Zwei Freunde. Liselotte Welskopf-Henrich

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Zwei Freunde - Liselotte Welskopf-Henrich


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umstreicheln. Die winterharten Nadeln der Kiefern sahen grau und überlebt aus. Die Krähen krächzten und entfalteten das schwarze Gefieder; sie waren noch hungrig. Am Ufersteg schaukelte ein Kahn, den der Winter leck gemacht hatte. Wasser stand darin, und die Farben waren ausgelaugt.

      Es lag eine gewisse Ruhe über dem Land nach dem Ausgang des harten Winters. Was dem Frost erlegen war, war nun tot. Aber neben dürren Halmen kroch ein grünes Blatt hervor, es schwoll von Leben und Saft auf, als habe es den Tau im Winde gerochen, und reckte sich. Was kümmert es dich, du an den Boden Gebundenes, daß der Himmel so fern ist? Du lebst, und seine Sonne gehört auch dir.

      Die Gelenke und Muskeln des Mannes waren beweglich und kräftig, und er lief, ohne zu ermüden. Das Gefühl der Bewegung war es, was er suchte, die Rastlosigkeit des Weiterschreitens und des Hintersich-Zurücklassens, deren Anstrengung genügte, um Herz und Hirn in ihren Bann zu nehmen. Als die Stunde vorrückte und der Wanderer sich einer neuen Bucht näherte, hoben sich die Mittagsnebel von den Ufern. Eine Flut von Silber ergoß sich aus der Himmelshöhe über die Wasser. Dunkle Waldrücken säumten und hegten den See.

      Der Wind war eingeschlafen. Die Stille der Landschaft, die Reglosigkeit der Wasser, die Trauer der dunkelgrünen Nadelbäume hatten etwas Leeres, den Willen Aufsaugendes an sich.

      Oskar Wichmann freute sich über den beginnenden Hunger, der ihn das Wirkliche und Bedürftige seines Daseins empfinden ließ. Er hatte kein Stück Brot bei sich, und der Wald und das Wasser dehnten sich weit. Sein Verstand begann zu arbeiten wie der eines nahrungsuchenden Tieres und sah sich selbst bei dieser Tätigkeit zu. Die Schritte hielten unwillkürlich an, das Auge prüfte Richtungen, und die Einbildungskraft kehrte aus der empfindsamen Hingabe an die Natur um zu dem Aufspüren der Wahrscheinlichkeit menschlicher Niederlassungen. Die unfruchtbaren Waldufer gaben kein Zeichen davon, aber die flachen Buchten in der Ferne ließen die Flecken roter Ziegeldächer erkennen. Der Richtungsweiser war gefunden.

      Die Sonnenstrahlen strichen schon flach über die Erde, als Oskar Wichmann in das einstöckige Gasthaus eintrat und Malzkaffee, Brot, Butter und Wurst erhielt. Der geheizte Raum war nicht hell, die Fenster waren klein. Einfache Stühle und Tische mit blauen Decken, billige Fabrikware, möblierten die Gaststube. In der Ecke saßen zwei einheimische Männer, Landwirte oder Handwerker, sie tranken Bier und rauchten. Oskar Wichmann aß Brot und Schinkenwurst in großen Bissen. Mit Willen ließ er seine Gedanken im Realen spielen und mußte lächeln bei der Vorstellung, was die beiden Männer in der Honoratiorenecke wohl dazu gesagt hätten, daß ein Doktor der Rechte sein Erbteil von zwanzigtausend Mark einer schönen Dame gegen einfachen Schuldschein ohne Zins und ohne Rückzahlungstermin ausleihen wollte. Wahrscheinlich hätte sich ihre Überzeugung von der Minderwertigkeit einer solchen Handlungsweise nicht ändern lassen, auch wenn sie von dem Reichtum, der Beamteneigenschaft und unantastbaren persönlichen Ehrenhaftigkeit des Gatten dieser Dame erfahren hätten. Oskar Wichmann wurde sich klar, daß er vorläufig sparen mußte; die Zinsen der ausgeliehenen Summe würden ihm fehlen. Doch das Regierungsratsgehalt, das ihm in Aussicht stand, konnte davon manches ausgleichen. Sein Entschluß brauchte im übrigen nicht endgültig zu sein, wenn er nicht wollte. Er konnte die Überweisung immer noch unterlassen und den Schuldschein zerrissen zurückschicken. Eben diese Freiheit aber, die ihm blieb, bestärkte ihn in seinem Vorsatz. Auch Marion hatte nicht geschäftlich gehandelt, als sie unterschrieb, erhalten zu haben, was sie noch gar nicht besaß.

