Das Übernatürliche. Gregor Bauer

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Das Übernatürliche - Gregor Bauer


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naturalistisch dächten. Der Philosoph Thomas Nagel (*1937), ein atheistischer Kritiker des Neo-Darwinismus, bestreitet, dass heute unter Forscherinnen und Forschern der Naturalismus die vorherrschende Geisteshaltung sei. Nach allem, was er wisse, verträten sie dazu meist keine bestimmte Meinung (Nagel 2016, S. 12f). Nur unter denjenigen Naturwissenschaftlern, die sich überhaupt dazu äußerten, gelte der „reduktive Materialismus“ im Allgemeinen als „die einzige ernsthafte Möglichkeit“, so Nagel weiter. Aber auch unter ihnen findet man Offenheit für religiöse und spirituelle Auffassungen. Das gilt insbesonders zu Themen der Kosmologie und Quantenphysik, weniger für Evolutionsbiologie und Hirnforschung.

      So weit Skizze 2. Vernachlässigen wir nun die Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler, die der Religion neutral oder positiv gegenberstehen, und halten wir uns an die tonangebenden, die den naturalistischen Standpunkt vertreten. Nach ihnen sind Religionen überholte Systeme aus einer Zeit, in der die Menschen noch keine rationalen Erklärungen für die Rätsel der Welt hatten. Unsere Vorfahren haben sich fromme Geschichten ausgedacht, weil sie es nicht besser wussten. Heute sind wir weiter und müssen deshalb die Religionen hinter uns lassen. Was ergibt sich aus einer solchen Auffassung?

       Was kommt nach der Religion?

      Der Philosoph Michael Schmidt-Salomon (*1967) ist Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, benannt nach einem italienischen Astronomen, der 1600 von der römischen Inquisition verbrannt wurde. Im Auftrag dieser humanistischen Stiftung verfasste Schmidt-Salomon 2005 ein Dokument, das in Deutschland zu einem der am meisten diskutierten Positionspapiere des Naturalismus wurde: das „Manifest des evolutionären Humanismus“.

      Schmidt-Salomon formuliert in diesem Manifest Ziele, für die sich einzusetzen lohnt. Das Leben bietet so viel Schönes: das Strahlen eines Kindes, der Duft von frischem Brot, die Nähe eines geliebten Menschen. Wir sollten lernen, all das zu genießen, statt uns von unerfüllbaren Idealen den Kopf verdrehen zu lassen. Vergeuden wir nicht unsere Zeit mit dem vergeblichen Versuch, ein göttliches Wesen zufrieden zu stellen, das es nicht gibt, damit es uns in ein Jenseits einlässt, das nicht existiert. Genießen wir stattdessen das wirkliche Leben in seiner Endlichkeit.

      Man mag diese Genussorientierung eigennützig nennen. Aber eigennützig sind wir alle, auch die Streber nach einem Logenplatz im Jenseits. Doch Eigennutz schließt Gemeinsinn und Mitgefühl nicht aus. Wir können unser Leben der Emanzipation widmen, der eigenen und der unserer Mitmenschen. Dann befreien wir uns von der Fixiertheit auf uns selbst und erleben Sinn. Aufzugehen in etwas, das größer ist als wir selbst, ist also kein Privileg der Religiösen. Zwar ist da kein Gott, der unserem Leben Sinn geben könnte, und auch keine mystifizierte Natur. Das bedeutet aber nicht, dass unser Leben sinnlos ist. Im Gegenteil: Ohne einen Gott sind wir frei, uns den Sinn unseres Lebens selbst zu stiften.

      Allerdings lehren uns die Naturwissenschaften auch: Wir Menschen stehen nicht im Mittelpunkt eines geordneten Kosmos. Wir sind nur eine flüchtige Randerscheinung, verloren in den riesigen Weiten eines erkaltenden Universums ohne Sinn. Unsere Geschichte ist keine Heilsgeschichte. Aufgetaucht vor einem Sekundenschlag auf der planetaren Uhr, werden wir aussterben wie andere Tiere. Wir sind nicht die erhabene Krone der Schöpfung, sondern eine Variante der Trockennasenprimaten, eine absichtslose Folge evolutionärer Prozesse. Der Irrtum ist uns in die Wiege gelegt. Denn unser Gehirn und unsere Sinne sind nicht darauf ausgerichtet, die Wahrheit zu erkennen, sondern zu überleben und unsere Gene weiterzugeben. Eine Seele haben wir nicht. Ja, wir haben nicht einmal ein Ich. Was uns so erscheint, ist ein Produkt unbewusster neuronaler Prozesse. Unsere Ideale sind Illusionen, unsere Ideen nicht von bleibendem Wert. Was manche von uns in Visionen von einer transzendentalen Welt zu schauen meinen, sind hirnphysiologisch erklärbare Halluzinationen. Wir sind unser Gehirn, nichts weiter. Wenn unser Hirn tot ist, sind wir tot. Die Idee, dass unsere Seele den Tod unseres Körpers überleben könnte, ist wissenschaftlich widerlegt.

