Der Lucas ist los!. Jeff Lucas

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Der Lucas ist los! - Jeff Lucas


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Fernseher anschrie, als ich mir den grausigen Katalog seiner Verbrechen anhörte. Rader ist zweifelsohne ein widerwärtiger Zeitgenosse, und ich habe keine Ahnung, wie ich reagieren würde, wenn er das Leben meines Sohnes oder meiner Tochter ausgelöscht hätte. Ich fürchte, ich wäre vielleicht auch einer von denen, die lautstark fordern würden, ihn zu rösten. Keiner von uns weiß, wie wir reagieren werden, wenn wir auf die Probe gestellt werden, und wir alle sollten innig darum beten, dieser Art von Prüfung niemals unterzogen zu werden.

      Doch eine Tragödie zieht die andere nach sich. Und dem heutigen Ereignis fehlte jeder Schimmer von Hoffnung, weil nicht einer dieser bekennenden Nachfolger Christi – weder der Täter noch die Opfer – die Gnade fand, auch nur ansatzweise nach Vergebung zu suchen oder sie zu gewähren. Der Gerechtigkeit muss Genüge getan werden, und Rader darf nie wieder das Licht des Tages unter freien Menschen sehen. Doch gestern wühlten der Verurteilte ebenso wie diejenigen, die ihn verurteilten, im selben traurigen Sündenpfuhl herum. Und beide Seiten gebrauchten, wie es schon unzählige Male in der Geschichte geschah, die Bibel als ungeschickt geschwungenes Schwert und trafen damit nicht nur die Anwesenden im Gerichtssaal, sondern auch jeden, der sich den Prozess im Fernsehen anschaute. Die Bibel ist in den falschen Händen eine gefährliche Waffe.

      Unwillkürlich fragte ich mich, ob die Familien der Opfer sich dadurch selbst nicht auch zu lebenslangen Strafen hinter den unsichtbaren und dennoch eisernen Gittern der Verbitterung verurteilten. Wut ist kein lasergezieltes Geschoss – sie explodiert in unserem eigenen Gesicht. Der Erste, dem die Vergebung nützt, ist der Vergebende; sie ist nicht nur ein Akt verblüffender Großzügigkeit gegenüber anderen, sondern auch eine clevere Strategie der Selbsterhaltung. Vergebung ist buchstäblich die Gabe, die immer weiter gibt, und zwar am meisten dem, der sie gibt.

      Und so fühle ich mich zutiefst herausgefordert, nicht nur, was meine Fähigkeit zur Vergebung gegenüber anderen betrifft, sondern auch was die Art angeht, wie ich die Heilige Schrift gebrauche. Die Wahrheit tut manchmal weh, aber tue ich nicht hin und wieder auch durch die Art, wie ich sie sage, anderen weh? Schon viel zu viele Christen haben sich gegenseitig im Namen Christi in Stücke gehauen. Manchmal sind wir so erpicht darauf, die scharfe Schneide der Schrift zu gebrauchen, dass wir ganz vergessen, dass Wahrheit ohne Liebe überhaupt keine Wahrheit ist.

      Und die Hölle, was immer das ist, wird nicht zufrieren. Doch der Himmel steht immer noch gebannt da und wartet voller Hoffnung auf die Verwundeten, die sich mühsam weiterschleppen und, zwar blutend, aber ohne die Bibel als Hiebwaffe zu missbrauchen, mit der Vergebung den Anfang machen.

      WILLKOMMEN

      Kürzlich verlegten wir unseren Wohnort in England in ein kleines Dorf, das sich in die herrlichen grünen Hügel der South Downs schmiegt. Manchmal fühlt es sich an, als wären wir geradewegs in einen Agatha-Christie-Roman hineingeraten, so idyllisch und durch und durch britisch ist dieser Ort. Es gibt einen Pub, in dem himmlisches Essen serviert wird, ein Postamt, das nur selten geöffnet hat, und einen unbesetzten Hofladen: Man nimmt sich einfach, was man braucht, schreibt seinen Namen in ein Buch und legt das Geld in eine Schüssel. Das ist ein Unternehmen, das auf einem heutzutage selten gewordenen Gut basiert: Vertrauen. Es ist wunderbar. Und nur eine Meile vom South Downs Way entfernt, sodass ich meine Vier-Meilen-Quälerei-Runde laufen und dabei auf das Flickenmuster der herrlichen Landschaft zu meinen Füßen hinabblicken kann.

      Allerdings haben wir uns zuerst gefragt, ob wir wohl in diese Gemeinde hineinpassen. Manche der Leute in dieser Gegend gehören zu Familien, die seit über hundert Jahren hier ansässig sind. Was die wohl von „Zugezogenen“ halten mochten? Dazu kommt, dass die meisten Leute im Dorf mit einem volltönenden Akzent sprechen, bei dem ich als Mann aus Essex mir vorkomme wie Del Boy bei einem Gymkhana. Als ich mich neulich im Dorf mit einem sechzehnjährigen Jungen unterhielt, machte ich mich darauf gefasst, über Ich bin ein Star – holt mich hier raus, den neuesten Song von Eminem oder das Abschneiden von Arsenal beim Cup plaudern zu müssen. Da er wusste, dass ich neu im Ort war, fragte er mich, wieder einmal im besten Oxbridge-Akzent, ob ich die Arundel Cathedral schon von innen gesehen habe. Noch nicht, antwortete ich. „Oh, das müssen Sie unbedingt“, rief er. „Sie ist wirklich prachtvoll.“ Beschämt von diesem höchst kultivierten Heranwachsenden ergriff ich die Flucht.

