Vogelgrippe. Tino Hemmann
Читать онлайн книгу.die Augen auf. Sie hatte derb an seine Schultern gegriffen – mit ihren alten, harten Fingern! Er riss sich aus ihrem Halt, sprang vom Bett und flüchtete in die dunkle Zimmerecke, in der er die Treppe vermutete, stürzte über einen Balken und wälzte sich auf dem Boden.
Die Alte erhob sich eilig, ging um das Bett herum, stand sofort zwischen Kevin und der Treppe. Sie hob die Funzel hoch und hielt sie vor das eigene Gesicht.
Kevin lag auf dem Lehmboden, spürte die Kälte im Rücken. »Geh weg! Verschwinde!«
»Du musst nicht mit mir reden. Du musst dich nicht von mir wärmen lassen. Du musst nicht essen, was ich dir bringe. Du musst nicht trinken, was ich dir gebe.« Sie drehte an einem Rädchen der Öllampe, der Raum versank in der Dunkelheit. »Du wirst schon sehen, was du davon hast!« Ihre Stimme kam aus dem Nichts.
Kevin glitt auf dem Boden rückwärts, hockte in der Ecke, die kalte Wand im Rücken, zitterte und weinte. Seine Füße schienen zu erfrieren.
Ein Knirschen war zu hören. Ein Krachen folgte.
Minuten waren vergangen. Der Junge wusste, dass die Alte verschwunden war. Auf allen Vieren kroch er zum Bett, stieß mit dem Kopf an den Hocker, auf dem die Alte gesessen hatte. Er hörte ein blechernes Geräusch. Während die eine Hand den Kopf rieb, fühlte die andere nach dem Hocker. Die Sitzfläche ließ sich hochklappen. Kevin kniete vor dem Hocker, hatte ihn aufgeklappt und fühlte unter der Sitzfläche eine Schüssel. Sie war leer. Der Junge kroch zurück in das Bett und tastete nach der Decke. Die Decke war verschwunden! Gemeinheit! Warum nur war die Frau so gemein?
Das Zittern nahm zu. Kevin rieb an Armen und Beinen, bis er dazu keine Kraft mehr hatte. Wärmer wurde ihm nicht. Erneut krümmte er sich zusammen. Das Bett bestand aus Eisengestell und Matratze.
»Ich bin nicht tot!«, schrie Kevin plötzlich. »Ich bin nicht tot!«
Dann weinte er bitterlich, bis er in einen Halbschlaf fiel. Kraftlos und frierend.
Glücklich lief Kevin die Straße entlang. Die Sonne hatte bereits den Horizont überwunden, wärmte den Rücken des Kindes. Er hatte Jockey gerettet! – Die meisten im Dorf würden sich nicht bei Kevin bedanken. Im Gegenteil. Jockey war nirgendwo gern gesehen. Ständig heulte er in den Nächten den Mond an oder kläffte am Tag Autos und Leuten hinterher.
Leise schlich der Junge ins Haus. Kein Vergleich zu Mattis riesiger Hütte. Kevins Eltern konnten sich solch ein Haus nicht leisten.
Wenn Kevin lautlos in das Kinderzimmer gelangen würde, das er sich mit drei Geschwistern teilen musste, dann könnte er so tun, als hätte er die ganze Nacht in seinem Bett gelegen. Barfüßig stahl er sich an der Küchentür vorbei.
»Kevin?«
Nichts da mit unauffällig. Mama saß mit dem Baby am Küchentisch.
»Guten Morgen, Mama«, flüsterte Kevin furchtsam und schob sich durch die Tür.
»Komm her, du Teufel!« Jetzt würde es eine schreckliche Moralpredigt setzen. Das Baby, in Mamas Armen, schlief. Sie zog Kevin an sich heran, griff nach seinem Hals und küsste ihm auf die Wange. »Alter Halunke.«
Dem Jungen fiel ein Stein vom Herzen. »Du bist mir nicht böse, Mama?«
»Ich habe gestern Abend mit Mattis Mutter telefoniert. Du hättest mir verraten können, dass ihr zelten wollt. Und ich freue mich, dass du gleich zurückgekommen bist, obwohl es noch so früh am Morgen ist. – Was ist, deckst du den Tisch?«
Kevin umarmte die Mutter, darauf bedacht, das Baby nicht zu wecken.
Mama. Kevin fühlte ihre Wärme. Sie hielt ihren Jungen fest an sich gedrückt, rieb dessen kalte Schultern.
Was war das nur für ein schrecklicher Traum? Und woher kam der beißende Geruch? Die braunen Augen des Kindes öffneten sich ein wenig.
