Höllen-Lärm. Ian Christe
Читать онлайн книгу.den englischen Provinzclubs ihre „Turns“ ableisteten. Sounds-Autor Geoff Barton sorgte dafür, dass sich für diese Bewegung der Ausdruck „New Wave of British Heavy Metal“ durchsetzte, das mit dem schrecklich umständlichen Akronym NWOBHM abgekürzt wurde. „Die NWOBHM gab es schon lange zuvor“,sagt John Gallagher von Raven,„aber irgendeiner von der Presse hat sie irgendwann entdeckt und ihr diesen Namen gegeben.“ Es war eine sehr zusammengewürfelte Szene, und das „New“ in NWOBHM war oft einfach gleichbedeutend mit unerfahren. Bei Iron Maiden jedoch war wenig Amateurhaftes im Spiel. Auf sehr schlaue Weise synthetisierten sie das Schaurige von Judas Priest mit der unmittelbaren Bedrohlichkeit des Punkrock
– eine tödliche und beeindruckende Kombination. Der Sänger Paul Di’Anno, ein geläuterter Skinhead, der schwarze Hemden sowie Nietenarmbänder und -gürtel trug, setzte sich in den Clubs durch, indem er wie Tom Jones herumstolzierte, das Mikrofonkabel in seiner Hand aufrollte und den kleinen Finger mit unübersehbarer Autorität abspreizte. Iron Maiden schienen zehnmal so viele Töne zu spielen wie alle anderen, und ihr überwältigender kompositorischer Ansatz hob das musikalische Niveau auf Jahrzehnte hin entscheidend an. Obwohl Iron Maiden ebenso sarkastisch und direkt waren wie die Sex Pistols oder Motörhead, griffen sie mit schneller, vereinter Gitarrenfront statt mit sägenden, dröhnenden Akkorden an. Die meisten Maiden-Songs wurden von dem ungewöhnlich präsenten Bassisten Steve Harris geschrieben, der einen Sturm komplexer Melodiebogen zupfte, während die beiden Gitarristen loshämmerten und trickreiche harmonische Ergänzungen einwarfen. Von Judas Priest übernahmen Maiden die super
schnellen Arpeggiogitarren und den theatralischen Gesang, und wie Priest waren sie stolz darauf, eine Heavy-Metal-Band zu sein. Einer früheren Maiden-Besetzung war 1976 bereits ein Plattenvertrag angeboten worden, unter der Bedingung, dass sie „auf Punk machen“ würden, aber Harris und Konsorten waren hart geblieben und hatten ihre eigene Karriere unbeirrt vorangetrieben, bis die Plattenindustrie gezwungen war, von ihnen Notiz zu nehmen, so, wie sie waren. 1979, in dem Jahr, in dem Margaret Thatcher Premierministerin wurde, erschien Iron Maidens selbst herausgebrachte EP Soundhouse Tapes zeitgleich mit einer ganzen Flut von Singles gleichgesinnter Bands. Mit den viel versprechenden Riffs von „Iron Maiden“, „Invasion“ und „Prowler“, die deutlich bewiesen, dass Maiden keine Angst davor hatten, musikalische Handkantenschläge auszuteilen, wurden sie zur Speerspitze der NWOBHM-Szene – und sie signalisierten, dass nicht nur in der Politik, sondern auch in der Musik ein Führungswechsel stattgefunden hatte. Nachdem diese drei energiegeladenen Songs vorab bereits von einem Londoner Radiosender gespielt worden waren, wählten dessen Hörer die Tapes noch vor ihrer offiziellen Veröffentlichung auf Platz eins der dortigen Wunschhitparade.
England feierte Iron Maiden, weil die Band ihr Land offensichtlich liebte. Die makabren Texte entwuchsen den ausgefeilten Bildern von „London town streets, when there’s darkness and fog“, wie sie Judas Priest in dem Song „The Ripper“ von 1976 heraufbeschworen hatten. Von The Damned und den hexenartigen Goth-Punks Siouxsie and the Banshees übernahmen Iron Maiden shakespeareartige Bühnentricks wie Nebelmaschinen und unheimliche Requisiten. Sie schlugen Kapital aus ihrer Umgebung und evozierten typisch britische Schrecken wie die mittelalterlichen Folterwerkzeuge, die man im Londoner Tower besichtigen konnte. Das war lustig, makaber und machte großen Spaß.
Im Februar 1980 spielten Iron Maiden „Running Free“ live bei Top of the Pops und veröffentlichten im Mai ihr Album Iron Maiden. Der britische Heavy Metal war jetzt Prime-Time-tauglich, und dementsprechend erschien zur gleichen Zeit eine ganze Reihe Alben dieser Richtung. Iron Maiden teilte sich das Rampenlicht mit Wheels Of Steel von Saxon, einer verchromten Sammlung solider, halsbrecherischer Kostbarkeiten. Def Leppard, eine Gruppe von Teenagern aus Sheffield, gaben ihr Debüt mit On Through The Night, auf dem sie ihren rohen Überschwang mit melodischen Gitarren nach Thin-Lizzy-Muster dämpften. Dann veröffentlichten Motörhead Ace Of Spades, den wichtigsten ihrer frühen Geschwindigkeitsausbrüche, und lüfteten das Geheimnis von Lemmys Unsterblichkeit mit Geschichten über sexuelle Eroberungen und den Höhepunkten des Tourneelebens. Diese beeindruckende Auswahl an Alben kappte die Verbindung zur Vergangenheit und paarte gnadenlose Härte mit schwereloser Euphorie – gemeinsam bildeten sie den Kern des NWOBHM-Universums.
