Mama, ich höre dich. Alwin Meyer
Читать онлайн книгу.»höllisch« aufpassen müssen, was passieren würde. Zudem war er »extrem eingeschüchtert«. Das Unwahrscheinliche geschah: Er wurde für die »gute Seite« bei der Eingangsselektion bestimmt. Eduard Kornfeld fragte sich zeit seines Lebens: »Warum bin ich nicht sofort ins Gas geschickt worden? Ich war doch einer der Jüngsten im Waggon! Vielleicht weil ich verhältnismäßig groß war? Oder weil ich damals noch blonde Haare hatte?« Dazu hellblaue Augen.
Judith Rosenbaum wurde mit ihrer Zwillingsschwester Ruth Anfang Juni 1944 aus Ungarn in das Vernichtungslager deportiert. Beide erlebten die Befreiung. Ruths Füße, erfroren vom Strafestehen im Winter, mussten amputiert werden. Ruth starb am 23. März 1945.
Während der üblichen Aufnahmeprozedur in einem der »Sauna«-Gebäude wurden sie am ganzen Körper rasiert: »Sie rissen die Haare mehr aus, als dass sie rasierten, zogen brutal am Geschlecht.« Einige von ihnen bluteten. Von anderen Häftlingen, die schon länger im Lager waren, wurde dem Jungen eine Hose, eine gestreifte Jacke, eine Mütze zugeschmissen. Aber keine Unterwäsche. Nur die eigenen Schuhe durfte er behalten. Einer von ihnen sagte: »Entschuldigung, die Hose ist zu klein!« – »Als Antwort bekam er einen Peitschenschlag vom SS-Mann. Daraufhin fingen wir an, die Anziehsachen untereinander zu tauschen. Nackt und schweigend. Nur wenige Minuten hat das gedauert. Trotzdem wurde weiterhin wild auf uns eingeprügelt. Das war also Auschwitz-Birkenau.«
Ihre Aufgabe vom frühen Morgen bis zum Abend sei gewesen: »›Mützen auf – Mützen ab, Antreten‹ – Schläge – ›Kniebeugen‹ – ›Auflösen‹ – Schläge. Immer wieder, zehnmal, zwanzigmal … Immer auf derselben Stelle. Oft stundenlang. Tag für Tag.« Zweimal am Tag mussten sie bei jedem Wetter draußen »diese Prozedur, diese Appelle« über sich ergehen lassen. Ob die Sonne brannte, es regnete oder bitterkalt war, spielte keine Rolle. Hinzu kamen »Probeappelle«, die auf Anhieb klappen mussten oder es setzte »fürchterliche Schläge«.
Miteinander gesprochen haben sie nur, wenn sich niemand mit ihnen beschäftigte. »Sonst war das verboten.« Der Junge wusste intuitiv immer schon, wer vor, neben oder hinter ihm stand. Das war überlebenswichtig. »Viele starben sehr schnell an Hunger. Auch in unserem Block. Tagein, tagaus musste ich das mit ansehen.« Als Eduard schon ein paar Tage im Lager war, nahm er einen »Riesenkamin« in der Nähe des »Zigeunerlagers« wahr – »aus dem nicht Rauch, sondern Feuer kam«. Irgendjemand erzählte ihm: »Das ist die Bäckerei.« Ein paar Tage später traf er jemanden, den er aus der Slowakei kannte und der ihm erzählte: »Ich bin fast im Kremmi gelandet, habe aber Glück gehabt.« – »Was ist das – Kremmi?« – »Krematorium, weißt du das nicht? Dort werden die Menschen in einer großen Kammer vergast, dann werden sie verbrannt.« – »Hm, ich habe gedacht, das ist die Bäckerei. Ich habe gehofft, dort arbeiten zu können. Ich habe Hunger.«
Ständig gab es Selektionen. Dann hieß es: »Blocksperre!« Sie mussten sofort, innerhalb von ein paar Minuten, in ihre Holzbaracken verschwinden. Wenig später wurde die Tür aufgerissen: »Antreten!«, schrie ein SS-Mann. Diesmal waren sie »dran«. Eduard war bewusst: »Jetzt geht es um Leben und Tod!« Sie mussten nach draußen und »Appell« stehen. »Mengele und viele SS-Männer mit Maschinengewehren standen schon da.« Zehn Reihen mit ungefähr jeweils 110 bis 120 Jungen waren aus Eduards Block gebildet worden. Fünf Reihen standen auf einer, die anderen fünf Reihen auf der gegenüberliegenden Seite.
