Der blinde Spiegel. Günter Neuwirth

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Der blinde Spiegel - Günter Neuwirth


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sind schon so gewaltig ausgestreckt, dass selbst die Amerikaner Schwierigkeiten haben werden, genug Material gegen die Levante zu schicken. Was also tun mit all den neuen Panzern und den schwer bewaffneten Infanteriedivisionen? Die Weite Osteuropas ruft, und deren Bodenschätze. Noch ist die Sowjetunion besiegbar, noch ist die Rote Armee ungenügend ausgerüstet, in zwei Jahren ist das vielleicht anders. Wir erwarten, dass die Deutschen und Ungarn noch einmal alles gegen die Sowjetunion werfen werden. Sie wollen die Sowjetunion endlich niederringen. Hitler wird dem Kaiser wieder einmal die Faust ans Kinn setzen und ihn zwingen, die Offensivpläne zu unterschreiben, davon bin ich überzeugt. Spätestens in drei Monaten rollen die modernsten deutschen Panzer gegen die Sowjetunion. Die Sowjets wissen das auch, also müssen sie etwas unternehmen.“

      „Jetzt frage ich Sie einmal, was wir beide tun sollen? Zwei hungernde, zerlumpte österreichische Pazifisten mitten in einer tschechischen Bretterstadt. Was hat das alles mit mir zu tun? Und selbst wenn ich etwas tun könnte, warum sollte ich Stalin helfen? Er ist ein Diktator und sicherlich dem fetten Kriegstreiber Churchill und dem Massenmörder Hitler nicht unähnlich. Wahrscheinlich träumt er von einem Raubzug durch Deutschland, bloß fehlen ihm noch ein paar Waffen. Außerdem weiß man sogar in Budweis, dass es in der Sowjetunion Lager gibt. Wieso soll ich einem Regime helfen, das Lager unterhält?“

      „Lager gibt es überall. Auch die prodeutsche Minderheit in Nordamerika steckt in Lagern, dabei predigt der Präsident der USA ständig Freiheit und Demokratie. Die Welt ist schlecht, die Kaiser, Reichskanzler, Präsidenten, Parteivorsitzenden, Premierminister, weiß der Teufel, wie die Kerle überall heißen mögen, sind Verbrecher und Mörder, und daran können wir nichts ändern. Dennoch ist die Sowjetunion in höchster Gefahr. Millionen Russen wollen keinen noch längeren Krieg, sie wollen die Wunden der letzten blutigen Jahrzehnte heilen. Aber die Feldherren der Welt haben kein Interesse an einem großen Volk, das in Frieden lebt und sich wirtschaftlich und kulturell erholt, sonst könnte ja die Wehrkraft der eigenen Armeen geschwächt werden. Und, lieber Valentin, Sie wissen genau, wo die verbohrtesten Feldherren ihre Wohnsitze haben: in Berlin, Wien und Konstantinopel. War es nicht der preußische Militarismus, der in den Dreißigerjahren zum Wettrüsten mit den USA geführt hat? War es nicht der k. u. k. Militarismus, der Italien permanent gedemütigt hat, bis Italien selbst zur Militärdiktatur wurde? War es nicht der türkische Militarismus, der Bulgarien, Serbien und Griechenland gezwungen hat, die Balkanentente zu bilden? Und war es nicht die Hochkonjunktur des mitteleuropäischen Militarismus, die zum zweiten großen Weltenbrand geführt hat? Wir beide sind Pazifisten in einem Land, in dem die Bezeichnung Pazifist das schlimmste aller Schimpfwörter ist. Unsere Gegner, nämlich Ihre und meine, sind nicht die Italiener, Engländer, Amerikaner oder Russen, unsere Gegner sind die deutschen, österreichischen und ungarischen Generäle. Gegen diese müssen wir kämpfen. Sie sagen richtig, ein General kann nur von einem General besiegt werden, niemals von einem Dichter, aber der Dichter kann dem General vielleicht einen Hinweis geben.“

      Ich musste ihn unterbrechen, das war ja nicht länger auszuhalten.

      „Guter Mann, sagen Sie mir, warum ich einem sowjetischen General helfen soll, einen österreichischen zu besiegen. General bleibt General, welche Farbe seine Uniform hat, ist gleichgültig. Begreifen Sie das nicht?“

      „Doch, aber wir müssen die Russen warnen. Wir müssen ihnen helfen, vom Militarismus unseres Landes nicht überrollt zu werden.“

      „Vielleicht ist es besser, wenn die Russen nicht kämpfen. Sollen sie doch die deutschen und ungarischen Panzer in einem Schwung bis nach Sibirien fahren lassen. So ersparen sich die Russen neuerliches Blutvergießen.“

      Schachner hält inne und blickt um sich. Als er sieht, dass wir alleine sind, zieht er aus der Innentasche seiner Jacke eine kleine Broschüre.

