Luther – Steckbrief eines Überzeugungstäters. Christoph Türcke

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Luther – Steckbrief eines Überzeugungstäters - Christoph Türcke


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»Fürstenknecht« aufgedrückt. Die deutsche Wiedervereinigung bescherte den Stätten seiner Geburt und seines Wirkens alsbald den Ehrentitel »Lutherstadt«. Dies Wort gehört seither zum Ortsnamen, es steht mit auf dem Orts- oder Bahnhofsschild. Zwar darf heute jeder auch die unschönen Seiten des Reformators hervorheben: seine persönlichen und theologischen Grobheiten gegenüber Freunden und Feinden, seine Aufforderung zu unbedingtem Gehorsam gegenüber der weltlichen Obrigkeit, zur Niederschlagung des Bauernaufstands, zur Vertreibung der Juden. Doch was macht das schon? Das Unschöne an Luther hat in der öffentlichen Wahrnehmung ein gleichsam katholisches Ansehen gewonnen. Es firmiert unter »läßlichen Sünden«, die zwar nicht zu verteidigen sind, aber die Person »menschlicher« erscheinen lassen: als Kind ihrer Zeit. Sie fungieren als der Schatten, von dem sich Luthers theologische Kernbotschaft um so leuchtender abhebt. Letztere wird inzwischen selbst vom Katholizismus als epochaler Durchbruch bewertet. Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die katholische Kirche und lutherischer Weltbund 1999 verabschiedeten, bekennt im Artikel 3.17: »Gemeinsam sind wir der Überzeugung, daß die Botschaft von der Rechtfertigung uns in besonderer Weise auf die Mitte des neutestamentlichen Zeugnisses von Gottes Heilshandeln in Christus verweist: Sie sagt uns, daß wir Sünder unser neues Leben allein der vergebenden und neuschaffenden Barmherzigkeit Gottes verdanken, die wir uns nur schenken lassen und im Glauben empfangen, aber nie – in welcher Form auch immer verdienen können.«

      Lutherischer geht es kaum. Die Krönung ist das Lutherjahr. Die runden Geburtstage Luthers und seiner 95 Thesen feierte man zwar auch früher schon. Nun aber steht ein ganzes Jubiläumsjahr auf dem Programm. Wer erinnert sich noch, daß das ein genuin katholischer Brauch ist? Papst Bonifaz VIII. führte ihn im Jahr 1300 ein. In jedem ersten Jahr eines neuen Jahrhunderts sollte jedem Pilger in die heilige Stadt ein großzügiger Ablaß zuteil werden. Ein Pilgerfest neuen Ausmaßes entstand. Der Kurie tat sich eine weitere Einnahmequelle auf. Mehr als sechs Jahrhunderte hielt sich das Jubiläumsjahr. Nun, nachdem es die katholische Kirche im 20. Jahrhundert kleinlaut aufgegeben hat, fängt die lutherische im 21. damit an. Ein ganzes Jahr für Luthers Großtat. Zwar verschafft die Teilnahme an diesem Jubiläumsjahr keinem Lutheraner einen Ablaß, wohl aber dem Reformator selbst. Ein Jahr lang soll er als eine der großen Figuren der westlichen Kultur in allen Medien präsent sein.

      Im Zeitalter der Mikroelektronik kann niemand wirkungsvoller gefeiert werden als durch eine solche Art von Präsenz. Sie gewinnt den Charakter einer neoprotestantischen Heiligsprechung – selbstverständlich einer informellen, sozusagen durch massenmediale Akklamation. Man braucht dazu nicht, wie das katholische Heiligsprechungsverfahren, eine Glaubensbehörde, die die Biographie des Kandidaten einer genauen Prüfung unterzieht, seine Verfehlungen als läßliche Sünden verbucht, seine Verdienste würdigt und seine wundertätige Wirkung hervorkehrt. Dies alles leistet das Jubiläumsjahr durch seine Eigendynamik als Event. Auch kritische Töne sind dabei willkommen. Sie fügen sich wie kontrapunktische Stimmen in einen großen Lobgesang ein. »Ist es dann nicht ein Affront gegen die ökumenischen Bemühungen, das Reformationsjubiläum und damit die Kirchenspaltung von 1517 so groß zu feiern?« fragte der Spiegel die »Botschafterin« für das Jubiläum, Margot Käßmann. Nein, war die Antwort. »Tschechien, wo Jan Hus 100 Jahre vor Luther gewirkt hat, und die Schweiz, wo Zwingli und Calvin ihre Wurzeln haben, beteiligen sich, ebenso wie die römischen Katholiken eingeladen sind, mitzuwirken.«2 Damit letztere aber nicht am Katzentisch landen, haben sie vorgebeugt und eine Sondergala für sich ausgehandelt. Der Papst wird sich am Reformationstag 2016 mit dem lutherischen Weltbund in dessen Gründungsstadt, dem schwedischen Lund, zum gemeinsamen Gebet treffen. Er umgeht damit ebenso eine gemeinsame Eucharistie wie eine Wallfahrt nach Wittenberg. Die Kirche bleibt im Dorf.

