Seewölfe - Piraten der Weltmeere 487. Roy Palmer
Читать онлайн книгу.Husten. Folglich war es ein Notfall, der ihn zum Handeln zwang. Er hatte mal einen Kerl gekannt, der hatte sich buchstäblich totgehustet. Hatte es auch auf der Lunge gehabt, aber keiner hatte richtig gewußt, um welche Art von Krankheit es sich handelte. Rattigan wollte sich nicht tothusten. Also öffnete er den Riegel des Schotts zum Vorratsraum.
Ganz behutsam zog er das Schott auf. Es quietschte kein bißchen. Wenigstens hatte der Koch, der blöde Hund, die Angeln eingeölt, wie sich das gehörte. Der Kerl tat immer alles mögliche, um sich bei Doolin lieb Kind zu machen. Er schmeichelte sich an und leckte dem Einäugigen die Stiefel. Hin und wieder kriegte er von Doolin einen Tritt. Aber das schien ihn nicht zu stören. Je mehr man einen Hund mißhandelte, desto unterwürfiger wurde er. So ist das im Leben, dachte Rattigan, dann hustete er wieder ausgiebig.
Er hütete sich, im Vorratsraum ein Licht zu entfachen. Vielmehr zog er das Schott wieder zu und blieb erst mal eine Weile stehen. Seine Augen gewöhnten sich an das Dunkel. Er schaute sich um und erkannte die Flaschen, die gut gesichert in den Regalen standen. Grinsend schob er sich darauf zu, hustete die Flaschen der Reihe nach an und griff sich eine heraus.
Rattigan entkorkte die Flasche, setzte ihren Hals an die Lippen und trank einen kräftigen Schluck. Rum von der stärksten Sorte! Innerlich triumphierte Rattigan. Besser hätte er es nicht treffen können. Er ließ die Flasche wieder sinken.
Heiß und scharf rann ihm der Rum die Kehle hinunter. Rattigan wartete darauf, daß der Husten wieder anfing. Aber der Rum tat wahrhaftig seine Wirkung. Rattigan hüstelte nur noch schwach. Danach wurde aus dem Kratzen und Stechen in den Lungen ein Schluckauf, der ihn eine Zeitlang beschäftigte.
Aber der starke Rum kriegte auch den Schluckauf kaputt. Rattigan war jetzt ganz ruhig. Sein Atem ging wieder regelmäßig. Er hockte sich hin und gluckerte noch einen. Dann dachte er: Zur Hölle mit Doolin, der Bande und dem Kahn! Hier bleib’ ich, und es wird noch ein feiner Tag, jawohl, ihr Bastarde!
Es war der Morgen des 7. Juni 1595. Die „Scorpion“ befand sich zu diesem Zeitpunkt südwestlich der Caicos-Inseln. One-Eye-Doolin stand mit verkniffener Miene auf dem Achterdeck der Galeone und verfolgte die Arbeiten seiner Kerle.
Die „Scorpion“ war ihren Verfolgern – der „Isabella IX.“, der „Caribian Queen“ und der „Le Griffon“ – während der Nacht entwischt. Dichte Regenschwaden hatten einen Vorhang gebildet, der der „Scorpion“ als Schutz und Deckung diente.
Dann, gegen fünf Uhr morgens, hatte der Regen aufgehört. An Bord waren die Feuer wieder aufgeflackert. Es dampfte und rauchte. Die Kerle mußten immer wieder Seewasser in Segeltuchpützen und Kübeln heranschleppen und in die züngelnden Flammen kippen. Sie fluchten und wetterten, aber das nutzte am allerwenigsten. Das Löschen der letzten Feuernester war jedoch nur ein Teil der Arbeiten, die verrichtet werden mußten.
Bei der nächtlichen Gefechtsberührung mit den drei Gegnern hatte die „Scorpion“ einige Treffer erhalten, und zwar im Heck. Dort wurde heftig gehämmert und gezimmert, denn die Lecks mußten schleunigst abgedichtet werden. Andere Kerle wiederum waren damit beschäftigt, das Leckwasser mit den Pumpen zu lenzen.
Der Bugspriet der Galeone war abgetakelt, ebenso die Großmaststenge. Ersatz mußte her. Weiter waren einige Kerle während des Gefechts getroffen worden. Zwar handelte es sich bei allen nur um leichtere Blessuren, doch schien der Verlauf des Kampfes die Moral der Crew erheblich geschwächt zu haben.
One-Eye-Doolin schäumte nach wie vor – vor Wut und Haß. Am liebsten hätte er sich platt auf die Planken geworfen und mit den Fäusten um sich geschlagen. Diese Schmach! Diese Niederlage! Nie zuvor war ihm etwas Vergleichbares widerfahren. Wie stand er jetzt vor seinen Kerlen da?
