Wer bleibt Millionär?. Tino Hemmann
Читать онлайн книгу.Diese Person, deren Gesicht unter einer feinmaschigen Maske und deren athletischer Körper unter schwarzer Kleidung aus Lederimitat verborgen waren, lehnte den ohnmächtigen Francesco mit dem Rücken gegen das Fahrzeug, doch der Butler fiel zur Seite, als die Person ihn losließ.
»Was bitte soll das?« Welch eine mutige Frage, wie aus einem Drehbuch übernommen, aus dem Munde des am ganzen Körper zitternden Schauspielers!
Eine Pistole mit Schalldämpfer wurde auf van Boomerlands Kopf gerichtet. Die Antwort fiel weniger bühnenreif aus. »Schnauze halten und aussteigen!«, forderte eine tiefe, barsche Männerstimme, die den Millionär zittern und gehorchen ließ. »Befolgen Sie unsere Anweisungen, dann passiert Ihnen auch nichts, Herr van Boomerland!«
»Wollen Sie mich etwa entführen? Es gibt niemanden, den Sie erpressen könnten!«, gab van Boomerland, angesichts der bedrohlichen Situation sabbernd, von sich. Er stieg aus dem Wagen und schaute sich in der Tiefgarage um. Hier gab es viele düstere Ecken, wenig Licht und keine Menschenseele außer diesem obskuren Ninja-Kämpfer, dem bewegungsunfähigen Butler und ihm selbst. Der Schein trog allerdings, denn im gleichen Moment heulte ein starker Motor auf, ein schwarzer Mercedes Vito näherte sich und hielt mit lauten Reifengeräuschen unmittelbar neben dem Fahrzeug van Boomerlands – die im fahlen Schein der Garagenbeleuchtung funkelnden Sterne standen auf einer Höhe. Eine Schiebetür öffnete sich, zwei weitere schwarz gekleidete Gestalten sprangen heraus und näherten sich als lautlose Schatten. Der Millionär spürte einen Einstich am Hals, dem augenblicklich eine rasch um sich greifende Dunkelheit folgte.
Erst vier Stunden nach diesem Vorfall erwachte Francesco aus dem erzwungenen Tiefschlaf. Er hockte zunächst lange Zeit auf dem Boden und zerfloss in Tränen, bis endlich ein anderes Fahrzeug in die Tiefgarage fuhr, dessen Insassen nach dem Aussteigen von dem sterbenden Stimmchen des jungen Geschöpfes herbeigejammert wurden.
*
Sigrun Tamelroth verabschiedete sich von ihrem Vater. Das tat sie stets mit wenig Zärtlichkeit und in einer gewissen hochmütigen Art und Weise, die an Schneewittchens Stiefmutter erinnerte. Sie zählte gerade neunundzwanzig Lenze, erweckte aber einen wesentlich reiferen Eindruck. Damals, als sie das berühmte Licht der Welt erblickte, war der Vater bereits vierzig Jahre alt gewesen. Nun wohnte sie in München und war alleinstehend, denn für eine Beziehung blieb als Tochter eines Industriellen mit eigenem Konzern keine Zeit. Sie trug halblange, naturschwarze Haare, verfügte über eine modelverdächtige Figur, versuchte stets intelligent aufzutreten und besaß nach dem letzten Geschäftsjahresabschluss ein eigenes kleines Vermögen von 424,3 Millionen Euro.
»Bring bitte die aktuellen Umsatzzahlen deiner Firmen zur Gläubigerversammlung mit, Mädchen.« Der grauhaarige Sigurd Tamelroth, dessen Vermögen mehr als das Zehnfache des töchterlichen Besitzes betragen dürfte, gab ihr einen gut gemeinten, wenngleich flüchtigen Kuss auf die rechte Wange.
Dieser aber wurde rabiat weggewischt. Vorwurfsvoll kam die prompte Antwort. »Sicher, Papa. Die hätte ich glatt vergessen. Danke, dass du mich erinnerst.« Ein verbissenes Lächeln verunzierte sekundenlang das ungeschminkte Gesicht der hübschen Frau. Dieser Mann, der sich Vater nannte, hatte nach der Scheidung von Sigrun Tamelroths Mutter mit dem Einsatz eines kleinen Vermögens das alleinige Sorgerecht für das Töchterchen erstritten.
»Leb wohl, Vater«, raunte sie, ohne ihm in die Augen zu blicken.
»So, wie du das sagst, klingt es fast wie ein Abschied für immer.«
»Was ein Tag bringen wird, weiß man erst, wenn der Tag zu Ende geht.« Sie lächelte erneut verbissen.
Sigurd Tamelroth antwortete nicht auf diese Lebensweisheit. Er wandte sich einfach von ihr ab. Seine Tochter machte kehrt, schwang gekonnt die Handtasche und verschwand im gerade ankommenden Aufzug des modernen Büroriesen. Unten, im Foyer, klapperten ihre Absätze aufdringlich und ließen den einen oder anderen Angestellten in die Unsichtbarkeit flüchten.