Heavy Metal war Musik unter Druck; die vielen verschiedenen Schichten an Rhythmen und Melodien ergaben ein Feuerwerk des Hochgeschwindigkeitssounds. Die Energie mehrerer Gitarren wurde zu einem einzigartig zentralen Element, sie steigerte das protzige Ethos im Heavy-Metal-Songwriting und trug zu einer komplexeren musikalischen Entwicklung bei. Selbst die schlichtesten NWOBHM-Schurken variierten ihre drei Akkorde mit Tempowechseln, Gitarrensoli und Energie- oder Stimmungsumschwüngen. Dave Mustaine, Gründer von Megadeth und ehemaliges Mitglied von Metallica, erklärt: „Die NWOBHM brachte eine Menge weniger bekannter Bands hervor, aber der Musikstil sprach mich sehr an. Alles beruhte auf zyklischen Riffmustern.“
Da die Karriere von Black Sabbath vorübergehend auf Eis lag, sprangen Judas Priest als Anführer der Metal-Renaissance in die Bresche. Sie krönten die Albumflut von 1980 mit dem triumphalen British Steel, das in seinem Titel und in Songs wie „Metal Gods“ direkt auf das englische Heavy-Metal-Phänomen anspielte. Judas Priest hatten bereits den Punk überlebt und waren kurzzeitig mit Kiss durch die USA getourt. Sie hatten daraus gelernt und wurden nun stromlinienförmiger. „Living After Midnight“ und „Breaking The Law“ legten die Betonung eher auf Refrains zum Mitsingen anstatt auf ausgefeilte klassische Konstruktionen.„Das war der große Durchbruch für Priest“,sagt Rob Halford. „Das war die Platte, die im großen Stil den Ausbruch aus der Unterdrückung einläutete. Als Songs wie ‚Living After Midnight‘ und ‚Breaking The Law‘ tatsächlich im Radio gespielt wurden, setzte das einen Prozess in Bewegung.“
Generell waren die Hardrockbands der Siebziger und die Bands der NWOBHM nicht vergleichbar. Nach 1980 wirkte sogar das Aussehen der Musiker aggressiver – statt geblümter offener Hemden, Schlaghosen und Schnurrbärten bevorzugten Heavy-Metal-Bands nun enge schwarze Lederklamotten und glatte synthetische Stoffe, die mit abstrakten spitzen Winkeln, Blitzen und glänzendem Metall verziert waren. „Ich erinnere mich, dass ich mal ein ClashT-Shirt auf der Bühne getragen habe“, sagt Jess Cox. „Wir hatten auch normale Hosen statt Schlaghosen. Die Haare trugen wir mit gerade geschnittenem Pony statt des alten Mittelscheitels. Ich weiß, das klingt blöd, aber früher, Ende der Siebziger, hatten die meisten älteren Rockbands balkendicke Schnurrbärte!“
Die NWOBHM berührte auch die allgemeineren, von Punk aufgeworfenen Themen und machte sich eine raffinierte, wenn auch eher indirekte Herangehensweise an Politik zu Eigen. Das Cover der Iron-Maiden-Single „Sanctuary“ zeigte Premierministerin Thatcher, wie sie bei dem Versuch, in einer Seitengasse ein Poster der Band herunterzureißen, mit einer Axt erschlagen wird. Die britische Regierung reagierte auf die Beliebtheit der Platte mit Zensur und verlangte, dass bei der nächsten Auflage ein schwarzer Balken das Gesicht der gemarterten Staatschefin verbergen solle. Übrigens wurde Thatcher, die Sozialleistungen strich, Regierungsbehörden zum Verkauf anbot und die Gewerkschaften bekämpfte, wegen ihrer Maßnahmen von der Presse später der Spitzname „the Iron Maiden“ – „die Eiserne Jungfrau“ – verliehen.
Heavy-Metal-Fans ersetzten die orangefarbenen Irokesenschnitte der Punks durch einen eigenen Look, der sich vor allem auf die harten europäischen Rocker der Siebziger bezog (wie man sie in der Rockoper Quadrophenia von The Who 1973 um Lagerfeuer herumstehen sieht). Diese jungen Deutschen, Engländer, Holländer und Italiener hatten den Terrorismus, den wirtschaftlichen Niedergang und die Anwesenheit der NATO- oder Ostblock-Truppen in ihren Ländern während des Kalten Kriegs überlebt. Wie die Hells Angels trugen sie schwarze Lederjacken unter zerrissenen Jeanswesten, die sie liebevoll mit Anstecknadeln und Aufnähern von Motörhead, Thin Lizzy oder Deep Purple schmückten. „Ich hatte mein Leben lang immer mit Bikern zu tun“, sagt Tom Warrior,dessen Vater Motorradrennfahrer und Motorsportjournalist war.„Ich fand, dass die Bikergangs in Amerika – egal, wie unglaublich radikal sie aussahen – die tollsten Leute überhaupt waren. In Europa, besonders Anfang der Achtzigerjahre, waren sie gewalttätiger und in Konkurrenzkämpfe und Prostitution verwickelt. Das war die Fanbasis von Deep Purple und Motörhead. Die ganze Heavy-Metal-Uniform ist im Prinzip davon abgekupfert.“
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