Jakob. Stephan
Читать онлайн книгу.Aber woher seine Eltern das besorgt hatten und wie viel es wohl gekostet haben mochte, das blieb Jakob ein Rätsel. Später ging ihm auf: Vielleicht hatte auch die Westverwandtschaft Anteil daran? Im ersten Moment jedoch war seine Freude darüber riesig! Derart gewappnet konnte man loslegen.
Jakob war aufs Äußerste motiviert.
An diesem ersten Tag, als er sich mit den übrigen Lehrlingen auf dem Betriebsgelände einfand, schien die Sonne.
Jakob war wieder der Erste und bereit, seit dem frühen Morgen. Etwas später betraten dann auch die drei anderen Dachdeckerlehrlinge den Hof und man stellte sich gegenseitig vor. Es gab außer Jakob zwei Manuels und den Markus, der alle einen ganzen Kopf überragte. Ein Herr Schuster kam und begrüßte die vier jungen Männer, zeigte ihnen den Betriebshof, das riesige Lager, die Büros, sowie die Umkleide nebst Duschen und WC. Im Anschluss trabten sie alle in das winzige Büro, in dem sie von ihren zwei Lehrausbildern in Empfang genommen wurden.
Der Eine von ihnen hatte seinen Jungmeister gerade erst erfolgreich abgeschlossen, der Andere, kleine hingegen, war ein alter, schon gestandener Handwerksmeister. Beide stellten sich mit ihren Positionen nacheinander dar und Jakob lauschte interessiert. Dann folgte eine Belehrung für die Neulinge, wie man sich auf der Baustelle, und noch wichtiger, auf dem Dach zu verhalten hat. Anschließend wurden die Vier auf die einzelnen Brigaden aufgeteilt, der eine Manuel kam zur Rotschen-Brigade, der zweite und Markus wurden Meister Kurze zugeteilt. Jakob kam in die Bertholdsche Brigade. Zu guter Letzt ging der Altmeister mit den Vieren ins Lager, kleidete sie ein und versorgte jeden mit einem vollständigen Werkzeugsatz. Eben mit allem, was ein Dachdecker so braucht.
Jakob staunte nicht schlecht.
Auf einmal hatte er einiges doppelt.
Doch was machte es, das störte nicht. Seither konnte er sich das erste und bessere Werkzeug fürs Pfuschen und für den Notfall aufheben. Komplett ausgerüstet stiegen die Neuen mit Sack und Pack in den Barkas und der Altmeister fuhr jeden von ihnen zu der entsprechenden Brigade. Diesmal war Jakob als Letzter im Bus verblieben.
Warum?
Das sollte ihm bald klar werden. Der Altmeister hatte Jakob vorher beiseite genommen und dem Verdutzten erklärt, dass er als Meister vom obersten Chef in Kenntnis darüber gesetzt worden war, und nun also quasi genau Bescheid wüsste, um Jakobs Vater und dessen persönlich-freundschaftlichen Beziehungen zum Chef.
Daraufhin fuhr ihn der Altmeister bloß an: „Bilde dir ja nicht ein, Jakob, dass du hier Privilegien hast! Dich stecken wir zum strengsten Meister rein. Zum Schinder der Firma. Der duldet keinerlei Schlampereien und kein Zuspätkommen.“
‚Na bestens’, dachte Jakob. Klare Fronten. Doch die Pappmesser für die Dachpappe schliff der alte Berthold für Jakob höchst persönlich und schenkte sie dem jungen Schnösel. Aha. Das registrierte der, er lernte ziemlich schnell und allerhand gerade von dem Alten.
Aber auch die, die sonst noch in der Brigade arbeiteten, lehrten ihn sehr viel Praktisches, so dass er unerwartet schnell in die Feierabendbrigade aufgenommen wurde. Als später die Brigade geteilt wurde und Jakob einen neuen Meister erhielt, kam es zu einer seltsamen Begegnung.
Jakob stellte beim Gegenüberstehen fest, dass der ihm gerade mal bis ans Kinn reichte, allerdings viel kräftiger und etwa dreißig Jahre alt war. Ein Malocher, fand Jakob schnell heraus, doch mehr als fair, denn er verlangte seinen Jungs stets nur das ab, was ihm bereits in Fleisch und Blut übergegangen war.
Sie wurden ein eingespieltes Team, Jakob wuchs daran und ihm machte die Arbeit richtig viel Spaß. Immer öfter gingen er und Biene, so des Meisters Spitzname, zu zweit pfuschen. Über die Wochen und Monate entstand eine wahrhaft enge Freundschaft zwischen ihnen. Biene übernahm immer mehr die Rolle eines großen Bruders für Jakob. Ihr Zusammenspiel harmonierte, war ein himmelweiter Unterschied zu dem, was mit Jakobs Klassenkameraden, mit denen er theoretischen Unterricht hatte, einherging.