      „Lesen Sie das. Das ist mir in die Hände gekommen. Fast zufällig. Lesen Sie es und verbrennen Sie es sofort. Niemand darf wissen, dass Sie diese Broschüre je gesehen haben. Das ist ein Geheimpapier, verfasst von einer Abteilung des deutschen Propagandaministeriums. Es ist keine visionäre Schrift. Derzeit üben sich die Nazi-Intelligenzler in Deutschland in der Verwirklichung ihrer Visionen. Ein kurzer Bericht über den Einsatz von geheimen deutschen Truppenverbänden in Russland. Und einige Ausführungen über die Rolle des russischen Volkes in einem deutschen Reich, welches sich vom Ärmelkanal bis zum Ural erstreckt. Lesen Sie diese Schrift, und Sie werden verstehen, warum wir den Russen helfen müssen. Ich sage nur so viel: Versklavung und systematische Ausrottung.“

      Ich lasse die Broschüre in meinem Rucksack verschwinden.

      „Und was soll ich tun? Wer steht hinter Ihnen?“

      „Ich kann nicht viel sagen, aber das Netzwerk steht schon fast. Ich bin nur ein Glied in der Kette und nicht einer der Köpfe. Stellen Sie sich ein Sammelsurium von pazifistischen Intellektuellen vor, von denen die meisten in Lagern gewesen sind. Jedes Kettenmitglied kennt nur die angrenzenden Glieder und trägt einen Decknamen. Ich bin Grillparzer. Und es gibt den Namen Neidhart. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Unsere Möglichkeiten sind beschränkt, es geht nicht um militärische Informationen, da haben wir keinen Zugang, sondern um Wirtschaftsdaten. Das Ziel ist die Sowjetunion, aber der Weg führt über Prag. Und da kommt Nestroy ins Spiel. Nestroy ist eine Schaltstelle, jemand, der Nachrichten in drei Sprachen übersetzen kann. Deutsch, Tschechisch und Russisch. Dass Sie Deutsch und Tschechisch können, weiß ich, aber wie steht es mit Ihren Russischkenntnissen?“

      „Verbesserungswürdig, aber ich habe Tolstoi und Dostojewski im Original gelesen und einigermaßen gut verstanden.“

      „Das ist gut, das ist sehr gut. Valentin, Sie sind Nestroy. Wir brauchen Sie.“

      „Und wenn ich Nein sage?“

      „Bin ich traurig und muss weitersuchen. Aber ich verschweige Ihnen nicht, dass unsere russischen Freunde verärgert sein könnten.“

      Ich bleibe stehen.

      „Sie Hund, die knallen mich ab!“

      „Weiß ich nicht. Wie gesagt, wir sind nicht so wichtig, wir liefern nur Wirtschaftsdaten. Aber möglich ist es.“

      „Ich drehe Ihnen den Kragen um.“

      „Eine Kugel mehr oder weniger ist in unserer Zeit egal, selbst wenn es um das eigene Leben geht. Oder nicht? Haben Sie etwas zu verlieren? Hängen Sie an etwas? Na also. Aber wenn Sie Nein sagen, abtauchen und schweigen, wird nichts geschehen. Ich helfe Ihnen. Das verspreche ich.“

      „Auf so ein Versprechen pfeife ich. Und bevor ich Sie zum Teufel jage, noch eine Frage.“

      „Ich höre.“

      „Gibt es ein Zauberwort?“

      Josef Schachner fixiert mich scharf, dann huscht ein dünnes Lächeln über sein von tiefen Falten zerklüftetes Gesicht.

      „Ich habe gewusst, dass Nestroy kein Schwachpunkt sein wird. Wir leben im Schatten und arbeiten in der Nacht; das Zauberwort lautet: Schattennacht.“

      KONSTANTINOPEL, FRÜHLING 1946

      Anfangs hatte es noch einen gewissen Reiz gehabt, den Leuten die goldene Auszeichnung unter die Nase zu halten. Der Anblick der Auszeichnung half Meyendorff, die unzähligen neuen Gesichter einzuschätzen. Und er erlebte die gesamte Klaviatur menschlicher Regungen, Neid, Heuchelei, ehrliche Bewunderung, kollegiales Einverständnis, Ignoranz, alles, was man sich vorstellen konnte. Die Medaille provozierte, ein Blick in das Innere der Leute wurde möglich. Anhand dieses Blickes beurteilte Meyendorff die Offiziere, Soldaten, Beamten des Fliegerquartiers Süd. Aber mit der Zeit nutzte sich der Effekt ab, zum einen kannten viele Meyendorff bald, zum anderen maß er selbst dem Orden nicht mehr so viel Bedeutung bei.

      Er stand im Gang vor der Kantine, zupfte an seinem Rock, öffnete den Nadelverschluss der Medaille und ließ das Ding in der Tasche verschwinden. Es war später Nachmittag, also würde in der Kantine nicht mehr viel los sein, dennoch wollte er nicht durch den Orden auffallen. Er wollte einfach nur einer von vielen sein, ein Bediensteter des Fliegerquartiers unter anderen.

      Meyendorff


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