Marivan unter den Kastanienbäumen. H. Ezadi
Читать онлайн книгу.Koffer. Am Tag der Abreise trafen wir uns um 8.00 Uhr auf dem Schulhof. Dort bemerkte ich, dass die nervige Nasrin auch mitkam. Sofort war sie bei mir und sagte: „Ich freue mich, dass wir zusammen fahren.“ Ich bekam schlechte Laune, gab ihr eine kurz angebundene Antwort und schaute, ob das Mädchen, das zwei Reihen vor mir im Klassenzimmer saß, auch mitreiste. Ja, da wurde sie gerade von ihren Eltern mit dem Auto gebracht. Ich war erleichtert. Als alle Schüler in den Bus gestiegen waren, winkten wir unseren Eltern zum Abschied.
Die Fahrt begann. Es war ein schöner Tag mit viel Sonne und blauem Himmel. Ich saß am Fenster und betrachtete die Landschaft. Wir fuhren durch Dörfer, in denen Menschen auf der Straße liefen und ihre Einkäufe erledigten. Auf den Feldern gingen die Bauern ihrer Arbeit nach und wir konnten im Vorbeifahren die Tiere auf der Weide beobachten. Nach zweieinhalb Stunden erreichten wir Sanandaj, die Provinzhauptstadt von Kurdistan. So eine große Stadt mit so vielen Autos hatte ich noch nie gesehen. Ich dachte: Was für eine große Stadt im Vergleich zu Marivan!
In Sanandaj trafen noch viele andere Bussen ein. Sie kamen aus allen möglichen Städten Kurdistans. Wir trafen dort Schüler, die anders waren als wir. Auf der einen Seite waren sie frech, auf der anderen aber auch sehr schick. Sie gaben sich selbstbewusst und die Mädchen waren irgendwie freier als unsere Mädchen. Sie trugen Make-up, ihre Augen waren geschminkt und die Lippen rot. Ich bewunderte unsere Mädchen, denn sie versuchten sich vor den anderen zu verstecken, weil sie sich armselig fühlten. Zu der Gruppe der uns fremden Schüler gehörten einige Musiker mit verschiedenen Instrumenten. Wir hatten keine Chance, mit denen konnten wir nicht mithalten.
Die Stimme eines der Lehrer erklang durch einen Lautsprecher. „Wir fahren alle zusammen mit vier großen Bussen weiter. Die Fahrt geht über mehrere Hundert Kilometer, aber wir machen alle paar Stunden eine Pause. Zuerst fahren wir nach Mashhad zu dem Grab von Imam Reza und beten. Von dort aus geht es weiter zu dem Camp in Nischapur.“ Auf allen vier Bussen klebte ein Plakat mit der Aufschrift „Schulkarawane aus Kurdistan“. So fuhren wir über die Autobahnen zu unserem Ziel.
Unterwegs spielten Sanandajs Schüler Musik, zu der wir alle sangen. Später hielten wir an einer Raststätte und machten eine halbe Stunde Pause. Die Lehrer hatten inzwischen Essen und Getränke an uns verteilt. Jeder bekam eine kleine Tüte mit einem belegten Brötchen und einer Dose Cola. Als ich genüsslich in mein Brötchen biss, kam Nasrin zu mir und sagte: „Ich muss mit dir reden.“ Sie sprach gleich weiter: „Hast du gesehen, dass die Pishahang von Sanandaj alle miteinander befreundet sind? Die Jungs haben alle eine Freundin und die Paare gehen Hand in Hand. Wir beide müssen auf dieser Reise zusammenhalten und du passt bitte auf mich auf.“
Ich erwiderte: „Warum soll ich auf dich aufpassen? Warum kommst du ausgerechnet zu mir? Soll sich doch ein anderer um ich kümmern.“
Nasrin bettelte weiter: „Ich freue mich, bei Imam Reza zu beten. Es war schon immer mein Traum, ihm meine Wünsche zu sagen, damit sie in Erfüllung gehen. Aber ich habe Angst, dass mir etwas passiert. Ich habe ein schwaches Herz und gerate in Menschenansammlungen leicht in Panik. Wenn ich umfalle und bewusstlos werde, wer soll mir dann helfen?“
Ich lenkte ein. „Gut, ich passe auf dich auf, hab keine Angst.“
Sofort erklärte sie mir: „Wenn ich umfalle, musst du mich von Mund zu Mund beatmen.“
Ich fragte mich, was Nasrin plante. Während ich grübelte, sah ich ein Sanandaj-Mädchen am Rand der Autobahn stehen. Sie hatte sich von der Schülergruppe gelöst, war dorthin gelaufen, hatte ihre Bluse hochgezogen und zeigte sich so den vorbeifahrenden Autofahrern, die begeistert waren und große Augen machten. Alle Schüler lachten und klatschten, weil die Autofahrer sich nicht mehr auf das Fahren konzentrierten. Und so kam es, wie es kommen musste: Einige Autos fuhren ineinander und es gab einen Unfall.
Die Lehrer reagierten schnell, holten das Mädchen zurück und schimpften mit ihr.
