Von Blüten und Blättern. Elisabeth Göbel

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Von Blüten und Blättern - Elisabeth Göbel


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kennt man solche Gefahren nicht. Kennt man auch nicht die Ängstlichkeit der Mütter und Großmütter. Und dann läuft die Sache so unheilig ab, dass mir das Herz warm wird.

      Bevor der Kleinste und Jüngste im grünen Gewand – die Farbe der Hoffnung, das göttliche Grün – den Segen mit Schultafelkreide an unsere Haustür malen darf, gibt’s Streit um diese besondere Ehre, und sie knobeln mit Tsching Tschang Tschung, bis die sie begleitende Mutter entscheidet: Der Jüngste und einzige Junge darf den Segen schreiben, und die ältere Schwester möge sich bittesehr zurückhalten und das Vorsagen lassen. Er klettert auf einen Stuhl, die Kreide in der Hand, um die Zeichen zu schreiben: Zwanzig für das Jahrhundert, dann der Stern, das C, ein Kreuz, das M, jetzt bricht die Kreide entzwei und ein Stück fällt runter, wieder ein Kreuz, schließlich das B und das letzte Kreuz, am Ende dann die Jahreszahl Elf. Zweitausendelf, dazwischen Caspar, Melchior und Balthasar. Recken muss sich der Zwerg König, obwohl wir ihm den Küchenstuhl hingestellt haben, und er malt aufs dunkle Holz mit großer Erstklässlerschrift, so dass am Ende der Zeile der Platz knapp wird und die Zeichen klein und immer kleiner geraten.

      Dann stürzen sie sich auf die Süßigkeiten und den Apfelsaft, segnen auch die rote Türe vom Hinterhaus, wieder darf der grüne König schreiben und diesmal schreibt er gleichmäßig und nicht zu groß und kriegt dann den lateinischen Segensspruch von der Schwester vorgesagt, auf dass er ihn nachspreche: Christus mansionem benedicat. Christus manschonem denekipat. Darf man lachen? Man darf.

      Ein Foto und schon fliegen die Schneebälle ums Haus.

      Darüber nachzudenken, dass zu der Geschichte von den drei Königen die Kindermorde des Herodes gehören, verbiete ich mir. Aber dass die kleine Schar eine Sammelbüchse mitgebracht hat für Kinder, die in Kambodscha Opfer explodierender Landminen wurden, sei nicht verdrängt. Kinder im Krieg; mein Vater hat erzählt, wie wohlig warm es in den russischen Hütten mit den großen Kachelöfen war …

      Später am Tag schaue ich vom Mansardenfenster auf die Straße mit den tief eingedrückten Fahrrinnen hinunter und sehe durchs Geäst der Linde ein paar blaue Schleier, endlich ein wenig Klarheit am Himmel. Auf dem Dach glitzern Schneekristalle, die Äste der Japanischen Kirsche sind wie mit dickem Pinsel über den Schnee geschriebene Kalligraphien. Im Westen schimmert es golden, der Tag ist immer noch kurz, wenn auch schon ein paar Minuten länger als um Weihnachten herum. Ich hadere mit dem Licht um jede Minute. Ich muss hinuntergehen und den Herrnhuter Stern anknipsen. Auch wenn die Könige längst weiter gezogen sind.

      3. Januar, Montag

      Wie leicht man ins Schwärmen gerät beim Anblick von Schnee, wie sich Klischees aufdrängen, die immergleiche Metaphorik. Das blaue Strahlen, das silberne Schimmern. Weiße Weihnacht und Zuckerwatte. Unberührtheit, Reinheit, der Schleier der Braut … Nur damit man festklopfen kann, was jedes Kind weiß, nämlich, dass Schnee etwas Wunderbares ist. Wie ein frisch bezogenes Bett, sagt Svetlana Geier, die Dostojewski-Übersetzerin, wie frisches weißes, sorgsam gebügeltes Leinen. Und kommt beim Bügeln auf die Sprache, den Text, die Textur. Jeder Text ein Gewebe. Marie Luise Kaschnitz, die Meisterin vielfädiger Textgewebe, verknüpft bei der Beschreibung ihres Hochzeitstags im Dezember den Brautschleier, den ein heftiger Wind herumwirbelt, mit dem Weihnachtsweiß, das ihr verhasst ist, und dem weißen Leintuch, das Krankheit, Sterben und Tod bedeutet. Orte heißt ihre Sammlung von Kurzprosa. Nicht mal eine halbe Seite lang ist die Geschichte über das Weiß.

      Hässlich sieht die Schneedecke draußen jetzt aus, nachdem die Temperaturen über dem Gefrierpunkt liegen, ein zerwühltes Laken nach einer schlechten Nacht, überall Dellen und Knautschfalten. Wie unpoetisch sieht der Winter aus, wenn sich an den Rändern der Straßen die rostbraunen oder schlammgrauen Brocken zu porösen Bergen auftürmen, wie unschön der nasse schwere Sulzschnee auf der Fahrbahn, die Pinkelspuren der Hunde, fixiert im verlorenen Weiß.

      Und die Kälte. Wenn der Frost nachlässt, wird das Frösteln größer.

