Marivan unter den Kastanienbäumen. H. Ezadi
Читать онлайн книгу.in wenigen Monaten einen Bruder oder eine Schwester dazubekommt.“
Aha“, sagte ich, „Jetzt weiß ich auch, Mama, warum du gestern, an einem Werktag, ein Freitagsessen gekocht hast.“ Dann kommt ja noch mehr Leben in unser Haus, dachte ich. Freudig machte ich mich auf den Weg zur Schule. Wie immer war ich einige Minuten zu spät dran, aber ich beeilte mich und war pünktlich.
In der Schule gab unser Lehrer, Herr Schkoki, uns die Aufgabe, zu Hause etwas zu basteln, um es am nächsten Tag mit zur Schule zu bringen. Pflichtbewusst ging ich nicht ins Kaffeehaus, sondern direkt nach Hause. Nach dem Mittagessen suchte ich im Schuppen nach einem Pappkarton, den ich dann zerlegte. Ich schnitt einzelne Teile aus der Pappe und bastelte ein Haus mit einem großen Hof vor dem Hauseingang. Das Dach geriet etwas schief und so konzentrierte ich mich besonders auf den Hof. Zunächst baute ich die Treppe, die von der Haustür zum Hof führte. Für den Innenhof baute ich aus der Pappe einen kleinen Teich, schnitt ein rundes weißes Stück Papier aus, das in den Teich hineinpasste und malte darauf in blauer Farbe das Wasser und kleine orangefarbene Fische, die an den Goldfisch erinnerten, der an Nouruz im Glas schwamm. Den Hof stattete ich mit kleinen Pappbäumchen in grüner Farbe aus, dazu kamen einige kleine Büsche mit roten Tupfen, damit es aussah, als wären es Blüten. Das Haus bekam einen cremefarbenen Anstrich und auf die Hauswände malte ich Fenster. In einer Ecke des Hofes legte ich ein Stück Papier aus und malte Hühner und den Truthahn darauf. Als ich fast mit meiner Arbeit fertig war, kam meine Mutter in den Hof und ich begrüßte sie: „Hallo Mama, schau dir mein Haus an.“
„Oh, wie schön du das gemacht hast!“, lobte sie mich. „Du wirst bestimmt einmal ein Bauingenieur oder ein guter Architekt.“ Sie rief meinen Vater aus dem Haus und sagte: „Schau dir an, was unser Sohn gebastelt hat.“
Mein Vater kam heraus und sah sich mit Freude das Haus an, gab mir einen Kuss auf die Wange und stellte fest: „Du wirst dir bestimmt eines Tages ein echtes Haus bauen. Dieses ist sehr schön, das hast du gut gemacht.“
Das Lob meiner Eltern machte mich stolz. Vorsichtig trug ich meine Bastelarbeit ins Haus, denn es wurde draußen kalt. Die Winterzeit hatte bereits begonnen.
Am nächsten Morgen war ich voller innerer Freude. Eilig trank ich eine Tasse Tee und biss mein Brot an, um es auf dem Weg zur Schule aufzuessen. Auf dem Rücken trug ich meinen Schulranzen und in der freien Hand hielt ich voller Stolz mein gebasteltes Haus. Als ich unsere kleine Gasse zur Straße verließ, traf ich Säran, die große Schwester von Majad, die ebenfalls auf dem Weg zur Schule war. Mit ihren großen, schönen Augen schaute sie erst mich an, dann staunte sie über mein Haus. Aber sie warf auch einen Blick auf meine Plastikschuhe. Ich hatte versäumt, darunter Socken anzuziehen. Durch das Eis und die Kälte war die Haut oberhalb der Schuhe aufgerissen und etwas blutig. Ich schämte mich, aber in unserer Familie gab es für uns Kinder im Sommer wie im Winter die gleichen Schuhe, Plastikschuhe, weil meine Eltern es sich nicht leisten konnten, uns Lederschuhe zu kaufen, wie sie die Beamtenkinder trugen. Die trugen im Winter sogar warme Stiefel.
Mein Herz klopfte und mein Körper vibrierte vor lauter Aufregung. Das war heute Morgen alles zu viel – dieses heiße Gefühl in meinem Kopf und in meinem Körper. Wir setzten unseren Weg fort, vorbei an den Cafés und den Menschen, die morgens schon unter der Überdachung saßen und Kaffee tranken. Bildete ich es mir nur ein oder schauten sie tatsächlich auf das, was ich in der Hand trug? Manche riefen: „Hallo Junge, was hast du in deiner Hand? Das sieht ja wunderschön aus.“
„Heute wirst du bestimmt die beste Note in der Schule bekommen.“ Der Lebensmittelhändler, bei dem meine Mutter oft einkaufte, hielt mich an und fragte: „Junge, das hast du wirklich selbst gemacht?“
„Ja, natürlich!“, antwortete ich verlegen.“
Auf dem Schulhof kamen meine Mitschüler angelaufen und fragten: „Was hast du da mitgebracht? Das ist ja wunderschön! Wie hast du das alles gemacht? Es sieht aus wie ein kleines Kunstwerk. Du wirst uns heute alle abhängen und der Beste sein.“
Als die erste Stunde begann, schaute sich Herr Schkoki jede Bastelarbeiten in Ruhe an. Als er mein Werk betrachtete, sagte er: „Oh, das Haus ist ja wirklich sehr schön! Später, wenn du erwachsen bist, wirst du bestimmt ein Bauingenieur für unser zukünftig freies Land werden. Die Schüler klatschten und unser Lehrer verkündete, dass ich heute der Beste sei und die Note 20 verdient hätte.
