Das Geheimnis der goldenen Brücke. Michael Kunz
Читать онлайн книгу.noch seine Freunde hatten ihre Abmachung vergessen. Sie machten einen großen Bogen um ihn. Einmal hatte Mirko ihn sogar gefragt, ob er nicht Lust hätte, sich seiner Clique anzuschließen. „Ich brauche euch nicht“, hatte Peter ihm matt entgegnet und dabei mit den Achseln gezuckt. Mirko nickte einsichtig und entschied, das Kräftemessen mit Peter als unentschieden zu bewerten und jemand anderes als Opfer auszuwählen. Jemand, der schwach genug für ihn war, um sich weiterhin als Anführer einer Gruppe behaupten zu können. Es war das Einzige, was ihm Kraft gab. Zu Hause jedenfalls fand er diese Kraft nicht. Sein Vater saß den ganzen Tag vor dem Fernseher, nachmittags ging er dann aus dem Haus und wenn er abends heimkam, schrie er seine Mutter an, die daraufhin weinte. Manchmal schienen auch Gegenstände umzufallen, vielleicht wurden sie auch geworfen. Das alles konnte Mirko von seinem Bett aus hören. Jeden Abend dasselbe. Er hasste seinen Vater dafür. Und er hasste Peter. Wenn sein Vater abends herumbrüllte und er deswegen nicht einschlafen konnte, stellte er sich vor, wie Peter von seiner Mutter bei der Schule abgeholt wurde, wie er ihr auf dem Heimweg von seinen Erlebnissen berichtete, wie sie dann gemeinsam lachten und dann, zu Hause eingetroffen, zusammen Mittag aßen. Er stellte sich vor, wie Peter mit seinen Eltern am Wochenende auf den Rummelplatz ging, Popcorn aß, Achterbahn fuhr, durch die Geisterbahn rollte und sich dabei alle ängstlich einander die Hand hielten.
Wenn Mirko mit seinen Eltern wirklich einmal unterwegs war, dann meistens nur deswegen, weil sie zum Amt mussten und Mirko nicht alleine zu Hause bleiben sollte. Oder vielleicht wäre ihnen das sogar egal gewesen und sie nahmen ihn nur mit, weil das Amt sie dazu aufgefordert hatte. Es war immer dasselbe Amt und auf dem Weg dorthin stand im Sommer der Wagen eines Eisverkäufers. Die ersten Male hatte er seine Mutter gefragt, ob er ein Eis haben könne. „Ein anderes Mal vielleicht“, hatte sie ihm leise ins Ohr geflüstert und dann ängstlich zu seinem Vater geblickt. Einmal hatte der Vater es mitbekommen und er sah ihr verhasst in die Augen: „Du hast wohl ein Rad ab? Wir haben kein Geld für Eis! Ich will nichts mehr davon hören!“ Seitdem schwieg Mirko, wenn sie an dem Eisverkäufer vorbeikamen. Einmal beugte sich der Eisverkäufer aus dem Wagen: „Komm her, du bekommst ein Eis von mir“, denn die Sonne schien an diesem Tag gnadenlos und die sengende Hitze erstickte jeden Anflug von Arbeitslust. Der Eisverkäufer tupfte sich mit einem Taschentuch die schweißbenetzte Stirn, während er Mirko an ihm vorbeilaufen sah, als hätte dieser ihn gar nicht gehört. Er sah dem Kind hinterher, das sich schließlich umdrehte und verweint mit dem Kopf schüttelte. „Ich verstehe“, murmelte der Eisverkäufer. „Armes Kind!“
*
In all den Jahren hatte der Eisverkäufer schon in tausende Gesichter gesehen. Fröhliche, neugierige, in sich versunkene Blicke hatte er beobachtet. ‚Aber dieses Kind...’, überlegte er kopfschüttelnd und meinte damit Mirko, der mit seiner Mutter immer mindestens zehn Schritte hinter seinem Vater herging. ‚Wahrscheinlich schämt sich dieser Mann für seine Familie’, überlegte er. Mirko war das einzige Kind, das nie ein Eis bekam. Er hätte es ihm sogar geschenkt.
Der Eisverkäufer hatte viel Zeit zum Nachdenken, denn die Kunden kamen meist unregelmäßig. Er dachte oft über das Leben nach, überlegte, ob es vielleicht das Los seines alternden Geistes sei, dass er sein Leben mit 60 Jahren nicht mehr so unbeschwert wahrnahm, wie er es als Kind tat. Je älter er wurde, desto mehr Angehörige und Freunde hatte er zu Grabe getragen, stets in dem Bewusstsein, dass ihn dieses Schicksal auch eines Tages ereilen würde. Durch seine Augen nahm er sein Leben eigentlich wie einen Film wahr und, freilich, solange er ihn ansah, blieb er spannend, dramatisch oder romantisch. Einmal würde dieser Film jedoch zu Ende sein und das war eine Gewissheit, die ihn mit den Jahren immer stärker bedrängte und ihn gegenüber seinem Leben demütig werden ließ. Und immer, wenn er Mirkos Vater vorbeistolzieren sah, sagte er sich: „Demut ist die Kraft, sich verneigen zu können. Aber dieser Bastard kennt keine Demut!“ Eigentlich hätten Kinder auch diese Kraft in sich, überlegte er dann, sie drücke sich eben nur anders aus. Und er kam zu dem Entschluss, dass jeder Mensch diese Kraft anders empfände und würde man ihn persönlich einmal fragen, wie er diese Empfindung beschriebe, gäbe er zur Antwort: „Sie ist schillernd und makellos. Genau wie die Farbe der Demut.“
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Das, was sich langsam aber zielstrebig auf der braunen Erde fortbewegte, war der treue Schatten einer Ameise. Es ist schwierig, mit Bestimmtheit zu sagen, ob auch Ameisen wie wir Menschen einen Namen haben, aber wenn, dann wäre ihr Name vermutlich Lilli gewesen. Das hätte zu dieser kleinen Ameise sehr gut gepasst. Vielleicht, weil sie so athletisch und unbezwingbar wirkte. Vielleicht, weil sie so unermüdlich und fleißig ihre Arbeit verrichtete. Vielleicht, weil sie irgendwie auch neugierige Augen hatte, immer auf der Suche nach Nahrung und Gefahren. Obgleich sie sehr taff war – ganz bestimmt war sie ebenso tapsig. Ameisen sind einfach tapsig! Weil sie so kleine Beinchen haben. Deswegen sind sie tapsig.