»Alle mussten sich ausziehen. Viel hatten wir ja nicht an. Wir zogen die Jacke aus und ließen die Hose runter. Mengele nahm sich jede Reihe der anderen Seite vor. Aus ungefähr 100 Jungen nahm er jeweils zehn heraus. Die Ausgesuchten durften ihre Sachen nehmen und zurück in die Baracke gehen. Die anderen mussten auf der Lagerstraße antreten und wurden von der SS bewacht. Aber niemand wusste, wer ins Gas geht und wer nicht. Trotzdem wollte ich es herausfinden: ›Wo ist Leben, wo ist Tod.‹ Im Laufe der Zeit bekam ich einen tierischen Instinkt. Ich kam zu dem Schluss, dass diejenigen, die auf dem Weg standen, ins Gas gehen würden. ›Was mache ich jetzt?‹, fragte ich mich. Das war ein ganz fürchterliches, unbeschreibliches Gefühl. Ich beobachtete weiter intensiv die andere Seite. Viele beteten. Jeder, so wie ich, wusste, worum es ging. Mit fünfzehn sterben? ›Ich werde wahnsinnig. Nein! Ich will leben!‹«
Der Junge wollte »etwas tun«, aber er wusste nicht was. Er versuchte, sich zu konzentrieren, um seine letzten Energiereserven zu mobilisieren. Eduard stand in der vorletzten Reihe. »Und dann: Mengele geht an mir vorbei, nimmt mich nicht heraus. Schon war er bei meinem Nebenmann. In diesem Moment packte mich eine übergroße innere Kraft, ein unbeschreiblicher Lebenswille. Plötzlich drehte sich Mengele noch einmal um, macht diese eine Handbewegung, dass ich heraustreten soll. Noch einen Jungen namens Holzmann wählt er aus meiner Reihe aus. Aus der letzten Reihe niemand mehr.« Und da ist noch eine Szene, die Eduard Kornfeld sein Leben lang mit sich herumtrug: »Das ist mein Bruder«, hat einer angefangen zu weinen. Und weil sein Bruder nicht zu ihm durfte, hat er gerufen: »Ich möchte mit ihm zusammen gehen.«
Ruth und Robert Büchler wurden im Alter von elf und 15 Jahren nach Auschwitz deportiert. Ruth überlebte nicht.
Der SS-Mann fragte, »obwohl es uns nicht erlaubt war, die ›Herrenmenschen‹ anzusprechen, den Jungen: ›Wer ist dein Bruder?‹ – ›Der!‹ – ›Also gut, stellt euch in die Reihe dort.‹ Sie wurden beide für das Gas bestimmt.«
Zwischen dem 12. August und 17. September 1944 wurden in vier Transporten aus dem Durchgangslager in Pruszków bei Warschau 13.720 Polen23 – Kinder, Frauen und Männer – ins Lager Auschwitz eingeliefert. Sie waren nach dem Ausbruch des militärischen Warschauer Aufstandes (1. August bis 2. Oktober 1944) verschleppt worden.
Überlebt hat unter wenigen anderen JADWIGA MATYSIAK (geborene Sztanka): Im September 1944 wurde sie zusammen mit den Eltern und einer Schwester nach Auschwitz-Birkenau transportiert. Das Mädchen war zweieinhalb Jahre alt. Sie bekam die Nummer 84876 tätowiert. »Die Mutter, meine Schwester und ich wurden in das Frauenlager gebracht. Nach einiger Zeit bekamen wir die Nachricht, dass die Jungs und der Vater in das Konzentrationslager Schömberg [ein Außenlager von Natzweiler-Struthof, dort und in dessen Außenlager Dautmergen kamen insgesamt 1.774 Häftlinge ums Leben24] transportiert worden waren.
Während des Aufenthalts in Birkenau wurde ich oftmals von der Mutter getrennt und zu einem sogenannten Revier [›Häftlingskrankenbau‹] geschickt. Ich hatte dort viele Krankheiten, unter anderem Keuchhusten, Masern, Scharlach und Ruhr. Auf dem Körper habe ich Spuren, die auf Phlegmone [eine sich diffus ausbreitende eitrige Entzündung der Weichteile, einhergehend mit Fieber] hindeuten. – In Birkenau waren wir bis Ende Januar 1945, bis man uns nach Leipzig und später nach Berlin transportierte. Während des Aufenthalts im Lager war meine Mutter schwanger. Mein jüngster Bruder Ryszard wurde [im Lager] Berlin[-Köpenick] am 26. März 1945 geboren.« Jadwiga Matysiak war im Januar 1945 gemeinsam mit Mutter und Schwester von Auschwitz-Birkenau in das KZ-Außenlager von Sachsenhausen in Berlin-Köpenick »verlegt« worden.25
»Befreit wurden wir Ende April 1945. Nach der Befreiung kehrten wir nach Warschau zurück. Mein Vater und meine Brüder waren noch nicht da. Wir hatten keine Informationen über sie. Die Mutter war krank; sie hatte eine offene Wunde am Bein und ein Geschwür an der Brust. Sie lag sehr lange mit Fieber. Die Nachbarn haben uns drei Kinder, so gut es ging, betreut. Im Mai 1945 kamen die Brüder zurück, leider ohne Vater. Es stellte sich heraus, dass er am 24. Dezember 1944 im Lager Schömberg ermordet worden war. Meine Mutter blieb mit fünf Kindern allein zurück. Meine minderjährigen Brüder, der 17-jährige Henryk und der 15-jährige Jerzy, mussten eine Beschäftigung suchen, um die Mutter und die jüngeren Geschwister zu ernähren. Meine Schwester, die damals 13-jährige Irena, betreute uns, die zwei Jüngsten. Die Brüder und die Schwester gingen gleichzeitig zur Abendschule.«26
Warschau, der Geburtsort von Jadwiga Matysiak, war bis zum Einmarsch deutscher Truppen Ende September 1939 eine pulsierende Metropole auch des jüdischen Lebens. In der polnischen Hauptstadt befand sich bis zu diesem Zeitpunkt die größte jüdische Gemeinde Europas. Nach dem Überfall auf Polen und