Mir wurde gleichzeitig heiß und eiskalt. Unter dem Tisch fühlten sich meine Füße in den kalten Plastikschuhen sehr unangenehm an, aber mein Herz war warm vor Freude. Mir war nicht klar, warum mein Körper bebte. War es wegen meines selbst gebauten Hauses oder waren es die schönen Augen von Säran? Dann bildete ich mir plötzlich eine Geschichte zu dem Haus ein, ohne dem Lehrer weiter zuzuhören. Säran war in meinem Haus, rannte die Treppe herunter in den Hof, fiel in meinen Teich und schrie, denn sie konnte nicht schwimmen. Wie ein Held sprang ich in hinterher, um sie vor dem Ertrinken zu retten. Ich rief: „Säran, hab keine Angst, gleich sind wir draußen. Gleich haben wir es geschafft.“ Ich brachte sie in ein Zimmer meines Hauses, wo sie die nasse Kleidung wechseln konnte. Sie zitterte und fror. Ich wollte die Heizung anmachen und bemerkte, dass ich vergessen hatte, eine einzubauen. Die Stimme von Herrn Schkoki riss mich aus meinen Träumen: „Hussein, ich habe dich etwas gefragt. Wieso gibst du keine Antwort?“ Schade, mein Tagtraum hatte ein jähes Ende gefunden.
Nach Schulschluss ging ich nach Hause und sah meine Mutter sehr besorgt. Mein Bruder Nasser war nicht in der Schule gewesen. Er hatte gestern keine Hausaufgaben gemacht und sich am Morgen nicht in die Schule getraut. Er hatte so getan, als würde er sich auf den Weg machen, sich dann aber den ganzen Vormittag draußen im Schnee herumgetrieben. Dabei hatte er sich eine schlimme Erkältung geholt und war fiebrig. Meine Freude über die beste Note war schnell vergessen. Mein Bruder faselte dauernd vor sich hin. „Ich habe Angst! Gestern hatte mein Schulkamerad keine Hausaufgaben gemacht. Der Lehrer hat vier Bleistifte zwischen seine Finger gesteckt und als Strafe die Hand zusammengepresst. Das hat ihm sehr wehgetan.“ Würde man es selbst ausprobieren, wüsste man, dass das einer Art Folter glich, bei der die Fingerknochen brechen konnten. Mein Bruder musste fürchterliche Angst gehabt haben, dass ihm das Gleiche bevorstand. Laut rief er: „Wo ist er jetzt?“ Er war völlig wirr. Ich nahm seine Hand und sah, dass seine Stirn glühte. Er wimmerte: „Der Lehrer … Hausaufgaben … Katzen … Kuchen …“ – alles wild durcheinander.
Meine Mutter eilte mit einer Schüssel Salzwasser und einem Tuch an sein Bett und wischte seine Füße ab. Dann tupfte sie den Schweiß von seinem Gesicht und legte das kalte Tuch auf seine Stirn, um das Fieber zu senken. Sie flüsterte: „Ach Nasser, warum hast du dich im Schnee versteckt? Und dann auch noch ohne warme Jacke!“
Ich schaute meine Mutter an und sagte: „Nasser hat keine warme Jacke.“
„Ja, ich weiß“, sagte sie, „aber ich habe kein Geld, euch allen warme Jacken zu kaufen. Euer Vater ist so geizig, es reicht gerade einmal für unser Essen. Wenn ich deine Tante sehe und ihre Familie mit unserer vergleiche, wird mir schwindelig. Ihr Mann verdient weniger Geld als euer Vater, aber die leben viel besser. Ich weiß nicht mehr, wie ich das eurem geisteskranken Vater beibringen soll.“
Heimlich ging meine Mutter zur Tante und lieh sich Geld aus, damit sie Nasser zum Arzt bringen konnte. Fast einen Monat lag mein Bruder krank in seinem Bett und meine Mutter weinte und pflegte ihn täglich mit allen verfügbaren Hausmitteln. Das Fieber sank nur langsam. Nasser hatte große Angst, weil er ja nun keine Hausaufgaben machen konnte. Er hatte Angst, dass der Lehrer, wenn er wieder gesund war, auch seine Hände als Strafe mit Bleistiften zusammenpressen würde.
Unser kleinster Bruder, Mansor, trat zu Nasser ans Bett und tröstete ihn. „Mach dir keine Sorgen wegen der Hausaufgaben. Ich helfe dir und mache sie für dich. Aber dafür gibst du mir dein Taschengeld. Nasser nickte und antwortete: „Gut, okay, du bekommst mein Taschengeld.“
Ich dachte an all das Lob und die beste Note 20, die ich für mein gebasteltes Haus bekommen hatte, aber ich schwieg. Ich wollte meinen Bruder damit nicht verletzen. Wenn er wieder gesund war, würde ich ihm nachmittags auch etwas helfen, damit er keine Angst zu haben brauchte, wenn er wieder in die Schule kam.
Jewad kam zu mir nach Hause