»Meinen Wagen!«, rief sie im Tonfall eines Generals quer durch die Halle und schritt, ohne um sich zu schauen, mit erhobenem Haupt und wackelndem, in engen Jeans steckendem Hintern an den Männern vom Sicherheitsdienst vorbei. Durch die sich selbsttätig öffnende Glastür des Haupteingangs trat sie schwungvoll hinaus an die Münchner Innenstadtluft, so als erwarte sie, dass ihr Wagen bereits einstiegsbereit warten würde. Dieser musste jedoch erst aus der Tiefgarage geholt werden. Also steckte sie sich eine weiße Frauenzigarette zwischen die Lippen, gab sich selbst Feuer und rauchte ein wenig hastig.
»Du kannst alles haben, was du willst. Und doch versuchst du mit Hilfe von Lungenkrebs auf all die schönen Dinge zu verzichten«, würde ihr Vater jetzt sagen.
Ihre Mundwinkel zuckten verächtlich. All die schönen Dinge! Langweilige Versammlungen, ständiges Zur-Schaugestellt-werden, eintönige Betriebsbegehungen, Kostüm statt Jogginganzug und unfreiwilliger, stumpfsinniger Nachhilfeunterricht in Marketing-Strategien.
Der Benz kam angebraust. Sie schnippte die Zigarette in Richtung Asphalt, schenkte dem jungen Angestellten, der rasch bei laufendem Motor aus dem Auto flüchtete, keinerlei Beachtung, stieg ein, zog die Tür zu und jagte davon.
Sie hatte um einen eigenen Bürokomplex gekämpft, möglichst weit von der innerstädtischen Familienzentrale entfernt, und ihn am Rande der Landeshauptstadt erhalten.
Sigrun Tamelroth fuhr rasant, hupte oft und regte sich über jeden Nicht-Münchner auf, der die von ihr beanspruchten Straßen verstopfen half.
Die Leopoldstraße. Ein derber Tritt auf das Gaspedal ließ den Benz beschleunigen. Im letzten Moment sah Sigrun Tamelroth jedoch ein, dass diese Grünphase ungenutzt an ihr vorübergehen würde. Der Schalthebel wanderte auf Position N, die Fußkraft übertrug sich sofort auf die Bremsanlage und das elektronische Stabilitätsprogramm sorgte dafür, dass das Fahrzeug nicht ausbrach und einen Meter vor der Haltelinie zum Stehen kam, sodass der Ampelblitzer kein Foto auslöste. Das tat er allerdings kurz danach, denn ein Transporter vom gleichen Hersteller schob den Wagen der jungen Dame einen halben Meter in Richtung der Kreuzung. Wütend schlug die Frau auf das Lenkrad. Es war zwar nur ein sanfter Stups gewesen, doch Ärger war vorprogrammiert. Ihr Blick wanderte in den Rückspiegel. Das gegnerische schwarze Fahrzeug stand bedrohlich nah hinter dem ihrigen.
»Warum steigt denn keine Sau aus?«, fluchte sie, ohne das fremde Auto aus den Augen zu lassen. Überreizt gab sie sich einen Ruck, löste den Gurt, öffnete die Fahrertür und stieg aus. Ihr Wagen schien keine sichtbaren Schäden davongetragen zu haben. Ihr Blick wanderte zu jenem schwarzen Fahrzeug.
An dessen Steuer saß keiner!
»Hallo?« Noch klang ihre Stimme fest, wenngleich sie bereits ein wenig Unsicherheit verspürte. Sie lief hinter das fremde Fahrzeug. Irgendwo musste der Fahrer schließlich stecken. Nichts. Nun schaute Sigrun Tamelroth auf der Beifahrerseite des Unfallverursachers nach und fand deren Schiebetür geöffnet vor. Sie blickte sich um. Wie es der Zufall so wollte: Weit und breit waren keine Zeugen zu sehen!
Sie erschrak. Zwei von braunen Wildleder-Handschuhen gewärmte Hände griffen aus dem Inneren des Fahrzeuges nach ihr.
»Steig ein. Es ist soweit«, sagte die Stimme eines Mannes.
»Du hättest mich vorwarnen können«, erwiderte Sigrun Tamelroth und ließ sich in den Transporter helfen.
»Du wusstest doch, dass es heute geschehen würde.«
»Ich wusste aber nicht wie.«
Der Transporter setzte sich in Bewegung und erhöhte rasch die Geschwindigkeit.
*
Berlin, Bezirk Marzahn-Hellersdorf, vormittags, trübes Wetter, obwohl der Wetterdienst strahlenden Sonnenschein angekündigt hatte. Der eher zurückhaltend auftretende Bauunternehmer Franz Schneidmann schritt gemächlich die Baustelle ab. An seiner rechten Hand führte er einen achtjährigen Jungen, in der linken trug er eine altmodische Aktentasche. Bauleiter Sporing, dessen graue, wüste Haare unter dem gelb leuchtenden Helm hervorlugten, lief in Gummistiefeln mit großen Schritten nebenher und redete ununterbrochen.
»Sie haben mir glatt vierzig Mann weggenommen. Ganze Horden von Polizisten