      Dieses Weltbild Schmidt-Salomons entspricht dem, was Wissenschaftler heute sagen. Ist es auch human? Immerhin nennt Schmidt-Salomon sein Weltbild humanistisch.

      Schmidt-Salomon will uns aus entmündigenden Denkverboten befreien und uns ermutigen, unser Leben in die eigene Hand zu nehmen und frei von Unterdrückung unsere Persönlichkeit zu entfalten. Das ist human. Er will uns davon überzeugen, dass wir in einem Universum leben ohne Transzendenz, ohne Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Das ist human für diejenigen unter uns, die mit dieser Vorstellung gut zurechtkommen. Aber was ist mit den anderen?

      An diesem Punkt täuscht sich Schmidt-Salomon, und mit ihm alle, die offensiv einen hoffnungsfrohen Atheismus für alle propagieren: Ihm ist nicht klar, wie schrecklich der Verlust des Glaubens für religiöse Menschen sein kann.

      Wer Religion nicht braucht, sollte nicht damit behelligt werden. Es ist in Ordnung, Atheistin oder Atheist zu sein. Aber stellen Sie sich eine Mutter vor, die glaubt, dass ihr tödlich verunglückter Sohn im Jenseits weiterlebt und dass sie ihn dort eines Tages wieder in ihre Arme schließen wird. Wie sollte es für sie eine frohe Botschaft sein, dass das Jenseits wissenschaftlich widerlegt sei?

      Es gibt einen naturalistischen Weg, mit dem Tod umzugehen. Aber nicht für alle. Und Schmidt-Salomon will alle überzeugen. Was mich angeht: Ich finde die Vorstellung, dass mit dem Tod alles aus sein soll, unerträglich. Natürlich könnte sie dennoch wahr sein. Aber so lange das nicht mit absoluter Sicherheit feststeht: Warum sollte ich nicht weitersuchen nach Anhaltspunkten für Transzendenz?

      Im nächsten Kapitel beschäftigen wir uns mit den Versuchen der Philosophen, Gott zu beweisen. Sind diese Versuche überholt?

       3.

       Gottesbeweise:

      Hat Kant sie widerlegt?

      2007 waren viele Millionen US-Bürger weit über ihre Verhältnisse verschuldet. Angelockt von leichtfertigen Kreditangeboten, hatten sie Immobilien erworben, ohne zu wissen, wie sie ihre Hypotheken jemals abbezahlen sollten. Hatten sie nicht bedacht, dass die hohen Raten sie im Alltag zu sehr einschränken würden, dass sie krank oder arbeitslos werden könnten, dass der Wert ihrer Immobilie sinken, die Zinsen dagegen steigen könnten? Offensichtlich nicht: Die Immobilienblase platzte, zahllose Häuslebauer verloren ihr Dach über dem Kopf.

      Bestimmt hatte jeder Investor für seine fatale Fehlentscheidung rational wirkende Gründe. Aber wie viele unvermögende Menschen haben damals solche Gründe lediglich vorgeschoben, um ihren Leichtsinn zu kaschieren? Folgten sie ihrer Vernunft – oder folgten sie in Wirklichkeit gegen jede Vernunft ihrer tiefen Sehnsucht, ein eigenes Heim zu besitzen und darin zu leben?

      „Gottesbeweise“ sind wie die rational wirkenden Gründe, die wir vorschieben, um unserer Sehnsucht zu folgen. Wirklich relevant sind sie nicht: Wohl keiner der Theologen, die sich im Lauf der Geschichte irgendwelche Gottesbeweise ausgedacht haben, hat aufgrund derartiger Beweise an Gott geglaubt. Ausschlaggebend für ihren Glauben waren wohl eher Motive wie der tiefe Wunsch, dass die Welt sinnvoll gefügt sei, dass in und über allem ein intelligentes und gutes Wesen stehe, dass das Leben mit dem Tod nicht ende und dass dies alles möglichst konform sei mit der religiösen Doktrin der eigenen Familie und Gesellschaft.

      Insofern verwundert es nicht, dass das Ergebnis von zwei Jahrtausenden Bemühung um eine rationale Begründung des Glaubens an einen Gott eher mager ist. Oder ist dieses Urteil zu schroff? Findet sich unter den Gottesbeweisen vielleicht doch das eine oder andere Argument, das Sie überzeugen könnte? Immerhin hat sogar Kant, der Zertrümmerer der Gottesbeweise, mindestens ein Argument für den Glauben gelten lassen. Schauen wir uns also die gängigen Gottesbeweise an.

       Der ontologische Beweis: Muss Gott existieren, weil er der Größte ist?

      Unser erster Gottesbeweis, der „ontologische“, stammt von dem Erzbischof Anselm von Canterbury (ca. 1033–1109). Der heiliggesprochene Kirchenlehrer hat dazu beigetragen, dass die mittelalterliche Theologie rationaler wurde. Doch wer seinen ontologischen


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