      Meine Cousine, die letzte mütterlicherseits, die mir nahe stand, ist gestorben, und ich wusste es nicht. Sie lebte allein, war kinderlos, und als ich sie nach längerer Pause anrief, gab es eine Irritation: Eine junge Frauenstimme meldete sich am Apparat. Falsche Nummer? Ich stammle und bekomme knapp und klanglos die Antwort: Sie ist tot, gestorben, Herzversagen. Dann weinen wir beide ein wenig, ich und die Unbekannte, und können eine Weile nicht sprechen. Es stellt sich heraus, dass man mich nicht benachrichtigen konnte, weil im Adressbüchlein der Cousine nur mein Vorname und der Vorname meines Mannes stand. In diesem schneereichen Winter hatte sie ihren letzten Geburtstag. Ich vergaß zu schreiben. Jetzt vergaß ich zu fragen, auf welchem Friedhof sie liegt.

      Kaschnitz. Vom Sommermenschen, vom Strand zur Windsbraut und zu einer, die Schnee traurig macht. Ihr Mann starb zu früh nach langem schwerem Leiden. Das weiße Tuch, das die Kranken kleidet, hüllt die Gestorbenen ein, das weiße Tuch bedeckt im Winter das Grab. Die Cousine wurde ins künstliche Koma versetzt, in eine Winterstarre, bei der mich leises Entsetzen packt. Als sie ins Leben zurück geweckt wurde, ist sie gestorben.

      4. Januar, Dienstag

      Über Nacht hat es ein wenig nachgeschneit, alle Schandflecke sind frisch überzuckert. Ich denke an die Tulpenzwiebeln in der Erde, hört ihr mich über euch hinweg laufen? Hört ihr, wie der Schnee unter meinen Schritten donnert und quietscht. Die Gewissheit, dass die Tulpenzwiebeln jetzt ruhen und dann auferstehen werden, tut mir gut. Wenn jemand gestorben ist, der mir lieb war, kommt wie von selbst eine Handreichung aus der Natur – eine Ringeltaube fliegt weg, ein Frosch verschwindet im Gras, ein Eichhorn tanzt über den Schnee. Die weißgelbe Dichternarzisse öffnet sich, der blaue Eisenhut strahlt. Mein Vater, der in einer sonnigen Herbstwoche starb, kam als Libelle. Als meine Gedanken noch sehr nahe bei ihm waren, erschien diese besondere, blau schimmernde Libelle, kreiste und brummte übers Gras und flog um Vaters Haus, als wollte sie schauen, wie ich alles bewerkstellige. Ich meinte, ich bewerkstellige es gut, doch mochte ich dem stahlblauen Gebrumm nicht zu nahe kommen; die Libelle zog ihre Kreise und schwirrte davon, um von Zeit zu Zeit erneut zu erscheinen. Bis heute schaut sie immer mal wieder vorbei.

      Weil ich mich im letzten Herbst nicht für eine zum bunten Gartendurcheinander passende Farbe entscheiden konnte, habe ich Weiß gewählt, siebzig weiße langstielige Tulpen, schlicht und hoffentlich nicht so überzüchtet, dass sich ihre Pracht in einer einzigen Saison erschöpft. Unterm Schnee warten sie nun auf ihre Wiedergeburt. White triumphator heißt die Sorte, weißer Held.

      6. Januar, Donnerstag

      Früh zwischen sieben und acht sehe ich jetzt jeden Tag den Morgenstern durch die Zweige der Birke blitzen. So hell blinzelt er mir zu. Wie wenig beachtet man die natürlichen Lichter, zumal um Weihnachten herum, wenn alles, drinnen wie draußen, so kunstvoll künstlich beleuchtet ist. Wenn der Himmel auch in der Nacht nur selten seine Tuschwasserfarbe verliert. Lichtverschmutzung, sagen manche. Wie schön leuchtet der Morgenstern, singen die, die nach oben schauen. Oder: Der Morgenstern ist aufgedrungen. »Singet, springet, jubilieret, triumphieret …«, beide Lieder aus dem sechzehnten Jahrhundert. Wenn wir mit dem Frühstück fertig sind, ist der Funkelstern längst hinter dem dicken Stamm der Lärche verschwunden. Es wird nun doch schon jeden Tag ein wenig früher hell.

      Heute also ist Epiphanias, »Heilige Drei Könige« steht im Kalender. Schneeregen und Blitzeis gab es am Morgen, so dass der Weg zur Bushaltestelle eine schweißtreibende Rutschpartie war. Immerhin halfen die über die Winterschuhe gezogenen Wollsocken ein wenig zu bremsen. Zügig voran ging es nur da, wo der Schnee noch knöcheltief liegt. Man sinkt ein und rutscht nicht weg. Heute also Dreikönigstag, kein himmlisches Wunder, keine Epiphanie machte den Weg zur Haltestelle erträglicher.

      Epiphanie bedeutet das Sichtbarwerden einer göttlichen Erscheinung. In der Antike war es das Erscheinen eines Gottes, der unerwartet und zumeist in irgendeiner Weise »verkleidet« auftrat – Zeus als Schwan, als Stier, als Nebelwolke oder Gold-Regen. Eher eine himmlische Offenbarung, ein Glücksmoment für den Menschen, eher Sinnenfreude und Versprechen denn ein Deus ex machina, der auftaucht, um ein Problem zu


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