Der blinde Spiegel. Günter Neuwirth
Читать онлайн книгу.Herr Oberleutnant, rauch noch eine. Das ist ein Befehl!“
Wildenstein sog den Qualm kräftig ein.
„Das Einzige, was einem Krüppel noch Spaß macht, ist guter Tabak und starker Schnaps. Zum Teufel damit!“
Meyendorff starrte auf die Beinprothese, die Wildenstein abgeschnallt und mitten auf den Teppich geworfen hatte. Er dachte an sein verbranntes Bein. Unwillkürlich griff er danach, gleichsam um sich zu versichern, dass die Prothese nicht doch ihm gehörte. Wildenstein verfolgte die Bewegung.
„Und, hast du Schmerzen?“
Meyendorff schreckte ein wenig hoch, ihm war seine Bewegung gar nicht bewusst gewesen.
„Nein, nein. Zumindest jetzt nicht.“
Wildenstein schnippte die Asche achtlos auf den Teppich. Ihm fiel so etwas gar nicht auf, genauso wenig wie ihm auffiel, dass seine Uniform längst einmal gereinigt gehörte, dass er einen Haarschnitt und eine Rasur brauchte, dass seine Fingernägel geschnitten werden sollten. Sehr nachlässig wirkte der Hauptmann, auf dessen Brust alle nur erdenklichen Orden glitzerten.
„Du hast Schwein gehabt, Hermann, riesiges Schwein. Brandwunden heilen, Narben bleiben, aber du bist nicht beschädigt. An dir ist alles dran. Du hast großes Schwein gehabt.“
Wildenstein inhalierte und hielt den Rauch lange in der Lunge, ehe er ihn wieder ausblies.
„Nur wie lange wirst du Schwein haben? Irgendwann schicken sie dich wieder hinaus. Irgendwann sitzt du wieder in deinem Bomber und wirst kein Schwein haben. Das ist das Gesetz des Krieges. Und wenn dich das Schwein verlässt, du aber Schwein hast, wirst du tot sein. Wenn du aber doppeltes Pech hast, wirst du ein Krüppel sein. Prost.“
Meyendorff war betrunken, was ihm half, das ewige Gejammer des Hauptmannes mit der Prothese nicht zu hören. Er dachte an Clarissa. Er dachte an die gestrige Begegnung in der Kantine. Er dachte an ihr Lächeln. Noch nie waren seine Gedanken von einem Fräulein so gefesselt gewesen. Er konnte es nicht anders nennen, er war verliebt. Er saß ruhig auf seinem Stuhl, regte sich nur, wenn er nach Zigaretten oder dem Schnapsglas griff. Auf dem Stuhl gegenüber saß Wildenstein und redete und redete. Vielleicht war es Wildenstein egal, ob Meyendorff zuhörte oder nicht, solange der Vortrag nicht gestört wurde. Und Meyendorff hörte nicht mehr zu, vielmehr lauschte er einem geflüsterten Namen. Clarissa Roth.
„Ich hab dich etwas gefragt, Hermann!“, fauchte Wildenstein mürrisch.
Er schrak aus seinen Träumen hoch, er blickte in die müden Augen des fünfundzwanzigjährigen Greises in seinem Zimmer.
„Gehst du ins Bordell?“, wiederholte Wildenstein seine Frage.
„Nein, gehe ich nicht. Also zumindest derzeit nicht.“
„Zumindest, zumindest, ständig sagst du Nein und zumindest“, keifte Wildenstein.
„In Wien war ich gelegentlich im Café Rosa in der Zirkusgasse.“
„Und jetzt gehst du nicht?“
Meyendorff griff zu einer Zigarette. Sein Hals fühlte sich kratzig an, eigentlich hatte er für drei Tage genug von Tabak, dennoch entflammte er die Zigarette. Er antwortete nicht auf Wildensteins Frage. Eine Minute herrschte Schweigen zwischen den Männern.
„Und wie heißt sie?“, fragte Wildenstein lapidar.
Eine Ewigkeit verstrich ehe Meyendorff antwortete.
„Clarissa Roth.“
Wildenstein kippte sein Glas.
„Wie lange kennt ihr euch?“
„Ich kenne sie nicht. Noch nicht.“
Wieder verstrich eine Minute des Schweigens. Wildenstein streckte sich und angelte nach der Prothese. Er band die Gurte an den Beinstumpf. Er flüsterte.
„Sie ist sehr hübsch, nicht wahr?“
Es war zwar nicht unmöglich, dennoch schwierig, die Dienstzeiten von Angestellten anderer Abteilungen herauszubekommen. Meyendorff mühte sich schon den ganzen Vormittag, seine Kopfschmerzen und seine Ungeschicklichkeit bei verdeckten Ermittlungen zu überwinden. Die zwei Flaschen Raki, die Wildenstein mitgebracht hatte, war nicht der letzte Alkohol des gestrigen Abends gewesen. Wildenstein hatte Meyendorff solange beflegelt, bis sie schließlich gemeinsam in jenes Nachtlokal gegangen waren, in welchem sich die jüngeren Offiziere zu Besäufnissen einfanden.
