Das Geheimnis der goldenen Brücke. Michael Kunz
Читать онлайн книгу.soll los sein?“
„Du kannst doch nicht einfach anderen Lebewesen Leid zufügen und dann noch Spaß daran haben!“
*
„Füge anderen kein Leid zu“, zischte ES, „nur dein eigenes Leid schärft deine Ohren für meine Stimme! Wenn du meine Stimme nicht hörst, meinen Schatten nicht siehst, wirst du den Weg nicht finden. Den Weg zur goldenen Brücke.“
*
„Na gut, Paps“, stöhnte Peter, aber seine Augen wirkten fröhlich. Er henkelte sich bei Erik ein, um zu verdeutlichen, dass er ihm seine ganze Aufmerksamkeit schenkte, während sie weiterliefen.
„Weißt du, warum die Ameisen kleine Blattstückchen tragen?“
„Na, warum wohl, Paps! Sie verstecken sich.“
„Ganz sicher nicht.“
„Dann fressen sie also die Blätter?“
„Sie fressen auch nicht die Blätter.“
„Dann bauen sie irgendwas daraus, oder?“
„Nein, tun sie auch nicht.“
„Ein Wettkampf also: Wer schafft die schwersten...“
„Peter, das ist auch nicht richtig! Sie züchten einen Pilz auf diesen Blättern, von dem ernähren sie sich.“
„Mensch, das wollte ich jetzt als nächstes sagen!“, schimpfte Peter empört, aber es war nur gespielte Empörung. Und gesagt hätte er es auch nicht.
„Wir sind jetzt ungefähr einen Kilometer gegangen. Und jetzt schau dir den Laubbaum dort drüben an. Würdest du all seine Blätter abzupfen, sie auf deine Reise mitnehmen und nach jedem Kilometer ein Blatt hinlegen, könntest du unserer Erde eine wunderschöne Kette basteln.“
„So viele Blätter hat dieser Baum?“
„Vielleicht sogar noch mehr, aber das wissen nur sehr wenige.“
„Und wer?“
„Der Wind zum Beispiel. Er weiß alles. Jeden Tag fährt er wie ein Kamm durch das Laub und zählt die Blätter. Und die Wolken wissen es auch. Sie lassen ihre Tropfen herunterfallen und wenn schließlich jeder Tropfen auf einem Blatt sitzt, wissen sie genau, wie viele Blätter der Baum hat.“
„Ich kann aber weder den Wind noch die Wolken fragen.“
„Aber du kannst ihnen zusehen und zuhören. Hast du das schon einmal gemacht?“
„Nein, das finde ich doof.“
„Weil du sie nicht verstehst, stimmt’s?“, meinte Erik verständnisvoll, machte dann plötzlich einen erschreckten Gesichtsausdruck und flüsterte: „Hörst du das auch?“
„Was meinst du? Papa, du machst mir Angst!“
„Der Baum raschelt mit seinen Blättern. Er flüstert dir etwas ins Ohr, hör’ mal genau hin!“
„Es hört sich lustig an, richtig fröhlich“, freute sich Peter und legte dabei seine offenen Handflächen hinter den Ohren an, als sei er schwerhörig und beide Hörgeräte zu Hause.
„Das wollte der Baum dir auch sagen: Ich bin froh, dass du die Dinge so gut verstehst, wenn du ihnen deine Aufmerksamkeit schenkst.“
Erik ging auf den Baum zu, breitete seine Arme aus und umarmte ihn so liebevoll, als hätte ihn der Baum soeben zum glücklichsten Menschen dieser Welt gemacht.
„Warum machst du das, Papa?“
„Ich verabschiede mich von diesem Baum.“
„Aber der Baum versteht dich doch gar nicht.“
„Bist du dir ganz sicher? Möchtest du spüren, wie sein Herz klopft? Dann komm und umarme ihn auch.“
Peter ging daraufhin auf den Baum zu, legte seine beiden Arme großzügig um ihn und spürte mit jedem weiteren Augenblick, wie gut dem Baum diese Umarmung tat. Je länger er ihn umarmte, desto stärker spürte er, wie gern der Baum sein Freund wäre. „Ich hab’ dich lieb, Baum. Ich verspreche dir, ich komme auch bald wieder.“ Etwas Trauriges lag in diesen Worten, die Peter aus sehr tiefer Zuneigung gesprochen hatte.