      Oskar Wichmann wurde immer mehr zumute wie einem Menschen, der eine steile Höhe gewonnen hat und sich mit nachlassender Muskelspannung auf den Boden wirft, um das Erreichte zu genießen, die verlassene Tiefe zu überschauen – und nicht an das Kommende zu denken. Eine ungeheure Spannung hatte ihn verlassen, er fühlte sich locker und befriedigt; es war etwas von ihm abgefallen; er spürte die Befreiung. Das Hoffnungslose seiner Sehnsucht war getilgt, seine drängende Phantasie löste sich in einer Tat, wenn auch in einer überraschenden und sehr andersartigen, als er geträumt hatte. Marion hatte ein Geheimnis mit ihm. Auf diese Weise hatte sie sich ihm gegeben, sie war nicht mehr das vollständig Unerreichbare. Sein finanzielles Risiko dabei belastete den jungen Mann wenig. Er fühlte sich gesund, begabt und arbeitsfähig; sein Vorwärtskommen schien gesichert, und seine Ansprüche an Wohlleben waren nicht übermäßig. Er konnte verzichten, ohne sich zu kränken. In seinem Vaterhause war von Geld nie gesprochen worden, die materielle Seite des Daseins beschäftigte dieses Haus einer durch das Vermögen der Vorfahren gesicherten, pensionsberechtigten, ganz auf die geistige Leistung gerichteten Existenz kaum. Der studierende Oskar Wichmann hatte zudem zwischen ehemaligen Kriegsteilnehmern und verarmten Rentnersöhnen gelernt, daß Armut keine Schande sei. Mochten zwanzigtausend Reichsmark vorläufig dazu dienen, einem eleganten und unwürdigen Offizier das Leben zu verlängern, weil seine Schwester geliebt wurde. Wichmann gestand vor sich selbst nicht im geringsten ein, daß die Sicherheit, die in dem Namen Grevenhagen lag, für seinen scheinbar unbekümmerten Entschluß eine unterirdische Rolle spielte.

      Er bestellte sich noch ein Viertel Wurst und ein dunkles Bier und gab seiner Zunge und seinem Magen damit, was sie im Augenblick begehrten. Wichmann wollte nicht in seinen eigenen Fußstapfen zurücklaufen. Der Wirt erklärte einen anderen Weg zur Bahn, der allerdings auch weit und zeitraubend war, aber doch neue Eindrücke versprach.

      Oskar Wichmann brach auf, setzte seine Beine in Marsch und beobachtete mit Ernst die Kilometersteine, das Schwinden der Sonne und das Laufen des Uhrzeigers. Als er auf der schlecht gepflasterten Landstraße zwischen kahlen Obstbäumen und aufgepflügten Feldern die Station erreichte, brauste der Zog mit der altertümlichen Lokomotive heran und nahm ihn in einem der kleinen Abteile mit. Es roch darin nach kaltem Rauch.

      Die Laternen brannten schon, als der Ausflügler heimkehrte. Die Straße, seine Wohnung waren verwandelt, ein Zauberduft war verflogen. Alles stand nackend da in seiner Wirklichkeit.

      Martha war ausgegangen. Die Geheimrätin klopfte und fragte liebenswürdig nach späten Wünschen ihres Mieters. Er half in der Küche und trug sich Tee und Ei auf den Tisch, den die kleinen dicken Finger seiner Betreuerin gedeckt hatten.

      Frau von Sydow ließ sich in dem Klubsessel nieder, während der Assessor trank und aß.

      »Wir haben noch gar nicht davon gesprochen … Ich danke Ihnen vielmals für die Übermittlung des Briefes! Er hat eine alte Photographie enthalten, die zu besitzen schon lange mein Wunsch war. Meine Verwandten hatten mir das Bild versprochen, und die Sache wurde doch immer wieder vergessen. Hat Frau Grevenhagen Ihnen erzählt, wieso bei ihrem Besuch gerade auf mich und auf diese Bilder die Rede kam?«

      »Ich erinnere mich nicht, daß sie darüber etwas sagte.«

      »Sehr, sehr schade, daß ich nicht zu Hause war. Es ist wirklich ungemein gefällig von Frau Grevenhagen gewesen, die Sache persönlich zu übermitteln, obgleich unser Verkehr nach dem Tode meines Mannes ganz eingeschlafen war. Ich werde mich natürlich noch bedanken. Welchen Eindruck macht Ihnen Frau Grevenhagen denn nun?«

      »Eine vornehme Dame. Ich finde nichts Auffälliges an ihr.«

      »So … so. Ja, ich freue mich, die Verbindung mit dieser Familie wieder aufzunehmen. Sie hatten also gesagt, daß Sie hier wohnen?«

      »Das hatte ich wohl einmal erwähnt.«

      »Daran taten Sie recht. Schmeckt es Ihnen? Sind Sie denn satt?«

      »Danke, vollständig.«

      Wichmann half, das Geschirr hinaustragen.

      Als er wieder allein unter seiner grünen Stehlampe saß, zog er die Brieftasche hervor und holte die Papiere aus dem sonst nicht benutzten Fach ans Licht. Er studierte die zitternde Schrift auf dem Schuldschein und legte das Notizblatt mit den Bleistiftzügen »Boston nach der Pause. M. G.« daneben.

      Lange saß er davor.

      Glich sich nun die Schrift, oder glich sie sich nicht? Bei dem flüchtigen Gedächtnisvergleich, der ihn an jenem Morgen nach dem Ball auf Grund der Briefadresse möglich geworden war, hatte er keinen Zweifel mehr gehabt, daß der Zettel von Marions Hand beschrieben war. Jetzt fiel ihm auf, daß vieles zwischen den beiden Schriftproben nicht übereinstimmte. Einzelheiten, die Richtung der Buchstaben, aber auch der ganze Zug, waren für das genau prüfende Auge nicht gleich.


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