Luther – Steckbrief eines Überzeugungstäters. Christoph Türcke

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Luther – Steckbrief eines Überzeugungstäters - Christoph Türcke


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sah Hus in einer skandalösen Selbstüberhebung des Klerus, besonders der Kurie. 1412, als eine hanebüchene päpstliche Bulle, die zur Vernichtung des Königs von Neapel aufrief und ein paar junge Leute, die dagegen protestierten, auf dem Scheiterhaufen enden ließ, hatte er seiner Gemeinde auf tschechisch zugerufen: »Christus befahl Petrus, daß er einen sündhaften Menschen wie einen Heiden und Zöllner meide […], aber er befahl ihm nicht, ihn zu foltern und zu morden. Unsere Päpste und Nachfolger Petri aber haben sich zu Henkern und Scharfrichtern ausgebildet und aufgeschwungen; einen treuen Christen heißen sie einen Ketzer und verbrennen ihn auf dem Scheiterhaufen. O Herr Jesu Christ, bleibe bei uns für Zeit und Ewigkeit!«3

      Mit solchen Predigtworten brachte sich Hus in eine Lebensgefahr, die bis zu seinem eigenen Tod auf dem Scheiterhaufen nicht mehr aufhören sollte. Seine Worte waren kühn, aber seine Gedanken nicht neu. Seit im 11. Jahrhundert der große Kirchenbau begonnen hatte und der Klerus in der Erfindung von Abgaben und Ablässen, die ihn finanzieren sollten, höchst kreativ geworden war, hatte es immer wieder kleine Gruppen gegeben, die lieber so arm sein wollten, wie das Neue Testament Jesus und seine Jünger schilderte, als den Trend der Kirche zu Prunk und weltlicher Macht mitzumachen. Sobald sie allerdings »apostolische Armut« als die einzig angemessene christliche Lebensweise predigten (und nicht nur, wie Franziskaner und Dominikaner, als eine mönchische Option), wurden sie gnadenlos verfolgt. Schon Mitte des 12. Jahrhunderts wurden die Armutsbewegungen von Köln und Périgueux so gründlich aufgerieben, daß sich nicht einmal die Erinnerung an einen Namen aus ihren Reihen erhalten hat. Die Waldenser gehörten schon zur zweiten Generation der Verfolgten. Wer sich zu ihnen und später zu den Spiritualen (einer Abspaltung von den Franziskanern) hielt, die sich demonstrativ die Armut Jesu zum Vorbild nahmen, der wußte: Er riskierte sein Leben. Und als das Papsttum mit seiner Übersiedlung von Rom nach Avignon in seine korrupteste Phase trat und die Schmach, aus der heiligen Stadt in die französische Provinz versetzt worden zu sein, durch Prunk und ein erpresserisches Ämterversteigerungssystem kompensierte, nahm am nordwestlichen Ende des Abendlands, in Britannien, die Empörung darüber politische Formen an. Das »Gute Parlament« erklärte 1376 die päpstlichen Maßnahmen für widerchristlich. England war der Kurie nicht nur geographisch fern. Es war auch der Hauptfeind Frankreichs, der Schutzmacht des Avignon-Papsttums. In England atmete der Klerus einen weit schärferen Gegenwind weltlicher Mächte als auf dem Kontinent. Und pünktlich im Jahr 1378, als das »Schisma«, die Spaltung der Kirche unter mehrere Päpste, begann, gewann auch die Lehre des Engländers John Wyclif ihre signifikante Schärfe: die Konturen einer ersten protestantischen Theologie.

      »Als Fundament des Glaubens nahm ich, daß Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist, und diesem Fundament fügte ich zweitens alle seine Taten und Worte, wie sie im Evangelium und anderswo aufgezeichnet sind, bei. Und drittens nahm ich hinzu, daß alle jene Berichte oder Taten der Unterweisung der irdischen Kirche dienen sollen.« Kaum in Jerusalem angekommen, ging Christus »sogleich zum Tempel und reinigte ihn zu allererst von den üppig wuchernden Mißständen, die infolge der Habsucht der Priester entstanden waren. Da also ›alle Taten Christi unsere Unterweisung sind‹, müssen wir desgleichen tun. In diesem Falle legte ich die Armut Christi zugrunde, wonach der Herr der Welt« »zum Vorbild für seine Kirche und insbesondere für die Oberen des Klerus eindeutig im höchsten Maße arm gewesen ist.«4 »Und hieraus schließe ich, daß jeder Gläubige dem Papst oder einem Heiligen nur insoweit nachfolgen darf, als dieser seinerseits dem Herrn Jesus Christus Nachfolge geleistet hat.«5 »So soll sich also sein Stellvertreter nicht schämen, in der Kirche zu dienen, da er der Diener Christi ist oder sein soll. Denn die Abweichung von der Redeweise der Heiligen Schrift und der Hochmut weltlicher Herrschaft samt seinem aufreizenden weltlichen Stil scheint mir die Blasphemie und die Überheblichkeit des Antichrists anzubahnen«.6 »Die Jünger Christi haben keine Vollmacht, durch Kirchenstrafen auf dem Wege staatlicher Zwangsvollstreckung Steuern einzutreiben.« (271) Und wenn sie es dennoch tun? Dann muß die weltliche Macht einschreiten. Deshalb wendete sich Wyclif ans englische Parlament: »Wenn Gott ist, so können die weltlichen Herren mit Recht und Verdienst der Kirche, wenn sie sich vergangen hat, die irdischen Güter wegnehmen.« (267)

