Bahnfahring. Thomas C. Breuer

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Bahnfahring - Thomas C. Breuer


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einer von ihnen verstohlen nach draußen, in der vagen Hoffnung, dass der Zug wider Erwarten doch noch eintrifft. Dabei wissen längst alle Beteiligten Bescheid, seit Wochen schon. Aber die Deutsche Bahn gibt ja ihre Verspätungen ebenfalls stets häppchenweise durch. Hier trifft sie allerdings keine Schuld. Ausnahmsweise. Das haben andere versemmelt. Oder veremmelt? Mit und gleichzeitig ohne Pauken und Trompeten.

      Knapp eine Hundertschaft Zuschauer hat sich eingefunden. Ich habe die Texte eigens für diesen Abend zusammengestellt, teils völlig neu geschrieben, teils alte überarbeitet, und das für so einen Hennenschiss. Aufwand und Ergebnis stehen in keinem Verhältnis zueinander, was natürlich auch seinen Reiz hat, denn seien wir gerecht: So etwas passiert selten. Wie oft habe ich schon für absolut unaufwändige „Events“ oder „Galas“ das Drei- bis Vierfache kassiert, die mich – von der durch sie verursachten schlechten Laune einmal abgesehen – kaum ein Arschbackenrunzeln gekostet haben.

      Manchmal saufen offizielle Anlässe sang- und klanglos ab. Ein Redakteur der Rhein-Neckar-Zeitung hat mir erzählt, man habe ihn einmal gebeten, bei der Preisverleihung eines Gourmetmagazins die Laudatio zu halten. Der Chefkoch, der den Preis bekommen sollte, musste kurzfristig absagen: Lebensmittelvergiftung. Bei der Einweihung des nigel-nagel-neuen Polizeipräsidiums in Heidelberg Ende der 90er-Jahre stellte man fest, dass die nigel-nagel-neue Tiefgarage für Mannschaftswagen unbefahrbar war, weil: zu niedrig.

      Emmelshausen am 2. August 1908: Die Eröffnungsfahrt verläuft ohne Beanstandung, die preußischen Lokomotiven vom Typ T26 versehen klaglos ihren Dienst. Die Strecke in den Hunsrück hinauf zu hämmern, das macht man nicht eben mit links: Der Rauenbergtunnel fordert ein Menschenleben, und 1906 wird ein Arbeiter während der Bopparder Orgelbornkirmes bei einer Meinungsverschiedenheit in einer Wirtschaft erschossen. Ein Feldrutsch bei Leiningen schließlich kostet dreizehn Arbeiter das Leben, Gaffer lösen noch dazu einen weiteren Erdrutsch aus, bei dem fünf von ihnen sterben. Die Gegenwart ist zumindest unblutig, dafür unbefriedigend. Emmelshausen am 25. September 2008: Wie eine Cannes-Premiere ohne den Film oder eine Taufe ohne Säugling oder eine Buchvorstellung ohne Buch – wobei: Das wiederum habe ich schon öfter erlebt: Einmal kamen die Bücher tatsächlich gar nicht, beim zweiten Mal eine Stunde vor Showtime – via IC-Kurier – und beim dritten Mal brachte sie ein von Eis und Schnee entnervter Drucker zur Halbzeitpause.

      Soviel zur Erhabenheit des Kulturbetriebs. Dumm allerdings, dass die lokalen Tourismusheinis gerade angefangen hatten, die Verlängerung der Bahntrasse von Emmelshausen nach Simmern, ihrer Schienen längst beraubt, als Radwanderweg zu vermarkten. Der Schienenersatzverkehr – vulgo Bus – von Boppard auf die Höhe transportiert leider keine Fahrräder. Die Hunsrückbahn hat schon manche Krise und sicher auch manchen Knallkopf überlebt. So schrieb die Bopparder Zeitung am 3. Januar 1910: „Die Zustände auf der Hunsrückbahn sind derart, dass wohl der ganze Verkehr eingestellt werden muss ...“

      Sicher werden die sich verschärfende Energiekrise und der drohende Verkehrskollaps zum Wohl des Schienenbetriebs beitragen, bei weiter steigenden Benzinpreisen bleibt die Verlängerung bis Leiningen oder darüber hinaus keine Utopie. In Großbritannien werden wegen der Wohnungsnot in den Städten – die Immobilienpreise sind innerhalb von zehn Jahren um 55 % gestiegen – in den nächsten Jahren mehr als 1.000 Kilometer Gleise wieder in Betrieb genommen. Umso mehr müssen sich dann die Angebote an die Bedürfnisse der heutigen Zeit anpassen, sogar bei der Hunsrückbahn. Um in Zukunft bestehen zu können, darf sich der neue Betreiber Rhenus Veniro Innovationen nicht verschließen. (Wer denkt sich eigentlich solche Namen aus? Rhenus Veniro – das klingt, als müsse man es in der Apotheke kaufen.) Mag der Unterhalt der Bahn bis auf Weiteres geregelt sein – was fehlt, ist die Unterhaltung. Da böten sich Themenwaggons an, die z. B. dem Orientexpress nachempfunden wurden oder Serviceleistungen wie etwa in den Kenyan Railways von Ruiru nach Nairobi: Dort findet der Fahrgast im Wagen 3 einen Prediger, der jeden Morgen eine Art Gottesdienst abhält mit Gebeten, Gesängen und Table-Dance. Also das, was man heute „Spirit-Rail“ nennen könnte. Vielleicht liegt das Geheimnis in der Entschleunigung, denn bis zur Stilllegung war die Fahrt eher ein Quickie. In den Anfangstagen brauchte man für die Reise von Simmern nach Boppard noch 2 1/2 Stunden.