Nun bückte sich Erik, schaufelte in seine beiden Hände Erde und formte sie zu einem Kelch. „Hast du gewusst, dass sich in meinen Händen etwa eine Milliarde Lebewesen befinden?“
„Ist eine Milliarde viel?“
Mama kauft doch immer die kleinen Dosen mit Erbsen, wo du uns doch mal gefragt hast, was 400 ml bedeutet.“
„Ich weiß, welche du meinst! Hab’ aber vergessen, was ihr damals gesagt hattet. Ich weiß nur noch, dass du die Erbsen dann gezählt hast“, lachte Peter, er fand es nämlich schon damals wahnsinnig amüsant.
„Da siehst du es: Andere Papis genießen am Wochenende die Sonne im Schaukelstuhl oder basteln an ihrem Motorrad oder treffen sich mit Kumpels zum Kegeln, während dein Papa zu Hause sitzt und brav die Erbsen für seinen Sohnemann zählt. Es waren immerhin über tausend Erbsen in der Dose. Wenn ich jetzt jeden Tag tausend Dosen zählen würde, dann würde ich tausend Tage benötigen. Da hättest du inzwischen dreimal Geburtstag gehabt.“
„Und dann?“
„Dann könnte ich zu dir sagen: Peter, das sind eine Milliarde Erbsen. Und die Dosen werden dann wahrscheinlich alle in meinem Arbeitszimmer landen“, lachte Erik, der sich gerade Annas verärgertes Gesicht und die kleine Speisekammer, bis zum Rand mit Erbsendosen gefüllt, vorstellte.
*
„Dummes Kind! Was nützen dir eine Milliarde Erbsen, wenn du doch keinen einzigen Gedanken daran verschwendest, mich zu suchen?“ ES stampfte mit dem Fuß auf und rief voller Zorn: „Aaaah!“
*
„Was war das, Paps?“
„Was meinst du? Ich habe nichts gehört!“
„Es klang wie ein A.“
„Eine Krähe vielleicht“, stellte Erik kurzerhand fest, wippte dann leicht mit der Erde in den Händen, um das Objekt, auf das er nun verweisen wollte, auch optisch hervorzuheben: „Jetzt schau dir mal die Erde an.“
Peter begutachtete die Erde wie ein angehender Wissenschaftler, stocherte vorsichtig mit dem Zeigefinger darin herum und wurde in der Tat fündig: „Ein Regenwurm... Noch ein Regenwurm. Und so ein komisches Käferdings.“
„Das ist eine Assel. Und schau mal da hin: Das ist ein Tausendfüßler.“ Erik deutete mit der Nase auf einen Wurm mit zahllosen Füßchen, der ängstlich im Erdreich Schutz suchte.
„Igitt!“
„Das ist alles Natur.“
„Ja, aber das sind doch keine Milliarde Lebewesen.“
„Da gibt es ja auch noch Bakterien, Milben, Springschwänze, Wimperntierchen und anderes. Und vergiss nicht die Pilze! Das ist aber alles so klein, dass du sie nicht mehr zählen kannst. Weil du sie nämlich gar nicht mehr siehst. Dafür gibt es dann spezielle Apparate, mit denen sich diese kleinen Lebewesen gigantisch vergrößern lassen. Bloß weil du diese Lebewesen nicht sehen kannst, bedeutet das also nicht, dass sie nicht da sind.“
„Hhm.“
Erik schüttete die Erde schwungvoll auf den Boden, klatschte mehrmals in die Hände und rieb dann die Hände an den Hosenbeinen ab, um sich von der restlichen Erde loszusagen.
„Da wird Mama schimpfen, ich sehe ja jetzt schlimmer aus als du“, sagte er kopfschüttelnd, während er die großflächigen Schmutzflecke auf der Jeans begutachtete.
„Sag mal Peter, zertreten deine Schulfreunde eigentlich auch die Ameisen?“
„Schon“, antwortete Peter zögerlich.
„Du solltest besser