Wie Opas schwarze Seele mit einem blauen Opel gen Himmel fuhr. Albrecht Gralle

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Wie Opas schwarze Seele mit einem blauen Opel gen Himmel fuhr - Albrecht Gralle


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      „Es war vor langer Zeit, da lebte in einem Dorf ein Hirtenjunge, der passte auf die Schafe und Ziegen auf, und er hatte sich eine Schleuder gebastelt, um damit wilde Tiere zu vertreiben, wenn sie näher kamen. Einmal hatte er sogar einen Löwen damit in die Flucht geschlagen. Weil der Junge oft stundenlang nichts zu tun hatte, übte er sich im Schießen und konnte im Lauf der Zeit ganz gut zielen …“

      „David und Goliath!“, rief ich.

      Herr Klinke blickte mich überrascht an, und ich hatte den Eindruck, dass er nicht gerade begeistert war.

      „Ja“, sagte er, „René hat recht. Wer kennt noch die Geschichte?“

      Gabriel aus Afrika, das genaue Land konnte ich mir nicht merken, meldete sich. Sven sagte mir später, dass es Eritrea hieß. Ich hatte herausgefunden, dass seine Eltern Christen waren, aber nicht evangelisch oder katholisch, sondern irgendwas anderes. Ich fand es komisch, dass ein Junge, der von so weit herkam, sich in der Bibel besser auskannte als der Rest der Klasse. Meine Mutter sagte, dass im Grunde die meisten Leute in Deutschland Heiden seien, obwohl sie als kleine Kinder getauft worden sind. Und man könnte sich von den Flüchtlingen heutzutage eine Scheibe abschneiden. Obwohl mir nicht klar wurde, was für eine Scheibe das sein sollte. Selbst die Muslims kennen ein paar biblische Figuren, sagte sie, weil Mohammed, ihr Prophet, die biblischen Geschichten geklaut hat.

      Aber das habe ich den Kopftuchmädchen in meiner Klasse noch nicht erzählt, weil ich mir dachte, dass es nicht so gut ankommt.

      „Gut“, nickte Herr Klinke. „Ich erzähle die Geschichte trotzdem weiter, und ihr beiden Schlaumeier passt genau auf, weil ich irgendwo einen Fehler einbauen könnte.“

      „René ist nur so schlau, weil er in so einer komischen Kirche ist“, sagte Paul, „wo sie die Bibel auswendig lernen müssen, und wenn sie es nicht können, werden sie verhauen!“

      „Das stimmt überhaupt nicht!“, rief ich. „Wir haben eine Kinderbibel zu Hause, und meine Mutter liest mir abends daraus Geschichten vor.“

      „Ach, das Muttersöhnchen muss noch ins Bett gebracht werden“, krähte Paul.

      Jetzt wurde ich ein bisschen wütend und schrie: „Und dein Vater betrügt die Leute und zieht ihnen das Geld aus der Tasche.“

      „Ruhe!“, donnerte Herr Klinke dazwischen. „Vor fünfzig Jahren wussten fast alle Kinder in Deutschland noch, wie die Geschichten aus der Bibel heißen, das war ganz normal, weil die Eltern sie ihnen erzählt hatten. Ich finde es großartig, wie Renés Mutter das macht. Wir leben nämlich in einem christlichen Land, und ihr solltet euch schämen, dass ihr kaum noch wisst, was das ist.“

      „Kinderbibel ist doch was für Babys!“, schrie Paul.

      „Ruhe, hab ich gesagt, sonst werde ich sehr ungemütlich! Ich erzähle euch jetzt die Geschichte weiter. Das gehört zur Allgemeinbildung, aber das Wort kennt ihr wahrscheinlich nicht.“

      Es stimmte. Ich fand, dass „Allgemeinbildung“ ein seltsames Wort war. Es klang nach einem Ersatzteil für Automotoren.

      Herr Klinke nahm seine Wanderung wieder auf und erzählte von David, wie er seinen Bruder in der Hauptstadt besuchte und erfuhr, dass ein riesiger Soldat von den Feinden Israels sich über Gott lustig machte. Aber keiner unternahm etwas. Da meldete sich David. Er wollte gegen Goliath kämpfen. Alle lachten ihn aus, weil der Riese Goliath einen Panzer trug und schwer bewaffnet war. Aber David nahm seine Schleuder, zielte auf seinen Kopf, und der Riese fiel tot um.

      Bisher war mir noch kein richtiger Fehler aufgefallen.

      Auch als die Geschichte zu Ende war, hatte Herr Klinke sie richtig erzählt.

      „Ich hab keinen Fehler entdeckt, Herr Klinke“, sagte ich.

