Seewölfe - Piraten der Weltmeere 175. Roy Palmer
Читать онлайн книгу.So kehrten die Seewölfe zu der riesigen Insel zurück, auf der sie vor zweieinhalb Tagen ein wenig erfreuliches Abenteuer durchgestanden hatten. Sie hatten Nanoq, den Eisbären, gejagt und dabei gehofft, auch auf andere Beute zu stoßen, da sie unbedingt Fleisch brauchten, aber dann war ein Blizzard mit Urgewalten über sie hergefallen und hatte ihren Landtrupp versprengt.
Carberry, Ferris Tucker und Batuti waren verschollen gewesen. Sie hatten auf einem Eisberg festgesessen, der sich im Blizzard vom Festland gelöst hatte – ein tragisches Ereignis, das die drei Männer für immer von ihren Kameraden hätte trennen können.
Doch dann hatte sich alles zum Guten gewendet: Hasard und seine Crew hatten die Vermißten wiedergefunden. Dem Profos, dem Schiffszimmermann und dem schwarzen Herkules aus Gambia war es indes gelungen, den „Nanohuaq“, den sehr großen Eisbären, zur Strecke zu bringen.
Sie hatten dies fast ohne Schußwaffen fertigbringen müssen, und Batuti hatte eine Blessur am Arm davongetragen. Inzwischen befand er sich jedoch auf dem besten Weg zur Genesung, konnte den Arm schon wieder bewegen und auch kräftig mit zupacken. Die Dämonen von Grönland, die er so sehr fürchtete, hatten ihn wohl doch nicht bei sich in den Schlünden der Finsternis haben wollen.
Carberry hatte sich sehr schuldbewußt gezeigt, da er ja schließlich zur Jagd auf Nanoq gedrängt hatte, aber Hasard hatte ihm seine Selbstvorwürfe ausgeredet. Immerhin waren sie aus Notwendigkeit, nicht aus reiner Abenteuerlust und Eitelkeit auf Jagd gegangen, und er, der Kapitän, hatte sein Einverständnis gegeben.
Auf dem Eisberg hatten sie noch eine Weile umhergeforscht und auf diese Weise Nanoqs Höhle entdeckt. Und wirklich, der Bär hatte den Schnapphahn-Revolverstutzen und die Muskete, die Carberry und seine beiden Begleiter im Kampf gegen das Tier verloren hatten, in seinen Schlupfwinkel geschleppt. Schlau war er gewesen, das mußte man ihm lassen.
Kein anderes Wild hatte es auf dem Eisberg gegeben. Deshalb hatte der Seewolf den Riesenblock so schnell wie möglich wieder verlassen und war etwas weiter nördlich erneut an Land gegangen. Aber auch hier war die Suche nach jagdbarem Wild ergebnislos verlaufen.
So hatte er beschlossen, zwei Tage lang nach Norden hinaufzusegeln, dem legendären Thule näher – und hoffentlich auch jenen Tieren näher, die ihnen das Überleben in der arktischen Kälte und Trostlosigkeit garantierten. Zu den Narwalen, den Robben, Walrossen, Polarfüchsen und Schneehühnern wollte der Seewolf, denn die Proviantvorräte der „Isabella“ waren bedenklich zusammengeschrumpft. Wenn sie nicht bald etwas erlegten, nagten sie am Hungertuch.
Das Auftauchen des Walrosses schien jedoch eine Wende anzukündigen. Wenn das Fleisch eines solchen Tieres auch alles andere als eine Delikatesse war – es war immer noch besser, fettige, tranig schmeckende Braten zu kauen als überhaupt nichts.
Mit dem fachgerechten Ausweiden des Bären war man nun endlich fertig, aber die Rationen, die der Kutscher aus dem Fleisch für die zweiundzwanzigköpfige Crew zubereiten würde, hielten auch nicht mehr als drei oder höchstens vier Tage vor, und danach mußte Nachschub vorhanden sein.
Die „Isabella“ glitt dahin und holte rasch auf. Das Walroß auf der Eisscholle war inzwischen deutlich mit bloßem Auge zu erkennen – und auch die Küste sah man von der Back aus, eine weiße, öde, entmutigende Küste, der auch der größte Optimist dieser Welt nichts Einladendes abgewinnen konnte.
Durch das Spektiv gewahrte Hasard, daß das Walroß ihnen den Rükken zugekehrt hielt und unausgesetzt zur Küste zu blicken schien. Das bedeutete, daß sie sich von achtern an den Koloß heranpirschen konnten. Hasard holte eine besonders weittragende Muskete mit sehr langem Lauf aus dem Waffenschrank seiner Kapitänskammer, stieg damit auf die Back und trat zu Siri-Tong und den O’Flynns.