Seine Klasse bestand aus dreißig Jungen und zwei Mädchen. Da waren Hänseleien und Rangeleien geradezu an der Tagesordnung.
So was passte Jakob gar nicht; das machte ihn oft und gern erst recht zum Ziel der Attacken.
Im Bauhof ging es besonders hart zu. Da ging es um das Praktische, um die Ausbildung an Modelldächern. Wenn Jakob wirklich sehr viel lernen wollte, woran ihm lag, hatte er keine Chance.
Von zweien aus der Brigade Meister Kurz wurde er nur allzu gerne aufgezogen und bald hierhin und bald dahin geschubst. Ohne jeden Grund. Was war Jakob immer heilfroh, wenn er wieder in seine eigene Brigade, zu Biene, zurückkonnte. Hier schätzte man ihn. Nutzte seinen Eifer, sein Bemühen, immer mehr Arbeitsschritte als die gezeigten oder erklärten zu bringen.
Aber die heiklen Situationen sollten sich noch verschlimmern.
Nach einem Jahr stand die Auszeichnungsreise für die besten Lehrlinge des Betriebes an. Man durfte gespannt sein, auf wen würde die Entscheidung fallen? Wer könnte da in Frage kommen? Schließlich galten alle vier Dachdecker inzwischen als die besten, wiesen alle vier gleichermaßen einen Gesamtdurchschnitt von eins Komma zwei in Theorie und Praxis auf und waren kaum zu toppen. So was hatten sie hier noch nie.
Also waren sie alle vier dabei.
Die Reise dauerte sieben Tage und führte sie, und dazu noch einen Maurerlehrling und die zwei Lehrausbilder mit Anhang nach Lenin, ins Brandenburgische. Schön. Und es hätte prima werden können, aber aus Gründen, die sich später als medizinisches Fiasko herausstellten, fiel Jakob dort um.
Er hatte seinen ersten schweren Krampfanfall. Es kam aus heiterem Himmel.
Alles war erschrocken. Aber Jakob war klar bei Verstand und gab instinktiv Anweisungen: „Setzt mich auf den Stuhl da und schiebt mich ans Fenster.“ Sie taten es.
„Hakt meine Hände in den Fensterrahmen und drückt meine Füße gegen die Wand!“
Nun zog Jakob solange am Fensterhaken, bis seine Finger wieder einigermaßen gerade wurden und er auch die Knie wieder durchdrücken konnte. Doch seine Mühen reichten nicht. Kaum war er vom Fenster weg, waren die Krämpfe zurück. Und die anderen mussten den völlig Verkrampften ins Bett tragen. Nichts half. Nicht einmal die Herztropfen, die er sowieso schon seit ein paar Tagen einzunehmen hatte – alles blieb wirkungslos. Es war einfach unmöglich, der Sache Herr zu werden. Der Maurermeister, ein Schrank von einem Mann, musste wirklich um das Leben von Jakob kämpfen.
Das tat er.
Die drei anderen Lehrlinge aber wussten weder sich, noch dem Betroffenen zu helfen. Und Jakob war nicht mehr er selbst vor Schmerzen, war in einer Zwangslage; hätte beinahe die Pranken dieses Schrankes unbewusst gebrochen. Heftig übermannten ihn diese Zustände immer wieder aufs Neue. Kaum eine Unterbrechung.
Fast bewusstlos von all dem, das da von einer Minute zur anderen kam und von ihm Besitz ergriff, standen er und Leben und Tod beieinander.
Jakob war klar, ohne die Hilfe des Maurers hätte er den Kampf glatt verloren.
Der starke Mann aber konnte sich das Geschehen nicht erklären und gab, weil er zuweilen etwas von der Hänselei gehört hatte, den anderen, den Lehrlingen, die Schuld. Nur das war für den Maurer naheliegend.
Dem aber war nicht so.
Zu einem späteren Zeitpunkt dann sollte Jakob erfahren, die Krämpfe hätten ihn immer und überall erfassen können. Keiner trug dafür eine Verantwortung oder gar Schuld. Ebenso, wie sie auch keiner hätte jemals verhindern können.
Unter den Gegebenheiten hier nun war es erst der Notarzt gewesen, der mit Spritzen dem Ganzen ein Ende bereiten konnte. Zur Nachkontrolle tags darauf begleiteten Markus und der eine Manuel ihren Mitstreiter zum Arzt, wo er gleich nochmals zwei Spritzen verpasst bekam. ‚Na, danke schön auch!’, maulte Jakob für sich im Stillen.
Im November desselben Jahres hatten alle Jungs der Dachdeckerklasse ins GST-Lager zu fahren. Auch Jakob.
Das war Pflicht und dauerte sechs Wochen.
Und natürlich hatte sich der ungewöhnliche Vorfall damals in