Unter uns Schülern löste das Ereignis eine große Diskussion aus. Wir waren der Meinung, dass dieses Verhalten für uns Kurden eine Schande war. Was sollen die Menschen nur von uns denken? Die Busse waren ja plakatiert. Andere meinten, wir hätten die Perser verarscht und den Unfall verursacht. Das zeigte wieder einmal: Wir waren Kurden, die waren Perser, und wir waren nicht das gleiche Volk. Dieses Beispiel verdeutlichte den Unterschied in unserem Land, den Unterschied zwischen Reich und Arm (Machthaber und Besatzungsland). Wir Schüler fragten uns ständig: Warum war es hier anders? Hier war es viel schöner als bei uns. Seit der letzten Stadt, die wir in Kurdistan passiert hatten, war alles anders. Hier gab es gut ausgebaute Autobahnen mit besseren Straßenschildern, hübsche Gebäude und im Vorbeifahren sahen wir überwiegend neue Autos. Bei uns in Kurdistan wurden meist alte Autos gefahren und Autobahnen gab es nur wenige. Was die Kultur betraf, so waren wir jedoch etwas freier als die Perser, nicht so abergläubisch. Das öffnete mir die Augen und in meinem Gedanken ging es mir um Gerechtigkeit, wie bei Hajeje Uhlhassan, der Analphabet war und nicht persisch sprechen konnte, weil das nur in der Schule gelehrt wurde, die er aber nie besucht hatte. Wie ungerecht war das für ihn!
Ich war tief in Gedanken versunken, als der Reiseführer uns darüber informierte, dass wir gleich das heilige Grab von Imam Reza erreichen würden. „Wir bleiben eine Stunde. Seid bitte pünktlich wieder hier. Danach reisen wir zu unserem Camp.“
Wir stiegen aus den Bussen und gingen zum Haram Imam Reza. Das Dach des Hauses war eine riesengroße, goldene Kuppel, es war eine gigantische Residenz! So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ein riesiger Palast in Gold gehüllt. In der großen Halle war das Grab vom Imam. Es war von goldenen Gittern umrahmt. Da waren Tausende Gläubige, die ihre Gebet oder Wünsche vor sich hin murmelten. Ich war verwundert, dass so viele Menschen den Imam kannten und um ihn weinten, obwohl er doch bereits vor mehreren Jahrtausenden ermordet worden war. Ich beobachtete die Gläubigen. Eine Frau hatte etwas hinter das Goldgitter geworfen. Das machte mich neugierig und ich traute meinen Augen nicht, als ich näher hinsah. Da lagen zahlreiche große Geldscheine, goldene Ringe, Goldketten. Ich überlegte. Davon ließen sich in Kurdistan Krankenhäuser und Schulen bauen oder man könnte mit diesem Geld Dörfer mit Strom und fließendem Wasser versorgen. Aber ich war nur ein Kind und hatte keine Ahnung.
Meine Gedanken wurden von Nasrin gestört, die mich laut rief. Nein, sie schrie! Sie schrie tatsächlich um Hilfe. Ein großer Mann hatte Nasrin an das Goldgitter gepresst und wollte sich von hinten an sie drücken. Alle, die rundherum beteten, hoben die Hände nach oben und drängten in einer Masse zusammen. Mit meiner Faust schlug ich auf den großen Mann ein, schrie und schimpfte: „Was machen Sie mit meiner Schwester?“
Der Mann fragte: „Sie ist deine Schwester? Dann ist sie auch meine Schwester.“
Als Nasrin ohnmächtig auf den Boden sank, ließ der Mann endlich von ihr ab. Ich bekam Angst und wusste nicht, was ich tun sollte. Hektisch fragte ich eine alte Frau: „Können Sie helfen!“ Sie schaute mich an und schüttelte den Kopf. Dann gab sie Nasrin etwas zu trinken aus ihrer Wasserflasche und spritzte ein paar Tropfen Wasser über ihr Gesicht. Nasrin kam zu sich, rappelte sich auf und schaute mich verwirrt an. Nach all diesen Eindrücken und Erlebnissen würde mir der Ort Mashhad in Erinnerung bleiben.
Später erzählte ich in Marivan Jewad von diesem Ereignis. Er lachte mich aus. „Hussein, du bist ein Dummkopf, warum hast du sie nicht beatmet.“ Sie wollte doch nur, dass du sie küsst!“ Aber ich dachte nur an das Mädchen zwei Reihen vor mir.
Die Busfahrt ging weiter und wir fuhren als kurdische Karawane unserem nächsten Ziel entgegen, dem Camp. Die anderen drei Busse waren hinter uns. Es war so schön, im Vorbeifahren die Landschaft zu betrachten. Alles in dieser Umgebung war in ein faszinierendes Grün gehüllt, so als hätte Gott mit der Natur ein Geschenk vollbracht. Die vielen Obstbäume und die gepflegten Felder waren traumhaft. In dieser Gegend gab es auch im Sommer Regen. Dadurch war es immer feucht, sodass die Landwirtschaft erblühen konnte. Die Straßen sahen aus wie Alleen, denn sie waren von hohen Bäumen gesäumt. Ein leiser Wind wehte durch die halb offenen Fenster in unseren Bus und verstärkte das aufkommende Gefühl von Ferien. Wir waren neugierig und gleichzeitig gespannt, welche Abenteuer uns im Camp erwarten würden.
Endlich erreichten wir das Camp. Man zeigte uns die Plätze, die für uns vorgesehen waren. „Richtet euch in euren Unterkünften