Die Alte saß auf dem Bett und hielt Kevin fest umschlungen, Wange an Wange!
Kevin war nicht in der Lage, sich zu rühren. Er spürte die großen, weichen Brüste der Frau unter ihrem groben Kleid an seinem Körper, fühlte ihre Last. Sie stank so widerlich! »Lassen Sie mich sofort los!«, forderte der Junge. Seine Stimme klang heiser.
»Ich wusste, dass du zu mir kommst, wenn dir nur kalt genug ist.« Ihr fester Griff hielt den Jungen. »Du hast mich geküsst.« Ein hässliches Lachen ertönte.
Kevin durchfuhr ein Schaudern. »Ich dachte …«
»Was dachtest du?« Sie lachte noch immer. Sie wagte es zu lachen!
»Ich dachte … es wäre meine Mutti.«
Ganz plötzlich stieß die Alte Kevin von sich. »Undankbar bist du, Rotzbengel!«
Der Junge fiel rücklings auf das Bett, wäre auf der anderen Seite fast abgestürzt, konnte sich aber gerade noch halten.
»Ich habe dir meine Wärme gegeben. Und das ist nun der Dank! – Was hast du auf der Straße gemacht? – So früh am Morgen?«, wiederholte sie die Frage, die sie schon einmal gestellt hatte.
Kevin sah sich um. Vier Wände, der Boden, die Ölfunzel. Wo war der dunkle Schatten, der hinaufführte? Seine Beine waren weich, sie hielt ihn fest. »Wo bin ich? Warum machen Sie das mit mir? Warum sind Sie so gemein zu mir?«
»Wenn dir eine Frage gestellt wird, stell gefälligst keine Gegenfrage«, raunte die Alte.
»Wo bin ich? – Ich habe Ihnen nichts getan!«, flüsterte Kevin. Dann schrie er: »Hilfe! – Hilfe!« Doch er hörte nichts, als das krächzende Lachen der alten Frau.
Die ergriff Kevins T-Shirt und zog den Jungen mit einem Ruck an sich heran. »Antworte, los, sofort!« Gestank drang aus ihrem Mund.
»Ich wollte nach Hause, ich war bei Matti, wir haben im Garten gezeltet …«
»Warum so früh am Morgen?« Ihre hässlichen Augen wollten Kevin töten. »Kinder in deinem Alter schlafen lange.«
»Ich wollte nach Hause.« Wieder zitterte Kevin. »Wo bin ich?«
»Warum wolltest du so früh nach Hause?« Sie zog den Jungen an sich heran, er konnte ihren Blicken nicht ausweichen. »Warum so früh? – Sag die Wahrheit!« »Weil Mama …«
»Weil – was?«
»Ich durfte nicht über Nacht wegbleiben.«
»Aha! – Du warst allein auf der Straße, nicht wahr? – Weil alle anderen geschlafen haben. Deshalb bist du niemandem begegnet.«
Kevin liefen wieder Tränen über die Wangen. »Ja! Es war ganz früh am Morgen! – Wo bin ich?«
»Bist du jemandem begegnet?«, fragte sie fordernd.
Kevin sah der Alten in die Augen. Das, was bei anderen weiß war, hatte sich bei dieser Frau rotbraun gefärbt.
»Wenn Ihnen eine Frage gestellt wird, dürfen Sie keine Gegenfrage stellen«, entfuhr es Kevin. »Ich bin niemandem begegnet.«
Die Alte drehte das T-Shirt auf Kevins Brust mit ihrer Faust zusammen, dass dem Jungen die Luft wegblieb. Dann schlug sie Kevin mehrmals ins Gesicht. »So hast du dir den Himmel nicht vorgestellt. Nicht wahr, Junge?« Wieder stieß sie Kevin unsanft von sich. Dieses Mal konnte er sich nicht mehr halten, fiel auf der anderen Seite des Bettes herunter und schlug mit dem Kopf gegen den Schemel. Kevin lag weinend auf dem glatten, eisigen Boden. Es wurde dunkel.
Die Alte war verschwunden. Sein Kopf schmerzte. Die linke Wange glühte. Kevin griff sich ins Genick und spürte etwas Warmes. Blut!
»Tote bluten nicht«, flüsterten seine Lippen.
Den Himmel?
Bilder rasten durch Kevins Gehirn. Das rote Auto, der Schatten eines Mannes – ja, eines Mannes!, die kreischenden Bremsen. Räder? Waren es Räder, die ihn zerquetschten?
Er zog sich am Stuhl nach oben, fühlte mit der Hand nach dem Bett. – Da war sie wieder! Eine Decke! Es war eine Wolldecke,