      Hartmut Mehdorn – schön, dass der Name noch einmal auftauchen darf – hatte bereits ein Grußwort formulieren lassen: „Der neuen Hunsrückbahn wünsche ich allzeit gute Fahrt!“ Wann das allerdings genau sein soll: „Allzeit“, vermag aktuell niemand zu sagen. Keine 123 Tage nach der offiziellen Einweihung, am 4. Mai 2011 um 5:23 Uhr, wird der Bahnbetrieb endlich wieder aufgenommen, allerdings eingeschränkt. Bereits im darauffolgenden Dezember erhält einer der drei Triebwagen eine uneingeschränkte Zulassung vom Eisenbahn-Bundesamt.

      Beim Passieren des Bahnhofs Boppard schaue ich seither reflexartig, ob das weiß-blaue, gelbbetürte Godotbähnchen am Gleis wartet. Die offizielle feierliche Eröffnung allerdings gestaltete sich als ein Ereignis von großer Ausgebliebenheit. Nach Emmelshausen haben sie mich nie wieder eingeladen. Nicht mal ein kaltes Buffet haben sie springen lassen, dabei ist gerade in Eisenbahnerkreisen der Hunsrück als Feinschmeckerregion bekannt, nicht zuletzt durch einen kulinarischen Tempel in Gestalt der Firma Sander Gourmet in Wiebelsheim, die, das durften geneigte Leser der Zeitung Bahn-Mobil entnehmen, jene Plumpsackmenus herstellt für die Kombidämpfer in den Speisewagen der Bahn-AG, das Prinzip heißt Cook & Chill, wahrscheinlich, weil einem dabei einiges gefrieren kann. Die produzieren außerdem nicht nur für Essen auf Rädern, sondern auch die leckeren Sägespänefilets für Ikea und beliefern sogar Hotels der höchsten Kategorie.

      Anders als die Moselbahn sollte die Hunsrückbahn friedlichen Zwecken dienen. Erstere wurde als Kanonenbahn gegen die Franzosen eingerichtet, wobei nie ganz klar war, ob man damit die Kanonen selbst oder das Kanonenfutter in Gestalt von Soldaten transportieren wollte. Ich habe bei der Recherche das Buch „100 Jahre Hunsrückbahn“ aufmerksam studiert und fühlte mich dabei an meine Schulbücher in den 60er-Jahren erinnert – in denen klaffte zwischen 1933 und 1945 ebenfalls eine große Lücke. Schon wenn man das Kapitelverzeichnis durchschaut, fällt dies auf: 1917 Unfall. Sprung auf 1938: Das neue Bahnhofsrestaurant in Boppard, was einem nicht zwingend als Erstes in den Sinn kommt, wenn man an dieses Jahr denkt, und schon sind wir im Schuljahr 1944/45. Die Nazis werden nur mal am Rande erwähnt. Dafür ist mir vorne bei den Grußworten ein anderer Begriff begegnet, den ich so noch nie gehört habe: „Liebe Eisenbahnfreundinnen ...“ War sie nicht immer eine Männerdomäne, die Eisenbahn, eines ihrer letzten Rückzugsgebiete? Selten, dass in den Sendungen des großen Hagen von Ortloff einmal eine Frau auftauchte.

      Bei der Bahn ist vieles ein wenig heikel geworden in den letzten Jahren. Der jeweilige Bundesverkehrsminister kommt häufig aus dem autofixierten Bayern. Gelegentlich erwecken sie den Eindruck, dass die Blutbahnen zum Gehirn unrentable Nebenstrecken sind. Bei der Bahn walten Minutendiebe, Stundendiebe, im vorliegenden Hunsrückfall sogar Tagediebe, ja, diese klassische Betätigung erfährt hier eine absolut moderne Auslegung. Ein Verspätungsbonussystem, das wär’s: Frequent-Loser-Meilen. Vielleicht gibt es in der Bahnzentrale irgendwo einen Minutensammler, der Minuten hortet bzw. auf dem freien Markt weiter verscherbelt an Leute, die chronisch klamm sind an Zeit. Was genau macht der Pofalla eigentlich bei der Bahn AG? Die originellste Verspätungsbegründung lautet natürlich: „Auf Grund einer Verzögerung im Betriebsablauf ...“ Natürlich auf Grund einer Verzögerung – was denn sonst?

      Diebstahl im Minutentakt. Was könnte ich mit all den Stunden anfangen, welche die Bahn mir jährlich klaut, gerade jetzt, wo mir die Zeit knapp wird. Der letzte Monat war besonders ergiebig, meine persönliche Verspätungsbestleitung von 2007 wurde noch übertroffen. Über die Urkunde des Bundespräsidenten habe ich mich natürlich ganz arg gefreut, die hängt jetzt neben der von den Bundesjugendspielen 1966. Das war natürlich ein Scherz, ich habe nie eine Urkunde bei den Bundesjugendspielen bekommen. Was glauben Sie denn, warum ich Künstler werden musste? Reine Kompensation. Und was habe ich mir dafür eingehandelt? Eine bahntraumatische Belastungsstörung.

      Was mir 2008 entgangen ist, da oben im Hunsrück? Eher nichts, ich hatte die Reise schon vorsorglich zu Beginn der Nuller Jahre unternommen und darüber notiert: „Das Hunsrückbähnlein benötigt für die paar Meilen von Boppard nach Emmelshausen stolze 20 Minuten. Obwohl sie sich an der legendären Darjeeling-Bahn zu orientieren scheint, haben wir es keineswegs mit einem Pampaexpress zu tun: Hier finden


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