„Haltet auch ihr eure Waffen bereit“, sagte er. „Gleich ist es soweit. Wir sind fast auf Schußweite an dem Kameraden dran.“
Old Donegal Daniel O’Flynn klopfte mit der Hand gegen das Bodenstück der an der Backbordseite des Vordecks montierten Drehbasse. „Wie wäre es, wenn wir ihm hiermit ein Ding verpassen? Das Geschütz hat eine größere Reichweite als jede Handfeuerwaffe. Außerdem können wir völlig sicher sein, daß ein einziger Schuß dem Walroß sofort den Garaus bereitet – was bei Musketenkugeln nicht unbedingt gewährleistet ist.“
„Die Drehbassenkugel würde das Tier zerreißen“, erwiderte Hasard. „Damit ist uns nicht gedient. Außerdem ist es nicht gerade weidmännisch, mit Kanonen auf Tiere zu schießen.“
„Na ja, das sehe ich ein“, brummelte der Alte. Er ließ sich von seinem Sohn, der inzwischen Waffen geholt hatte, eine Muskete geben, prüfte die Ladung und die sachgerechte Anbringung des Flints, legte dann probeweise an und visierte über den Lauf weg den breiten Rücken des Walrosses an.
Siri-Tong und Dan O’Flynn verfuhren ähnlich. Dann traten auch Smoky, Al Conroy, Ferris Tucker und Big Old Shane hinzu und bereiteten sich auf die Jagd vor.
Hasard hätte sich mit dem Radschloß-Drehling oder dem Schnapphahn-Revolverstutzen bewaffnen können, zwei hervorragenden Waffen, die über Trommeln mit jeweils sechs Schuß verfügten. Doch für diesen Einsatz hatten beide Waffen einen erheblichen Nachteil – ihre Läufe waren zu kurz. Sie waren für das rasche Abfeuern einer Serie von Ladungen im Kampf vorzüglich geeignet, nicht aber für das Präzisionsschießen über die relativ große Distanz von fast hundert Yards.
Die Rote Korsarin und die Männer standen abwartend an der vorderen Querbalustrade der Back und warteten, daß der Abstand zur Eisscholle noch mehr zusammenschrumpfte.
Carberry hatte sich, nachdem die Crew unter seinen barschen Befehlen die Segel neu getrimmt hatte, an das Backbordschanzkleid der Kuhl begeben, lehnte sich ein wenig außenbords und blickte zu dem Walroß, das man auch von diesem Platz aus sehr gut erkennen konnte.
Plötzlich ertönte ein langgezogener Laut – eine höchst verdächtige Geräuschmischung, die nur eine einzige Deutung zuließ: Irgend jemand mußte seine Verdauungswege ein bißchen zu laut erleichtert haben.
Carberry fuhr herum und sah zu der grinsenden Crew. Matt Davies grinste besonders breit und gab ein unterdrücktes Glucksen von sich. Er konnte sein Lachen kaum zurückhalten.
„Matt Davies, du altes Ferkel“, sagte der Profos. „Hast du vergessen, daß wir eine Lady an Bord haben?“
Das Grinsen verschwand von Matts Zügen. „Mister Carberry“, antwortete er. „Ich war das nicht. O nein, das kannst du mir diesmal nicht in die Stiefel schieben.“
Carberry stemmte die Fäuste in die Seiten und sah mit einemmal sehr angriffslustig aus. „So? Welcher Himmelhund hat denn sonst diese Schweinerei verzapft? Wollt ihr wohl mit der Sprache ’rausrücken? Batuti, gib zu, daß du es warst!“
Der schwarze Mann aus Gambia schüttelte wild den Kopf. „Kann ich nicht, Profos. Mich trifft keine Schuld.“
„Mich trifft keine Schuld“, ahmte Carberry ihn nach. „Fein hast du diesen Satz einstudiert. Aber mich kannst du nicht täuschen, ich …“
Wieder erklang das fürchterliche Grunzen. Die Männer prusteten los und konnten sich nicht mehr beherrschen. Philip und Hasard, die Zwillinge, steckten ihre Köpfe aus dem Kombüsenschott und kicherten.
Carberry wandte den Kopf, weil er die Richtung geortet hatte, aus der die Laute herüberdrangen. Jawohl, sie kamen von vorn, und deshalb heftete der Profos seinen Blick jetzt auf die Back.
„Hölle und Teufel“, stammelte er, während er zu Hasard, Siri-Tong, den O’Flynns und den anderen sah, die mit ihren Musketen an der Balustrade standen. „Das kann doch nicht sein. Sollte wirklich einer von ihnen …“
„Ed“, sagte Blacky, der sich dem Profos von der Gräting aus genähert hatte. „Es ist das Walroß, das da so rülpst und bläst.“
„Ach?“
„Die Biester sollen das so an sich haben, hab ich mir erzählen lassen.“
„Von wem? Von Hendrik Laas?“
„Ja,