      Gleichwohl ist ein ökumenisches Crossover in Gang gekommen. Während der Katholizismus sich zur Rechtfertigung allein aus Glauben bekennt, probt der Protestantismus die mikroelektronisch gestützte Heiligsprechung. Schwerlich aus gesteigerter Glaubensinbrunst, eher aus einer spezifischen Mangelerfahrung heraus. Wo gibt es in unserer demokratischen, pluralistischen, relativistischen Ära noch Menschen, die allein mit der Kraft ihrer Überzeugung die Mächtigen der Welt herausfordern und ihnen standhalten? Weltweit regt sich eine tiefe Sehnsucht nach Überzeugungstätern. Das sind Menschen, die so fest an etwas glauben, daß sie das Äußerste dafür wagen, sei es, daß sie, wie Luther, in Erwartung von Reichsacht und Kirchenbann dennoch ihre Lehre vor Kaiser und Reich verteidigen; sei es, daß sie, wie Edward Snowden, lieber lebenslange Verfolgung durch eine Supermacht in Kauf nehmen als deren Überwachungspraktiken geheim zu halten; sei es, daß sie, wie Mohammed Atta, sich einer Ingenieursausbildung in Feindesland unterziehen und eigens einen Pilotenschein machen, um ein Flugzeug ins symbolträchtigste Gebäude einer als korrupt und sinnentleert erachteten Kultur zu steuern. Bei ihren Feinden heißen solche Leute Verbrecher oder Terroristen. Ihre Freunde und Anhänger verehren sie als Glaubenszeugen. Das griechische Fachwort dafür ist Märtyrer.

      In gewisser Weise ist das Lutherjahr auch ein modernes Märtyrerfest – ein Gegenprogramm gegen die diabolische Versuchung, die von islamistischen Djihadisten und Selbstmordattentätern auf die westliche Welt ausgeht. Deren Todeskommandos lösen ja im Westen nicht nur Furcht und Schrecken aus. Ungefestigten, desorientierten, suchenden Mitteleuropäern und Nordamerikanern signalisieren sie: Wir haben, was eure Lebensweise euch vorenthält. Unsere rückhaltlose Hingabe an eine höhere Macht gibt unserm Leben Sinn und Halt. Sie befreit uns von jener seichten, prinzipien- und ziellosen Existenz, an der ihr laboriert. Schließt euch uns an! Dagegen läßt sich Luther wunderbar als Bollwerk aufbauen: als knorriger Ahnherr der recht verstandenen westlichen Lebensweise, die keineswegs seicht ist, sondern überhaupt nur durch ein tiefes Glaubens- und Gewissenszeugnis eröffnet werden konnte. Luther firmiert hier als Märtyrer der ganz anderen Art. Er mußte sein Glaubenszeugnis nicht mit dem Leben bezahlen. Sein Martyrium wurde zu einer Erfolgsstory sondergleichen. Seine Schriften fanden reißenden Absatz. Sein Landesfürst stützte ihn. Andere folgten. Eine Allianz von Fürsten und Städten sagte sich von der Oberhoheit Roms los und regelte das Verhältnis von Staat und Kirche nach Luthers Vorgaben. Eine ungemein folgenreiche Neuordnung der politischen Landschaft begann, ohne daß Luther selbst je ein politisches Amt bekleidet hätte. Dies alles schwingt mit in der Formel vom »reformatorischen Durchbruch«. Sie suggeriert, daß der Durchbruch des Mönchs Martin zu seiner persönlichen Glaubensgewißheit zugleich der Durchbruch zu jener neuen Epoche war, die wir im Rückblick »Neuzeit« nennen und deren Lebensweise von Europa aus in allen Kontinenten einen überwältigenden Siegeszug angetreten hat. Wie wenig dieser Sieg zu ungetrübter Freude Anlaß gibt; wie sehr die Originalität von Luthers »Durchbruch« überschätzt wird, wie archaisch seine Modernität ist, wie gnadenlos der Unterbau seiner Gnadenlehre: davon geben die folgenden Seiten eine Skizze.

      Mittelalter, Renaissance, Neuzeit: diese Begriffe sind erst im 19. Jahrhundert zu historischen Orientierungsmarken geworden. Luther und seinen Zeitgenossen waren sie unbekannt. Sie hätten nichts damit anfangen können. Sie fühlten sich einer großen christlichen Gesellschaft zugehörig, die sie als ebenso alternativlos erlebten wie im Zerfall begriffen. Von klein auf waren sie in christliche Riten und Vorstellungen eingeübt worden, die als Grundmuster ihrer gesamten Weltwahrnehmung fungierten. Um so bedrückender, daß ihre soziale Umgebung so schlecht in diese Muster paßte. Ständig gab es irgendwo Streit zwischen christlichen Fürsten, zwischen weltlicher und geistlicher Macht, zwischen verschiedenen Auffassungen der christlichen Lehre. Schließlich spaltete sich im Jahr 1378 sogar die oberste christliche Instanz. Päpste und Gegenpäpste bekämpften einander mit Worten und Waffen. Und doch blieb der Streit innerhalb des christlichen Paradigmas. Man wußte nichts Besseres als christliche Konzilien, um ihn zu schlichten. Einige davon endeten erfolglos. Erst dem Konzil, das 1414 nach Konstanz einberufen wurde, gelang es, drei amtierende Päpste durch einen neuen zu ersetzen. Die Wiedervereinigung der Kirche unter seiner Oberhoheit wurde feierlich besiegelt durch die bestialische Verbrennung des Führers einer kirchlichen Oppositionsbewegung, der ersten, die nationale Züge trug – böhmische.

      Die Rede ist von Jan Hus. Er mißtraute dem neuen Papst nicht minder als seinen Vorgängern und wollte sich lediglich vom »Gesetz Christi« leiten lassen, das er allein in der Bibel niedergelegt wähnte. Dort stand nichts davon, daß die Hirten der christlichen Gemeinde in Saus und Braus leben, hohe Abgaben


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