Kreation Vollblut – das Rennpferd eroberte die Welt (Band 1). Erhard Heckmann
Читать онлайн книгу.Züchter und Trainer unserer Tage haben inzwischen jedoch ganz andere Möglichkeiten als die, die ihnen vor vielen Jahrzehnten vorausgingen. Sie verfügen über Gestütsbücher und Rennkalender, die rund 300 Jahre Zucht und Sport dokumentieren; über die Erkenntnisse der modernen Zeit, Zuchterfahrung und Datenbanken. Auch weltweite Jährlings- und Zuchtauktionen bieten Jahr für Jahr Hervorragendes an, während jene Pionierzüchter ganz am Anfang standen. Dennoch, auch heute ist die Zucht noch keine Wissenschaft, weil die Gene nach wie vor keinen gängigen und verlässlichen Rezepten folgen. Sie ist und bleibt ein Puzzle.
Aus den alten Zuchten – auf die wichtigsten dieser Pioniere wird später noch genauer eingegangen – kam in der Regel qualitätsvolles Material auch nur dann auf den Markt, wenn einer der Besitzer-Züchter verstarb und sein Pferdebestand, mit oder ohne Gestüt, auf einer Auktion zum Verkauf stand. Eine Ausnahme waren die Alexanders, die für 15.000 Dollar Lexington kauften, damals Amerikas größte Farm betrieben und ihre Produkte auch auf Jährlingsauktionen anboten, die allerdings nicht die Bedeutung heutiger Sales hatten. So wie sie setzten auch andere Züchter, die jeweils zu den erfolgreichsten Ihrer Zeit zählten, Meilensteine auf dem langen Weg zum vollendeten Rennpferd. So zog John Bowes mit West Australian den ersten Gewinner der „Triple Crown“ und verkaufte alle seine vier Derbysieger; Joseph Hawley, der dem später so berühmten englischen Trainer John Porter auf die Beine half, vier Derbys und alle englischen Klassiks gewann, soll dennoch nie mehr als acht Zuchtstuten in seiner Herde gehabt haben, und Lord Fallmouth, der wahrscheinlich nie einen eigenen Hengst aufstellte und dessen Eigengewächs Queen Bertha zu seiner wichtigsten Gründerstute wurde, zog 14 klassische Sieger.
Etwa 15 Jahre nach den Alexanders starteten auch der Duke of Westminster und der Franzose Edmond Blanc ihre Zuchten, wobei der Engländer kaufen konnte, was zu kaufen war. Für den von Sir Tatton Sykes 1870 gezogene Stockwell-Sohn Doncaster (Derby, Goodwood-, Ascot Gold Cup…) zahlte er die damals enorme Summe von 14.000 Pfund. Aus dessen erstem Jahrgang erhielt er den für ihn so erfolgreichen Bend Or, den Vater des in 16 Rennen ungeschlagenen „Triple Crown Winner“ Ormonde und, über dessen Sohn Orme, wurde Bernd Or Urgroßvater von Flying Fox. Und dieser sicherte sich ebenfalls das Triple 2000 Guineas, Derby und St. Ledger. Edmond Blanc, der für Flying Fox 37.500 Guineas zahlte, zog von ihm Ajax, und von diesem Teddy.
In den letzten zwanzig Jahren des 19. Jahrhunderts dominierten in den USA und Europa neue Züchter wie Daniel Swigert, die Belmonts, der Duke of Portland oder James R. Keene. Swigert, der auf Alexanders Woodburn Farm startete, kaufte anschließend Jährlinge und veräußerte sie wieder, sobald sie sich als gute Rennpferde zeigten. Diese Geschäfte müssen attraktiv gewesen sein, denn sein neuester Besitz nannte sich Elmendorf, wo er drei Kentucky Derby-Sieger züchtete. August Belmont II war der Züchter von Fair Play, dem er Man O’War verdankte. Der Duke of Portland, der auf vier der damls fünf besten Deckhengste Zugriff hatte, kaufte vom Prinzen Batthyany den zweijährigen St. Simon, der der Eckpfeiler seiner Zucht wurde und als Deckhengst insgesamt 15 Championate bei den Stallios und Zuchtstuten-Erzeugern sammeln sollte. Damit übertraf er auch seinen Vater Galopin (7), den Taylor Sharper 1872 gezogen hatte, und der in den Farben des ungarischen Prinzen lief. St. Simon jedoch war ein außergewöhnliches Rennpferd, in dem sich die Entwicklung dieser Rasse über nahezu eines ganzen Jahrhunderts widerspiegelte. Er war gewissermaßen die Veredelung des großen Eclipse, der 117 Jahre vor ihm geboren wurde. Dass St. Simon die „Dreifache Englands“ vorenthalten wurde, das lag allein am zu frühen Tod seines Besitzers, der Nennungen in den betreffenden Rennen damals hinfällig machte.
James R. Keene, auch in den ersten zwei Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts noch aktiv und auf die amerikanische Vollblutzucht einen gewaltigen Einfluss ausübend, importierte fast fünfzig Vollblutstuten, die von Englands besten Hengsten abstammten. Von J. R. Alexander kaufte er Foxhall als Jährling und hatte zusätzlich das Glück, das damals schnellste Pferd Amerikas erworben zu haben, den von der Dixiona Farm (Major Barak G. Thomas) 1891 gezogenen Domino (Himyar).