Lilli hatte zittrige Beinchen, das lag an der Last, die sie auf dem Rücken trug. Es musste wohl das Vier- oder Fünffache von dem sein, was Lilli selbst wog. Aber ihr bemerkenswerter Wille war ungebrochen und unerbittlich, beinahe willenlos folgte sie der Pheromonspur, jene, welche sie wissen ließ, dass sie nicht vom Weg abgekommen war. Man muss wissen, dass Ameisen diesen Duftstoff versprühen, um ihren Weg zu markieren. Dadurch finden sie wieder zurück, aber auch andere Ameisen zu ihnen hin. Doch für den Fall, dass ein Regenguss die Duftstoffe wegspült, behelfen sie sich auch mit ihrem guten Gedächtnis – Ameisen erinnern sich an ihre Umgebung.
Ihre kleinen Äuglein hatten etwas Magisches, Liebevolles und sie strahlten auch eine unbeschreibliche Selbstaufgabe aus, sodass man fast meinen konnte, ihr einziger Gedanke, der in ihr lebte, war: ‚Ich muss helfen! Gleich habe ich es geschafft!’ Manchmal hielt Lilli inne und streifte ihre kleinen Fühlerchen an ihren zittrigen Vorderbeinchen ab, um sie zu putzen. Um dann wieder, ganz behutsam und vorsichtig, nach dem Geruch des Pheromons zu suchen.
In diesem Moment aber spürte sie noch etwas anderes: Die Luft um sie herum begann zu zirkulieren, die Temperatur schwankte plötzlich ungewöhnlich stark. Lilli bekam Angst. Besorgt beschleunigte sie ihre Schritte, dann änderte sie die Laufrichtung, mehrmals und irgendwie gegensätzlich. Aber das war ihre Ungewissheit, denn die Erschütterungen auf dem Erdboden wurden immer stärker und schienen von allen Richtungen ausgelöst zu werden.
Hastig suchte Lilli nach der Duftspur, ihre Beinchen irrten von einer Stelle zur nächsten. Plötzlich verfinsterte sich der Himmel, ein riesiger Felsbrocken stürzte auf sie herab, die Erde begann zu beben, Druck baute sich in der Luft auf, die dann zornig dem unbeirrt fallenden Monster auswich. Lilli kam ins Wanken, ihre Beine zitterten, dann lief sie hastig davon, sie musste ihr Leben retten, rannte und rannte, panische Angst trieb sie weiter voran, hin und her hetzte sie, völlig verwirrt und verzweifelt, von der Duftspur abgekommen, und dann klappten ihre Beine plötzlich unter einer unerträglichen Last zusammen. Sie sank zu Boden, etwas presste sie noch tiefer, erdrückend, erstickend, und dann bekam sie keine Luft mehr, der letzte Atemzug wurde durch den unermesslichen Druck ausgepresst, aber ehe sie sich dessen bewusst war, wurde sie zerstampft!
Ihre Beinchen zuckten, so, als ob sie noch sagen wollten: ‚Aber wir müssen doch noch weiter gehen und helfen. Gleich haben wir es geschafft!’ Und dann wurde es finster um ihre Augen und Lilli spürte so viel Erleichterung, so viel Wärme, dass sie all ihre Hast vergaß und friedlich starb.
*
Neugierig hob Peter seinen Fuß an und prüfte, ob er die Ameise erwischt hatte. „Eine Ameise mit einem Stückchen Blatt“, überlegte er halblaut, grinste zufrieden und hielt schließlich Ausschau nach anderen Krabbeltieren. Am liebsten waren ihm große Käfer, sie knackten wie Nüsse unter seinen Schuhen. Die Schnecken allerdings ließ er in Ruhe, sie waren ihm zu schleimig und klebrig und nur schwer von den Schuhsohlen abzubekommen. „Ah, hier ist noch eine Ameise“, freute er sich wieder. Und patsch!
„Peter! Verdammt!“, ärgerte sich Erik, der erst jetzt begriff, warum Peter so seltsam hin und her hüpfte. „Warum trittst du denn auf die Ameisen?“
„Die müssen doch sowieso sterben.“
„Und deswegen tötest du sie, weil sie sowieso sterben müssen?“
„Es sind doch nur zwei winzige Ameisen.“ Peter hob die rechte Hand nach oben und bildete mit Zeige- und Mittelfinger ein V, während