      Darauf brach ein Sturm der Entrüstung im englischen Klerus los. Solche Töne hatte noch niemand gewagt. Nur weil Wyclif den Schutz eines mächtigen Herzogs genoß, konnte er sein Schreiben an das englische Parlament überleben und seine Lehre sogar noch zuspitzen. Da »das Wort ›Papst‹ ein Begriff ist, der sich innerhalb des Zeugnisses der Schrift nicht findet«, so wäre es »für die Kirche heilsam, wenn es keinen Papst oder Kardinäle gäbe, denn der Bischof der Seelen, der Herr Jesus Christus, samt seinen treuen Knechten, würde ohne einen solchen Papst und die übrigen Prälaten die Kirche auf Erden viel besser regieren.«7 Priester sollten »weder ihre Gebete verkaufen noch weltliche Händler werden noch sich mit Wucher oder anderen verbotenen Geschäften abgeben. Mein Wunsch wäre es indessen, daß sie sich der Predigt oder einer Handarbeit wie dem Schreiben oder einer anderen körperlichen Arbeit widmen« (282), wie es Paulus tat, der sich als »Zeltmacher« (283) verdingte. Er war »einst ein Pharisäer, verließ diese Sekte in weiser Voraussicht aus freien Stücken um der Gefolgschaft Christi willen. Warum müssen die Priester nicht heute ebenso handeln? Daher müssen die Mönche, gleichgültig welcher Sekte oder Regel oder welchem Eid sie verbunden sind«, »aus freiem Entschluß diese Bindungen verlassen und aus freiem Entschluß in die Gefolgschaft Christi eintreten.« (285 f.)

      Wie viel reformatorische Substanz steckt doch in diesen wenigen Worten! Da ist die Feststellung, daß das Papsttum nicht nur antichristlich mißbraucht wird, sondern als Institution überhaupt nicht biblisch fundiert ist; da ist die Kritik am Ablaßwesen; die Erklärung des Mönchtums als Fehlweg; die Rückbesinnung aufs Evangelium als einzige verbindliche christliche Richtschnur; der Notruf an die weltliche Macht (interessanterweise ans Parlament, nicht an den König) als die einzige Instanz, die noch übrig ist, um die geistliche Macht in die Schranken zu weisen und zum apostolischen Dienst zurückzuführen. Hinzu kommt, daß Wyclif die erste Übersetzung der lateinischen Bibel in eine europäische Volkssprache auf den Weg brachte. Das Neue Testament begann er allein ins Englische zu übertragen, das Alte nahm er sich gemeinsam mit einem Mitarbeiter vor. Die Übersetzung blieb unvollendet und gelangte nicht in Umlauf. Doch die Idee, daß das Volk unabhängig vom Klerus in seiner Sprache direkten Zugang zum Evangelium haben sollte, wurde populär – wie Wyclifs Lehre insgesamt. Besonderen Zuspruch fand sie beim niederen Klerus, den »Lollarden«, die ihrerseits den englischen Bauernaufstand von 1381 förderten. Der hohe Klerus machte Wyclif für diesen Aufstand verantwortlich, verhörte ihn und verbot ihm seine Lehrtätigkeit in Oxford. Aber er wagte ihn nicht zu exkommunizieren.

      Das tat erst das Konzil zu Konstanz, gut dreißig Jahre nach Wyclifs Tod. Der Papst, der Hus verbrennen ließ, ließ auch Wyclifs Gebeine exhumieren, verbrennen und verstreuen. Aber zu Lebzeiten kam Wyclif unerhört glimpflich davon. Seine Gedanken gärten freilich auch nach seinem Tod weiter. Unerwarteten Auftrieb bekamen sie durch eine Königshochzeit. Karl IV., der Prag 1344 zur Kaiserresidenz und 1348 zur Universitätsstadt gemacht hatte und Böhmen als Zentrum seines Reichs, sozusagen als kontinentales Widerlager zur Kurie in Avignon auszubauen trachtete, verheiratete seine Tochter Anna mit dem englischen König Richard II. Diese Heirat sollte das antipäpstliche und antifranzösische Bündnis zweier Achsenmächte stärken. Sie setzte aber auch einen bemerkenswert regen Studentenaustausch zwischen Prag und Oxford in Gang. Es blieb nicht aus, daß einige Prager Scholaren bei ihrer Rückkehr aus Oxford Wyclifs Lehre mitbrachten. Sie fand in Prag einen überaus fruchtbaren Boden. Böhmen gewährte länger schon versprengten Waldensern und Spiritualen Zuflucht, wie es auch Volkspredigern Raum gab, die zu Buße und Armut aufriefen. Einer von ihnen, Konrad Waldhauser, war sogar Beichtvater Karls IV. geworden. In dieser Umgebung war man für Wyclifs Gedanken ungemein empfänglich. Hus flog geradezu auf sie. »Mich ziehen seine Schriften an, durch die er alle Menschen zum Gesetz Christi zurückzuführen sucht, besonders die Geistlichen, daß sie die Pracht und Herrschaft der Welt fahren lassen und mit den Aposteln leben«. »Es zieht mich an die Liebe, die er zum Gesetz Christi hat, indem er dessen Wahrheit behauptet, daß es auch nicht in dem geringsten Punkt falsch sein könne.« Nur den Laienkelch8 hatte Wyclif noch nicht ausdrücklich verlangt. In diesem Punkt ging Hus weiter als er. Alles andere, worauf Hus bis zum Feuertod beharrte, kommt bei Wyclif bereits vor.

      Hus war ein bewundernswert standhafter, aber kein besonders origineller


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