Wildenstein hatte die Korken knallen lassen. Raki, ungarischer Tokaier, Tiroler Obstler, kroatischer Slibowitz, der Alkohol war in Strömen geflossen. Das war das Leben in der Etappe, durchzechte Nächte mit Invaliden oder Drückebergern, billiger Tabak, Tristesse und Aufschneidertum, geheuchelte Siegeszuversicht und als patriotische Begeisterung getarnte Selbstsucht. Als sich die Trunkenbolde um Wildenstein für eine Wehrpflichtmusterung im Offiziersbordell gerüstet hatten, war es Meyendorff gelungen, sich abzusetzen. Wildenstein hatte zwar herumgemeckert und ihn einen traurigen Poeten genannt, aber er hatte nichts von seinem Wissen preisgegeben. Anderenfalls hätte Meyendorff nicht gezögert, ihn an Ort und Stelle zu erschießen. Aber Wildenstein war nicht der Mann, der Kameraden öffentlich bloßstellte, er beschimpfte zwar jeden, aber er verletzte nie die Ehre eines Mannes. Alleine deswegen pflegte Meyendorff Kontakt zu ihm.
Unmöglich war es nicht, aber die Schwierigkeiten drohten ihm den Schädel zu sprengen. Die Kopfschmerzen schaukelten sich mit jedem Telefonat noch auf, bis Meyendorff seine Aktivitäten beendete. Ergebnislos. Er hatte Clarissa Roths Dienstplan nicht herausfinden können, also widmete er sich wieder seinen Listen.
Draußen vor der Tür seines winzigen Büros klapperten Schreibmaschinen und Fernschreiber, klingelten Telefone, zuckten gedämpfte Stimmen durcheinander. Was war das doch für eine einfache Sache, einen viermotorigen Bomber tief ins Feindesland zu fliegen, im Vergleich mit dem Ausfüllen von Tabellen und Formularen. Wie leicht war dieser gewaltige technische Organismus Flugzeug zu beherrschen im Vergleich zu den bürokratischen Abläufen der Militärverwaltung. Meyendorff spitzte mit dem Taschenmesser einen Bleistift. In Wahrheit war das seine Hauptbeschäftigung, das Spitzen der Bleistifte. Spitz wie deutsche Vergeltungswaffen waren seine Bleistifte, bloß lagen die Bleistifte in ihren Munitionsmagazinen, während die Vergeltungswaffen auf englische Städte und Fabriken niederstürzten. Meyendorff begutachtete den Bleistift von allen Seiten, wunderte sich über diesen merkwürdigen Vergleich, schüttelte den Kopf und legte den Bleistift zur Seite.
Ihm fiel ein Gesprächsfetzen des gestrigen Abends ein. Ein paar Leutnants hatten stockbesoffen vom Mädchenpensionat des Fliegerquartiers gesprochen. Mädchenpensionat, so hatten sie das Barackenlager am Rande Konstantinopels genannt, in dem ein Großteil des weiblichen Personals des Fliegerquartiers untergebracht war. Wahrscheinlich logierte Clarissa Roth dort. Meyendorff griff zum Hörer und ließ sich von der Vermittlung verbinden. Es dauerte beinahe zehn Minuten, bis die Verbindung hergestellt war, aber endlich erreichte er den Wachdienst des Barackenlagers.
„Hallo, hier spricht Oberleutnant von Meyendorff, Fliegerquartier Süd. Ich hätte gern eine Auskunft. Ja, ich warte.“
„Ja hallo, ich hätte gerne Auskunft in einer privaten Angelegenheit. Können Sie mir sagen, ob und wann ich Fräulein Clarissa Roth antreffen kann. Ja, eine private Angelegenheit. Von Meyendorff mein Name. Habe ich schon gesagt. Ich bin ein Bekannter der Familie und soll Empfehlungen von ihrem Onkel überbringen. Hören Sie nicht zu? Eine private Angelegenheit, nicht dienstlich. Also bitte. Ich weiß nicht, ob sie bei Ihnen untergebracht ist, sonst würde ich nicht anrufen, sondern gleich kommen. Ich bitte Sie, hören Sie doch zu. Blicken Sie nur einmal auf Ihre Listen und sagen Sie mir, ob Fräulein Clarissa Roth bei Ihnen untergebracht ist. Ja, ich warte.“
Meyendorff war genervt, zuerst unzählige Versuche, überhaupt eine Leitung zustande zu bringen, und dann dieser Hornochse von Adjutant. Die Zigarette war in seinen Fingern beinahe verqualmt, ehe sich am anderen Ende der Leitung jemand rührte.
„Hallo, ja ich höre. Wie bitte. Sie ist derzeit nicht im Lager, sie ist im Dienst. Um sieben