      Aber uns erwartete ein herrlicher Schock, als wir schließlich einzogen. Eine unserer Nachbarinnen erschien mit einer Flasche Champagner und eröffnete uns dann, sie habe eine Willkommensparty für uns geplant. Ein paar Wochen später waren wir die Ehrengäste bei einer Fete mit den ausgesuchtesten Köstlichkeiten, bei der noch reichlich mehr Champagner floss. Es kamen etliche Leute, darunter der Pfarrer und seine Frau. Er ist ein freundlich lächelnder Mann, der mir ohne eine Spur von Frostigkeit erklärte, er und ich kämen „von den entgegengesetzten Enden der Kerze“. Nachdem ich zum Gottesdienst in der Kirche war, muss ich sagen, sie „High Church“ zu nennen ist ungefähr so, als würde man sagen, der Mount Everest sei „ziemlich hoch“. Dieser Bursche segnet alles, was sich bewegt, singt alle seine Gebete und spritzt mit Weihwasser um sich wie ein Baptist auf Duracell. Trotz unserer unterschiedlichen kirchlichen Prägung jedoch schätze ich seine Herzlichkeit und fühle mich von seiner offenkundigen Liebe zu Gott inspiriert und herausgefordert.

      Wir fragten unsere wunderbare Nachbarin, die die Party geschmissen hatte, warum sie so großzügig gewesen sei, und sie sagte, ihr sei einfach daran gelegen, dass wir uns willkommen fühlen. Es war ein wunderbarer Abend, der von meiner eigenen nervösen Ungeschicklichkeit nur leicht beeinträchtigt wurde. Alle Leute dort hatten so einen kultivierten Ton drauf. Nach etwa einer Stunde ertappte ich mich dabei, wie ich ihnen nacheiferte. Der Junge aus Ilford verschwand; statt seiner verwandelte ich mich in ’Enry ’Iggins aus Windsor; Eton sogar. Meine Aussprache des Wortes „house“ (normalerweise „ouse“) verwandelte sich wie durch ein Wunder in „hice“. Grauenhaft! Ich fürchtete schon, ich wäre dabei, mich in Prinz Charles zu verwandeln, und überprüfte nervös die Größe meiner Ohren.

      Die Freundlichkeit ist geblieben. Neulich gingen wir ins Dorfgemeinschaftshaus, um uns die Aufführung eines Kriminalstücks der hiesigen Amateurtheatergruppe anzuschauen. Als wir nervös den Saal betraten, hofften wir verzweifelt, ein paar bekannte Gesichter zu entdecken. Innerhalb weniger Sekunden kam der Farmer Ian (der Inhaber des „Auf-Ehre-und-Gewissen“-Hofladens) auf uns zugestürmt. Mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht schüttelte er uns herzlich die Hände. Offenkundig ehrlich entzückt, uns kennenzulernen, bestand Ian darauf, dass wir uns für den Abend zu ihm und seiner Frau gesellten. Er erzählte uns von pasteurisierter Milch, von dem rätselhaften Brand seiner Scheune und von seinen Plänen für die Zukunft und sorgte dafür, dass wir uns ganz wie zu Hause fühlten.

      Ein weiterer herzerwärmender, wenn auch etwas peinlicher Vorfall ereignete sich in einem anderen Pub am anderen Ende des Dorfes, gleich neben dem Bahnhof. Ich kam gerade aus London zurück, wo ich den Tag verbracht hatte, und versuchte vergeblich, den Wagen zu starten, den ich auf dem Bahnhofsparkplatz hatte stehen lassen. Die Batterie war leer. Also rief ich den Pannendienst an und erfuhr, jemand mit mechanischer Sachkenntnis würde innerhalb eines Monats oder so zur Stelle sein (okay, innerhalb von zwei Stunden). Also ließ ich mich in dem Pub nieder, um einen Happen zu essen. Prompt kamen zwei Männer aus dem Dorf mit ihren Biergläsern in der Hand zu mir herüber, um einen kleinen Plausch zu halten. Auf ihre Frage, wo ich wohnte, sagte ich ihnen, ich sei auch aus dem Dorf, und nannte ihnen den ungefähren Ort, wo wir unsere Wohnung haben.

      Das weckte ihr Interesse. „Wir haben gehört, dort ist ein Ehepaar eingezogen, die viel Zeit in Amerika verbringen. Er ist offenbar ein Schriftsteller und ziemlich bekannt auf seinem Gebiet. Man hört und sieht nicht viel von ihnen. Sind Sie denen schon begegnet?“

      Zu meinem Grausen wurde mir klar, dass ich der Typ war, von dem sie redeten. Ich verbringe viel Zeit in den USA. Und die Hälfte meiner Zeit bin ich heutzutage mit Schreiben beschäftigt. Und was die Bekanntheit angeht, so schätze ich schon, dass mein Name in britischen Gemeindekreisen relativ geläufig ist. Ich schluckte. „Ich glaube, das bin ich, von dem Sie da reden.“

      Die beiden liefen vor Verlegenheit rot an, und einem von ihnen entfuhr ein Fluch. Doch trotz dieses kleinen Fauxpas verbrachten wir eine nette, lustige Zeit zusammen in dem Pub. Zusammengerechnet hatten die beiden schon über hundert Jahre


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