasst. Drei Tage ist es her, dass mir das kostbare Teil geklaut wurde, und noch immer bin ich mir nicht ganz im klaren, was eigentlich alles drin war. Hoffentlich gehen Karli oder der Schwarze wenigstens mal schwimmen - um den Staub des Mäuseturms von den Gliedern zu waschen und die kaum angebrochene Abo-Karte aufzubrauchen. Ich hasse Verschwendung. Und sehe blutenden Herzens vor mir, wie die unreifen Räuber meinen Personalausweis, meine Umweltkarte, einen ganzen Satz Visitenkarten, den Videothek-Mitgliedsausweis, den Abschnitt von der Reinigung, meine Bahn-Card und das Zehner-Abo des Wilmersdorfer Stadtbads in einen Straßenmüllcontainer kippen. Und dazu lachen und johlen wie die unerlösten Seelen.

      Ich habe meine Tasche gepackt und noch ein paar Münzen eingesteckt, um eine neue Zehnerkarte zu ziehen, als es klingelt. Das kann nur ein Briefträger sein. Seit allerlei private Dienste mit der Post konkurrieren, ist die Zeit, zu der ausgetragen wird, offen geworden. Rund um die Uhr ist Zustellung möglich. Paketboten erscheinen am Mittag, Eilbriefträger im Morgengrauen, und der Versand, bei dem ich meine Frankenweine ordere, liefert grundsätzlich kurz vor Feierabend. Ich drücke auf den Summer und linse durch den Spion. Es dauert die üblichen zwei Minuten, und auf der Treppe zum dritten Stock erscheint ein großer runder Strohhut. Die Trägerin hält ihren Kopf gesenkt, so dass ich nur den Hut mit seinem blauen Band erkenne. Er krönt eine Gestalt von beträchtlich schlanker Länge. Ich öffne verdutzt. Da betritt die hochgewachsene Person meine Fußmatte und hebt ihr Kinn. Ein Gesicht leuchtet mich an, das ich gesehen hab, ich weiß nicht, wo.

      »Ick komm vom Jugendamt«, sagt das Mädchen mit dem Hut. Sie lächelt unpassenderweise ein wenig hämisch. Ihre Lider und ihr Mund sind so geschminkt, wie das bei Mitarbeiterinnen des Jugendamtes kaum üblich sein dürfte. Sie reißt die Augen auf, als wollte sie sagen: Wat is, soll ich hier Wurzeln schlagen? und schiebt sich mit einem Schwung des Beckens an mir vorbei in den Flur. Sie nimmt den Strohhut ab. Der hat sie verborgen gehalten, die schwarzen Haarschlangen, die jetzt herausspringen und alles klären. Sie legt den Kopf zur Seite, nickt, um mitzuteilen: Ich weiß, dass du jetzt weißt: Is nix mit Jugendamt. Und sagt:

      »Ick hab wat, det dich interessiert, Opa.«

      Erst jetzt schließe ich die Wohnungstür. Auf meine Kehle drückt Erregung, die von unten hochsteigt und aus kaltem Grimm, aber auch - kurioserweise - aus Hoffnung besteht. Bringt sie mir die Zehnerkarte? Ich schlucke und bin gleich wieder gefasst. Hier wohne doch ich, mir kann gar nichts passieren. Und wenn die Medusa so generös ist, mir meinen Personalausweis zurückzuerstatten, erspare ich mir eine Menge Lauferei bei den Ämtern.

      »Dann mal los«, fordere ich meine Besucherin lachend auf und wundere mich über meine plötzlich umgeschlagene Laune. Sie stakst vor mir her ins Wohnzimmer, dessen Tür ich für sie aufstoße. Ihr Kleid, ein langes Sommerfähnchen, schwarz trotz der Hitze und mit kupferroten sowie grünspanüberzogenen Münzen bedruckt, flattert um ihre Beine. Den Hut hält sie noch in der Hand. Ich biete ihr einen Platz auf meinem Sofa an und frage mit strenger Stimme:

      »Wie war doch gleich dein Name?«

      »Yvonne Genthien.«

      Sie sagt das fast mit Stolz, den Blick auf mich gerichtet. Obwohl sie ja noch nie hier war, mustert sie ihre Umgebung nicht. Sie wirkt, als sei sie hier zu Hause oder doch an allem, was mein Salon so zu bieten hat, vollständig desinteressiert. Als sie aufhört, mich anzuglotzen, nimmt sie sich den Hut vor und beäugt das blaue Band. Danach kommt ihr Handtäschchen dran, das Schloss muss geprüft werden. Ich unterbreche diese selbstvergessene Tätigkeit:

      »Hab ich recht, dass du mir meinen Personalausweis, meine Bahn-Card und mein Schwimmbadabo verkaufen willst?«

      »Vakoofen?« Sie schlägt die Beine über, so dass ein braunes Knie unter dem geschlitzten Rock hervorsticht. »Har ick wat von Vakoofen jesacht?«

      »Na, 400 Mark bin ich doch wohl schon mal los, oder was?«

      »Wir ham ooch Unkosten, Opa. Irgendwie müssen die ja abjedeckt wer’n.«

      »Irgendwie...«

      »Na, wat meenste, wie teuer det Leben uff Trebe is. Du kannst von Glück sagen, det wir dir deine unverkäuflichen Siebensachen wiederbring’n.«‚

      »Warum tut ihr das?«

      Sie zuckt die Schultern.

      »Man is doch Mensch.«

      »Das ist die Frage - bei Gören, wie ihr es seid.«

      »Na, nu komm runter vonner Palme, Eddi. Jeder wie er kann.«

      »Eddi?«

      »Ja, steht hier uff dem Zettel vom Meldeamt. Hagen Edgar Schäfer. Hagen is ja wohl ’n Irrtum vom Amt. Saren wir also Eddi.«

      Ich strecke die Hand aus.

      »Gib schon her, den Papierkram.« Ich vollführe eine ungeduldige Geste mit der offenen Hand und will hinzufügen: Und dann mach, dass du wegkommst, beiße mir aber auf die Lippen. Hab ich doch die Chefin hier im Exklusivinterview, da müssten ein paar Informationen, Karli betreffend, rauszuholen sein. Und so schalte ich auf Zeitgewinn um.

      »Wie wär’s mit’m Kaffee?«

      Ihre Augen leuchten auf. Das Handtäschchen, das sie eben öffnen wollte, gleitet über ihr Knie und rutscht vor das Sofa. Sie lässt es da liegen. Ein verstohlenes Lächeln zuckt um ihre Mundwinkel, kurz und fast schamhaft. Mir fallen ihre Lippen auf, die trotz der schattenmorellenfarbenen Schminke frisch und blank aussehen. Ihre Stimme klingt wie die eines zwölfjährigen Jungen, dem sie eben bricht. Ihre Augen sind schieferblau, ihre Haut wahrscheinlich im Winter ganz weiß, jetzt von einem matten Rostton überzogen und mit Sommersprossen gesprenkelt. In Kombination mit schwarzen Haaren sind Sommersprossen selten. Genthien? Was ist das für ein Name? Warum lebt dieses Kind auf der Straße? Plötzlich bin ich daran interessiert, es rauszufinden. Sie sagt:

      »Haste nich ’ne Cola?«

      »Nee, so was trink ich nicht.«

      »Und ick mag keen Kaffee.«

      »Dann vielleicht Milch?«

      Sie lacht auf:

      »Humor haste, wa?«

      Wir gehen in die Küche. Hier zeigt sich, dass mein Gast auf Melone steht und also für unser beider Erfrischung gesorgt ist. Ich setze die Kaffeemaschine in Gang.

      »Moment«, sagt Yvonne. »Ick hol ma eben meene Tasche.«

      Sie kommt nicht so schnell zurück, wie es hätte geschehen müssen, wenn sie nur bis zum Sofa gegangen wäre, und ich überlege kurz, ob sich Gegenstände, die zum Klauen verlocken, in ihrer Reichweite anfinden. Ich denke mal: nein. Alles Geld trage ich bei mir, im Portemonnaie, das wie stets in meiner Hosentasche steckt.


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