Egal. Die Situation an Deck war für Doolin das geringere Problem. Er wurde mit seiner Meute schon fertig. Und die „Scorpion“ würde bald auch wieder instand gesetzt sein. Das allerschlimmste war: erstens hatte man ihn, Doolin, von dort vertrieben, wo er gemeint hatte, aus der See Schatzgüter bergen zu können. Zum anderen hatten sich jene, die ihn vertrieben hatten, als unheimlich harte Gegner entpuppt.
Diese Erfahrung war für den Einäugigen völlig neu. Im Bereich des englischen Kanals bis hinunter zur französischen Küste hatte er bei seinen Beutezügen immer den Ton angegeben. Noch nie hatte er eine Niederlage einstecken müssen. Daß er jetzt versagt hatte, wurmte ihn ungemein.
Ein klügerer Mann als Doolin hätte aus der soeben gemachten Erfahrung eine entsprechende Lehre gezogen. Ein halbwegs gescheiter Mann hätte das Weite gesucht, um sein Schiff, seine Mannschaft und sich zu retten.
Aber Doolin war weder ein kluger noch ein gescheiter Mann. Er hielt sich selbst zwar für den gerissensten Kerl, den es auf dieser Welt gab, aber das war eine grobe Unterschätzung. Doolin lernte aus der Lektion, die man ihm erteilt hatte, gar nichts. Er verbiß sich nur in seine Wut und sann auf Rache.
Er begann, auf dem Achterdeck auf und ab zu wandern. Was konnte er unternehmen, um sich beim Seewolf für die erlittene Niederlage zu revanchieren? Er wälzte Pläne, verwarf sie wieder. Vorläufig waren ihm die Hände gebunden. Erst mußte die „Scorpion“ repariert werden. Wenn die Lecks abgedichtet waren und die Kerle das Rigg ausgebessert hatten, konnte man wieder Fahrt aufnehmen. Jetzt lag die Galeone erst einmal vor Treibanker.
Also mußte die Instandsetzung des Schiffes vorangetrieben werden. Ungeduldig blickte One-Eye-Doolin zu seinen Kerlen. Ging das nicht schneller? Die Hunde schleppten sich nur mit mürrischen Mienen über Deck und bewegten sich im Schneckentempo. Er mußte mit der Neunschwänzigen dazwischenfahren, um ihnen Dampf zu machen.
Eben wollte der Einäugige zur Tat schreiten, da enterte Harper Murdock aufs Achterdeck. Doolin musterte ihn finster. Der Bootsmann erwiderte den Blick, seine Miene war genauso düster und verschlossen.
„Die Verwundeten sind jetzt alle versorgt“, erklärte Murdock.
„Aber die Arbeiten gehen nicht schnell genug voran“, sagte Doolin.
„Das ist nicht meine Schuld“, erwiderte Murdock.
„Habe ich das vielleicht behauptet?“
Gereizt standen sie sich gegenüber.
„Gib ihnen ’ne Extraration Rum“, sagte Murdock. „Die haben sie verdient. Dann geht’s auch wieder schneller.“
„Einen Dreck tue ich.“ Doolin war nicht bereit, den wertvollen Rum jetzt schon wieder an die Crew zu verschwenden. Als sie im Meer nach Gold geangelt hatten, hatte er im Begeisterungssturm zwar kräftig Runden ausgegeben. Aber das hatte er hinterher auch gleich wieder bereut. Die Bestände hatten sich erheblich verringert.
Daß er selbst auch kräftig mitgebechert hatte, zog er bei dieser Überlegung allerdings nicht mit in Betracht. Tatsache war, daß der Rum bald alle war. Und kein Mensch wußte beim derzeitigen Stand der Dinge, wann sie mit der „Scorpion“ nach Tortuga zurückkehren würden, um bei Diego die Bestände zu erneuern.
„Na, dann eben nicht“, brummte der Kerl mit den Blumenkohlohren wütend. „War ja auch nur ein Vorschlag.“
Doolin trat an die Querbalustrade des Achterdecks und brüllte auf die Crew ein: „Dalli! Beeilt euch! Ich will mehr Bewegung sehen, oder es gibt Hiebe!“
Die Kerle murrten zwar, bemühten sich aber, flinker zu arbeiten. Doolin beobachtete sie aus schmalen Augen. Verdammte Drecksäcke, dachte er, ihr habt auch mit schuld, daß es schiefgegangen ist. Unterschwellig lastete er ihnen an, daß das Gefecht zugunsten des Seewolfs ausgegangen war. Wenn von den Hunden mehr Einsatz gezeigt worden wäre, hätte sich das Blättchen vielleicht noch gewendet. Aber sie hatten sich einschüchtern lassen.
Doolin schob seinen Kerlen auf diese Weise den Schwarzen Peter zu. Irgendeiner mußte ja die Schuld haben und der Sündenbock sein. Und diesen Bastarden sollte er auch noch teuren Rum in den Rachen gießen? Niemals!
„Wir sprechen uns noch, Killigrew“, sagte Doolin. „Glaub nicht, daß du mich wie einen Straßenköter davonjagen kannst. Schon gar nicht von dem Platz, wo man nur zu angeln braucht, um Schätze aus dem Wasser zu bergen.“
Harper