Tambara und das Geheimnis von Kreta. Heike M. Major

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Tambara und das Geheimnis von Kreta - Heike M. Major


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Erde bedeckt – richtiger, echter Erde! An der linken Seite, hinter den Autos, erstreckte sich ein adrett gepflegter Minigolfplatz mit natürlichem Rasen, darauf standen wieder die anscheinend für dieses Hotel so typischen haushohen Palmen, mindestens zehn an der Zahl.

      Geradeaus, am Rande des Hofes, begann die eigentliche Anlage. Viele winzige Bungalows verteilten sich in einem großzügigen, hübsch angelegten Garten. Schon von hier aus sah er die vielen blühenden Büsche – Bougainvilleen und Hibisken, wenn er richtig recherchiert hatte –, dazwischen immer wieder Palmen, anscheinend alle echt. Auf der rechten Seite in einem breiten Flachbau befand sich der Empfangsbereich. Plötzlich verlangte sein Körper nach einem tiefen Atemzug. Eine ungewöhnliche Frische durchströmte seine Lungen. Die Luft war sauber und klar. Es musste an den Pflanzen liegen. Reb schnappte sich seinen Koffer und marschierte zur Rezeption.

      Die Frau hinter dem Tresen sah aus, als wäre sie einem Bildband über altgriechische Kulturgeschichte entsprungen. Lange schwarze Haare umrahmten ein ebenmäßiges Gesicht mit klarer Haut, großen dunklen Augen, einer klassisch geschnittenen Nase und einem wohlproportionierten Mund. Die Griechin trug ein schlichtes Hemdblusenkleid in Beige und schien ungeschminkt. Reb führte die eindeutigen Gesichtszüge auf die isolierte geographische Lage der Insel zurück, denn einzelne Kulturen, die eine eindeutige Zuordnung zu einer Landschaft oder Bevölkerungsgruppe zuließen, gab es in der modernen Kunststoffwelt schon lange nicht mehr. Städter waren Städter. Sie alle waren mit den gleichen Regeln aufgewachsen, den gleichen Werbeversprechen, Modediktaten und den schnell wechselnden, die Massen bewegenden Songs der Hitparaden. Sicherlich gab es auch heute noch Bürger unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe, doch das jahrhundertelange Leben in der Großstadt hatte nicht nur für eine Vermischung der Kulturen gesorgt, sondern auch den Blick für geschichtliche Ursprünge verloren gehen lassen. Selbst die architektonischen Unterschiede zwischen den Weltstädten waren – bis auf die offiziell geschützten Denkmäler und einige wenige, fast vollständig im Urzustand erhalten gebliebenen Stadtkerne – im Laufe der Jahrhunderte so gut wie verschwunden. Die untereinander stark konkurrierenden Wirtschaftskonzerne hatten mit ihren monumentalen Bauten und umliegenden Einkaufszentren die Architektur der modernen Welt geprägt und überall auf der Erde ähnliche Stadtbilder entstehen lassen.

      „Kαλημέρα“, begrüßte ihn die Griechin, „herzlich willkommen in unserem Land.“

      Die Zügigkeit und Präzision der Abfertigung stand den Gepflogenheiten in der Stadt in nichts nach. Rebs Technikarmband überspielte die notwendigen Daten auf den Hotelcomputer, und die griechische Dame überreichte ihm einen Schlüssel.

      Verwundert blickte Reb auf das Metall in seiner Hand. Es bestand aus einer dünnen, kreisrunden, circa eineinhalb Zentimeter großen Platte mit einem Loch in der Mitte, die in einen ebenso flachen, halbseitig gezackten Stiel mündete. Das dünne Teil war relativ schwer und silberfarben. Wenn man es hin und her bewegte, spiegelte sich das Licht auf der glatten Oberfläche und verlieh dem Material einen zart schimmernden Glanz. In einem Zeitalter, in dem man Türen nur noch mittels Technikarmband öffnete und sämtliche Naturstoffe durch Imitationen aus Kunststoff ersetzt worden waren, fühlte sich so ein Gegenstand, der aus echtem Metall bestand und noch dazu eine wirkliche Funktion erfüllte, ein wenig unheimlich an.

      Der Schlüssel hatte einen Anhänger in Form eines Ovals. Vielleicht war es auch eher ein Rechteck mit abgerundeten Ecken, jedenfalls schien auch diese Platte von circa drei mal vier Zentimeter, die noch schwerer war als der Schlüssel selber, aus natürlichem Material zu bestehen. Ein Kakadu war darin eingraviert, darunter der Name der Anlage: Pink Parrot.

      Reb fuhr mit den Fingern über die Oberfläche des Anhängers. Das Material wies eine Reihe von Kratzern auf, Gebrauchsspuren, die von den vielen Händen zeugten, die diesen Schlüssel schon einmal in der Hand gehalten hatten.

      „Passen Sie gut darauf auf“, mahnte die Griechin. „Sonst bekommen Sie Ihr Zimmer nicht auf.“

      Reb steckte den Schlüssel in die Hosentasche.