Nach ihnen strebte in den beiden ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts fast ein ganzes Dutzend neuer Namen an die Spitze, um Sport und Zucht für einige Jahre – teils auch mit erheblicher Dominanz – zu beherrschen und neue Meilensteine für die Zukunft zu setzen. Sie bauten auf dem Erreichten ihrer Vorgänger auf, nutzten Erkanntes, wiederholten erfolgreiche Kreuzungen oder wandelten sie ab; experimentierten mit Blut-Affinitäten, neuen Varianten und „Rezepten“; entwickelten die Rasse erfolgreich weiter und setzten den Siegeszug des Vollblüters fort. Zu dieser Gruppe gehörten auch der Italiener Frederico Tesio, der englische Lord Derby oder die Hancocks, die noch heute mit ihren Farmen Claiborne und Stone in Kentucky zu den besten Adressen zählen. J. B. Joel gelang jedoch ein ganz besonderes Doppel: An Sunstar und Humorist sattelte er die Sieger des Epsom Derbys 1911 und 1921, und 1987 gewann er mit Maori Venture auch das schwerste Jagdrennen der Welt, die GRAND NATIONAL zu Aintree. Für seine Zucht im Childwickbury Stud, die von der Familie nach seinem Tod fortgeführt wurde, war der von Sir Samuel Scott gezogen Klasse-Flieger Sundridge äußerst erfolgreich. Die zu St. Albanus in Hertfordshire beheimatete Zuchtstätte, die in jüngerer Zeit auf Pferde wie den Champion Royal Palace (1964) oder Fairy Footsteps (1981) verweisen konnte, wechselte 2011 in den Besitz der Familie Flatt und wurde komplett renoviert. Auch das Gestüt von J. B. Joels damaligem Hauptrivalen, das irische Tully Stud von Col. Hall Walker, dessen Produkte alle englischen Klassiks gewannen, existiert heute noch, als Irish National Stud. Aus dieser alten Zucht stammte u. a. der Cyllene-Sohn und Derbysieger Minoru (1906), der in den Pedigrees von Hyperion und Princequillo als Vater der zweiten bzw. dritten Mutter auftaucht.
Lord Astor, Sohn eines in England niedergelassenen Amerikaners, und J. E. Madden starteten als Vollblutzüchter etwa zur gleichen Zeit, doch war „der Engländer“ wesentlich länger im Geschäft als Madden. Während dieser an Sir Barton Amerikas ersten Triple Crown-Sieger und vier weitere Pferde zog, die das Kentucky Derby gewannen, war der Einstieg des Lords eher Zufall. Gesorgt hatte dafür eine Stute, die er als junger Bursche für die Zucht von Hunter- und Point-to-Pointer-Pferden gekauft hatte. An Winkipop fohlte sie jedoch 1907 eine 1000 Guineas-Siegerin und veranlasste den Lord zum Umdenken. Besonders erfolgreich war dieser Züchter zwischen 1917 und 1929, und sein letzter „Klassiker“ war Englands Champion-Meiler Court Martial, der sich 1945 auch in den 2000 Guineas durchsetzte.
Lord Derby startete einige Jahre früher als Tesio, sodass dieser von Lord Derbys Deckhengst Pharos profitierte, denn Tesios Nearco hatte diesen zum Vater, und bei dem berühmten Ribot stand des Engländers Phalaris-Sohn als mütterlicher Großvater im Pedigree. Und Lord Derbys Hyperion sagt man nach, dass sich der Engländer mit dem Gedanken der Kastration getragen haben soll, weil der Fuchs so klein war. Der Gainsborough-Sohn bedankte sich für diese Unterlassung entsprechend, gewann das Derby und stand auch sechsmal an der Spitze der englischen Stallions.
H. P. Whitney profitierte ebenfalls von einem Zeitgenossen, denn der Hanover-Sohn Hamburg (1895) war auch durch Maddens Hände gegangen und für Withney, neben Broomstick und Peter Pan, einer der Hauptpfeiler seiner Zucht, die der Sohn C. V. Whitney 1930 übernahm, als der Vater starb. John E. Maddens Triple Crown-Winner Sir Barton hatte diesen ganz großen Triumph schon 1919 eingefahren, und C. V. Whitneys Unternehmen stand 1931 an der Spitze der amerikanischen Gestüte, denn Belmonts Nursery Stud und Maddens Hamburg Place waren als Hauptrivalen bereits aufgelöst. Zur Blutauffrischung nutzte Cornelius Vanderbilt Whitney den aus Frankreich eingeführten englischen Derbysieger Mahmoud als auch zahlreiche fremde Hengste. Und von einem dieser Beschäler, dem Triple Crown-Gewinner Count Fleet, der im Besitz von Mrs. Fannie lief, die ihn auch gezogen hatte, erhielt Whitney Counterpoint. Und dieser, 1948 aus einer Sickle-Tochter gezogene Fuchs, war als Dreijähriger Amerikas „Pferd des Jahres“ 1951.
Während sich in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch andere Züchter auf den Weg machten, hatten sich in Deutschland Gestüte wie Schlenderhan, das in den letzten Jahren über den großen Beschäler Monsun verfügte, Graditz, das bereits 1891 mit 250.039 Mark Gewinnsumme die Statistik eindeutig beherrschte, oder Waldfried längst etabliert, und Erlenhof wandelte sich vom Traber- zum Vollblutgestüt. Doch dazu später.
Jenseits davon waren E. R. Bradley, William Woodward oder Greentree neue Namen, und als sich Colonel Bradley 1906 entschied, seine Pferde selbst zu züchten, war Keenes Gestüt das führende in den Staaten.