      „Ich habe ja auch nur gesagt, dass ich einen Fehler einbauen könnte …“

      Paul meinte, mit einer Gummischleuder könnte man keinen Riesen töten, aber Herr Klinke malte eine Schleuder an die Tafel, so eine von damals, die hatte eine Schlinge, und man musste sie im Kreis drehen. Und dadurch bekam der Stein eine wahnsinnige Geschwindigkeit.

      „Mein Vater sagt, dass die Geschichten in der Bibel alle erfunden sind“, fing Paul wieder an.

      „Das stimmt nicht. Die Bibel lügt nicht“, rief ich.

      „Du hast ja keine Ahnung“, meinte Paul, „außerdem ist dein Vater tot.“

      „Aber ich habe einen Opa, der ist bei der Lufthansa, und der kann uns jederzeit Flüge besorgen.“

      Dazu fiel Paul nichts mehr ein, und Herr Linke kam mit einer zweiten Geschichte. Diesmal handelte sie von einem Mädchen, das so arm war, dass es Zündhölzer auf der Straße verkaufte, und zum Schluss kam es irgendwie in den Himmel, das heißt, nachdem es erfroren war.

      „Und?“, fragte Herr Klinke. „Wer kennt diese Geschichte?“

      Henriette aus der dritten Reihe meldete sich und sagte: „Das ist ein Märchen von Hans Christian Andersen.“

      Wir blickten alle zu ihr hinüber, denn Henriette sagte sonst kaum was. Ich schaute ein bisschen länger hinüber, weil Leili neben ihr saß.

      „Stimmt. Das war keine biblische Geschichte. Außerdem gab es damals zu biblischen Zeiten noch keine Zündhölzer …“

      „Höchstens Feuerzeuge“, sagte ich.

      „Auch die gab‘s noch nicht“, meinte Herr Klinke.

      „Aber wie hat dann der Prophet Elia die Sache mit dem brennenden Altar hingekriegt?“

      „Gott hat seinen Blitz in den Altar geschleudert, und dann hat alles gebrannt.“

      „Hat dann Gott auch letzte Woche das Haus in der Mozartstraße angezündet?“, fragte Paul.

      „So kann man das nicht sagen.“

      „Aber mein Vater hat gesagt, das ist höhere Gewalt, also ist es Gott gewesen.“

      Es klingelte, und ich glaube, dass Herr Klinke irgendwie froh war, dass er die Stunde beenden konnte.

      Wir hatten dann noch Gemeinschaftskunde und Erdkunde und die letzte Stunde war Sport.

      Unsere Lehrerin ließ uns vor dem Hochsprung drei Runden um den Sportplatz drehen, und ich passte auf, dass ich mal neben Leili lief und ihr „Hallo, Leili!“ zurufen konnte. Sie blickte kurz hoch und lächelte mich an. Ich wusste aber nicht, ob es so ein höfliches Lächeln war oder eines nur für mich.

      Als wir nach Hause gingen, hupte es plötzlich auf der Straße, und ich sah den VW Passat von Opa an der Straße stehen.

      Ich ging zu ihm hin und fragte: „Wartest du auf mich?“

      „Natürlich, mein Junge“, sagte er und lächelte.

      Das kam mir komisch vor. Warum wollte er mich abholen? Und warum lächelte er? Irgendwie sah sein Lächeln merkwürdig aus. Und das war etwas, worin ich mich auskannte. Ich hatte nämlich für mich eine Lächeltabelle angefangen. Ursprünglich hatte ich sie aufgeschrieben, um Leilis Lächeln besser zu verstehen und hatte im Lauf der Zeit zehn verschiedene Lächeltypen herausgefunden:

Lächeln 1:ein harmloses Lächeln über irgendwas Nettes.
Lächeln 2:ein gemachtes Lächeln, weil es von Erwachsenen erwartet wird, zum Beispiel, wenn Familienbilder gemacht werden oder weil es einfach höflich ist.
Lächeln 3:teuflisches Lächeln, wenn du siehst, dass dein ärgster Feind eine richtig miese Pechsträhne hat.
Lächeln 4:verliebtes Lächeln. Ein Mädchen lächelt dich an, weil es dich cool findet.
Lächeln 5:Mutterlächeln, weil sie ein Baby im Arm hält.
Lächeln 6:rätselhaftes Lächeln. Das Lächeln könnte alles bedeuten, du kommst nicht dahinter, warum der andere lächelt.
Lächeln 7:Zerstreutes Lächeln, das eigentlich kein Lächeln ist, sondern nur gemacht wird, weil einem nichts Besseres einfällt.
Lächeln 8:Spöttisches Auflachen
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