      An der Eingangstür erwartete ihn ein älterer Mann in leicht gebeugter Haltung, der sich als Gepäckträger entpuppte. Er hatte eine Schiebekarre dabei, ein schmales Brett auf zwei Rädern, gerade groß genug, um einem hochkant gestellten Koffer darauf Platz zu bieten, dahinter eine senkrecht angebrachte, hüfthohe Platte mit einem Griff. Reb betrachtete ein wenig misstrauisch dieses altertümlich anmutende Gefährt. In seiner Heimatstadt Tambara gab es für alles eine technische und meist auch geräuscharme Lösung. Gepäck beförderte man auf selbstständig fahrenden Koffern, die, gesteuert durch das Technikarmband am Handgelenk, brav wie ein Hündchen hinter ihrem Besitzer her rollten. Hier schleppte nicht nur ein Mensch eine schwere Last, er tat es auch noch für jemand anderen. Der Mann hievte Rebs Koffer auf sein Vehikel, und wie auf Befehl schmiegte sich das Gepäckstück an die große Platte, als er jetzt den Griff fasste, die Karre schräg stellte und das Gerät vor sich herschob.

      „Sollte etwas nicht funktionieren, sprechen Sie uns an“, empfahl ihm die Griechin und lächelte.

      Reb bedankte sich und folgte ein wenig misstrauisch dem Gepäckträger, der sich in seiner schräg gestellten Welt recht gut auszukennen schien.

      Reb überlegte. All die Erfahrungen, die er während seines gut dreißigjährigen Lebens in seiner Heimatstadt Tambara gesammelt hatte, würden ihm hier nicht viel nützen. Tambara war eine typische Großstadt, eine Stadt der Superlative, eine Stadt, die ihren Einwohnern ein sorgenfreies Leben bescherte, einen sicheren Arbeitsplatz, eine optimale medizinische Versorgung, viel Zerstreuung und beinahe unendlich viele Einkaufsmöglichkeiten. Nur eines gab es dort nicht: die Natur. Natürliche Landschaften mit Erde, Steinen, frei fließendem Wasser oder gar Tieren und Pflanzen kannte der moderne Mensch nicht mehr. All dies existierte nur noch in den Reservaten, die fernab der Wohngebiete die Lebensmittelversorgung der Großstädter gewährleisteten, oder in den wenigen Museumsparks, die der Wahrung der Geschichte dienten, aber aus Furcht vor dem Unbekannten stets nur mit spezieller Schutzkleidung betreten wurden. Unendlich lange musste man fliegen, um echte Natur zu erleben, über unzählige, nie enden wollende, nahtlos ineinander übergehende Städte. So hatte sich das frühere Europa zu einer einzigen großen Metropole entwickelt, und nur zu den Meeren hin lockerte sich das städtische Bild ein wenig auf.

      Reb hatte mit seiner Schwester und den Freunden Mortues und Botoja unter Anleitung des reichen und mächtigen Sir W.I.T. maßgeblich dazu beigetragen, dass sich nun Initiativen zur Renaturierung bildeten. Kreta war so ein Projekt, groß genug, um das Leben der Städter in und mit der Natur zu erproben, gleichzeitig aber auch weit genug vom Festland entfernt, falls vielleicht doch irgendetwas schiefgehen sollte. Denn die Angst vor dieser fremden natürlichen Welt, die sich völlig autark und unabhängig vom Willen des Menschen ihren ureigenen Gesetzen entsprechend entwickelte, war in der Seele des modernen Menschen tief verwurzelt. Da die Olivenbäume für ihr Wachstum genau die Bedingungen brauchten, die sie auf Kreta vorfanden, hatte sich die Natur auf dieser Insel in all den Jahrhunderten ihren eigenen Regeln entsprechend entfalten dürfen. Die Ernten brachten den Firmeneignern viel Geld ein, und so gab es keinen Grund, die Landschaft zu optimieren. Nun aber wollte die Regierung wissen, ob sich der typische Großstadtmensch unbeschadet in solch einer natürlichen Umgebung aufhalten konnte, und einige mutige Bürger probehalber dort ansiedeln. Es war das erste wirkliche Abenteuer seit der Entwicklung von gentechnisch optimiertem Obst, geklonten humanen Bio-Einheiten, synthetischem Blut und Labororganen. Dies bedeutete freilich auch, dass Kreta nach all den Jahrhunderten der Abgeschiedenheit und des Friedens nun mit Veränderungen rechnen musste. Die ersten Großstädter, die sich auf dieses Abenteuer einließen – meist Wissenschaftler, Regierungsbeauftragte, Künstler oder Journalisten wie er –, wohnten zunächst in den alten, mittlerweile aber restaurierten und technisch gut ausgestatteten Hotels.

      Reb konnte sich nicht helfen, aber er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Um die Kombination von verwöhntem Stadtmenschen und ungezügelter Natur zu ermöglichen, würde man der Insel bestimmt einen moderneren Anstrich verleihen müssen. Hoffentlich waren Architekten mit Sinn für Geschichte und Kultur am Werk.

      Schwer und eigenwillig lag der metallene Schlüssel in seiner Hosentasche. Das massive Material beulte den Stoff ein wenig aus. Reb griff in die Tasche und umfasste das Metall mit der Hand, damit es aufhörte,


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