2136. Tino Hemmann
Читать онлайн книгу.kleine Simo staunte. Hatte also doch einer sein »Python endlos faseln« vernommen. Levi war in Simos Alter, ein wohltuender Diener für 01-Spundgruppenführer-Elia, ein unberechenbarer Typ, der Simo so oft es ging verbal wehzutun versuchte.
Simo konterte mit gleicher Waffe: »Yäh, Retortenschiss! Schließ selbst ’s Maul!« »Retortenschiss« war sein absolutes Lieblingspseudonym für die Educares, steigerungsfähig mit dem Zusatz »schwanzloser« oder »runzelloser«.
Der Kleine hatte fast etwas zu laut gesprochen und blickte nun furchtsam zur Rottenführerin auf. Die Massenansammlung der gesamten Rotte gestattete ihm, eine große Klappe zu riskieren. Von 16 drohte im Moment keine Gefahr. Sie durften sich nicht bewegen, also fühlte der Kleine eine gewisse Sicherheit.
Die Python hatte zum Glück nichts gehört, stand noch immer breitbeinig auf ihrem Podest, hatte die Arme zu einer Siegerpose erhoben und schwatzte mit elektronisch verstärkter Stimme wie so oft heroische Worte. »… Der Dritte Weltkrieg, der nun seit einhundertzwanzig Jahren unser Tun und Sein beherrscht, wird schon bald zu unseren Gunsten entschieden sein!« Sie ließ die Arme fallen und forderte damit einen Applaus.
Im gleichen Augenblick schlugen sich die knienden Spunde mit den Handflächen im Takt auf die Oberschenkel. Simo kam das entgegen, denn so erwärmte sich sein frierender Körper ein wenig. Er lenkte sich ab, indem er die schroffen Felswände betrachtete. War die Höhle von Menschenhand geschaffen worden?
Noch einmal erhob die Rottenführerin die Hände. Sogleich herrschte Stille und alle Arme waren wieder verschränkt.
»Zwölf Spundgruppen gelang durch die Befähigung und im direkten Auftrag unserer populären Rottenmarschallin Domina Hero«, sie ließ erneut die Hände fallen, der Applaus erklang und verklang auf ihr Zeichen, »an den Ufern des Mittelmeeres ein heroischer Sieg über unseren Widersacher! Nachdem unsere Spundspione die gegnerischen Stellungen aufgeklärt hatten, konnten unsere Spundschützen weit über vierhundert garstige Büttel der Morgenlandarmee schlachten!«
Wieder folgte das Beifall-Ritual.
Wie an jedem Morgen fand die Python kein Ende, während sie von den heroischen und tapferen Taten europäischer Jungspunde berichtete.
Oft redeten Simo und Paul im Versteck über das Gefasel der Rottenführerin. Pauls leiblicher Vater Jonathan hatte dem Sohn vor langer Zeit von all den Lügen der EDR-Regenten berichtet, denn dessen Großvater hatte vor ewigen Zeiten den Beginn des Dritten Weltkrieges miterlebt und alles Mögliche dazu geschrieben und gespeichert. In den Weiten der russischen Ebenen, so meinte Paul, hielten sich viele Tausend ungechippte Menschen versteckt. Eines Tages würden sie die EDR-Sklavenhalter und -Mörder auslöschen. Paul hatte sein gesamtes Wissen an Simo weitergegeben, denn einem anderen vertraute er nicht. Nicht mal 06-Spund-Mich, einem Räudiger, der gerade erst acht geworden war und seitdem unter dem Schutz von Paul und Simo stand, weil die Educares Levi und Flor den Winzling zugrunde richten wollten.
*
Alles hatte damit begonnen, dass amerikanische, chinesische, englische, französische, australische und deutsche Truppen nach zahlreichen islamisch motivierten Anschlägen in deren Ländern zu einem gemeinsamen Schlag gegen die morgenländischen Märtyrer ausholten. Flächenbombardements auf dicht besiedelte islamische Städte sollten den Kampfeswillen der Andersgläubigen brechen. Die versprengten morgenländischen Armeen griffen nicht sofort an, sondern wurden im Nahen Osten zu einem gewaltigen Heer zusammengezogen. Gleichzeitig ließen unzählige Untergrundattentate die Kontinente Australien, Nordamerika und Europa brennen. Islamische Führer aus Pakistan, Afghanistan und anderen Ländern suchten den Ausweg nach Osten, andere wollten die Waffenbestände des kleinen israelischen Staates übernehmen. Es kam zu zahlreichen regionalen Kriegen und mehreren Ultimaten, die sich diverse Regierungen gegenseitig setzten, bestimmte Aggressionen sofort zu beenden. Kein Ultimatum wurde je eingehalten! Fast gleichzeitig detonierten pakistanische und israelische Atomsprengköpfe. Die einen in Millionenmetropolen Indiens und Chinas, die anderen in dicht besiedelten Regionen Nordafrikas und im Nahen Osten. Das schwer erschütterte China holte zu einem gewaltigen atomaren Gegenschlag aus.
Ein bedeutendes Land in Europa und Asien war Russland. Dessen Führung hielt lange still, wurde jedoch durch den Niedergang Chinas unter Druck gebracht und setzte atomar bewaffnete Truppen in südlicher Richtung in Bewegung. Das empfanden die Amerikaner als Bedrohung und sie stellten den Russen ein Ultimatum. Währenddessen brodelte es bereits zwischen Japan und Nordamerika. Die rechtsradikale japanische Regierung schlug überraschend hart zu, rächte sich am amerikanischen Volk für die atomare Schmach im Zweiten Weltkrieg. Das Abwehrsystem der Amerikaner versagte komplett, der größte Teil war ohnehin in Westeuropa installiert, um die Russen in Schach zu halten. Fast jede größere amerikanische Stadt wurde mit Atomsprengköpfen beschossen. Den Amerikanern reichte die verbleibende Zeit nur dazu, die eigenen Atomwaffen auf den tödlichen Weg zu bringen.
Weite Teile der Erde wurden unbewohnbar, doch keineswegs sorgte dies für ein Ende des Krieges, obwohl sich das gemeine Volk aller Länder ein Aufatmen wünschte.
Die islamischen Führer erbeuteten Atomwaffen in Israel und in den Mittelmeeranrainerstaaten und setzten Wochen später Australien ein Ultimatum, da die Australier noch immer vehement den Islam zu vernichten versuchten. Die Russische Armee hatte in der Zwischenzeit große Stücke Asiens gesichert, Russland, Japan und die westlichen europäischen Staaten schlossen einen Nichtangriffspakt. Quer durch Europa und Asien verlief eine beidseitig gesicherte Frontlinie. Im Süden schlossen sich zahlreiche Regierungen und Stammesfürsten zusammen. Sie gründeten das Großkalifat Islamisches Morgenland (IML).
Im sogenannten Känguru-Krieg, der nur vier Wochen andauerte, überfiel die Morgenlandarmee Australien und tötete dort mehr als 23 Millionen Menschen. Nur ein Prozent der Australier konnte sich retten.
In den darauf folgenden Monaten einer spannungsgeladenen Ruhe wurde vor allem die Rüstungsproduktion der gesamten Welt angekurbelt.
Dann erfolgte der Versuch eines weiteren Großangriffs der Europäer per Luftschlag auf das Gebiet der IML, der jedoch in einem unbeschreiblichen Fiasko endete, denn die Geschosse der Flug- und Raketenabwehrstellungen der neuen Morgenlandarmee (MLA) ließen kaum noch Platz zum Fliegen. Nach der Zerstörung vieler ihrer Bomber kam es zu einem atomaren Raketenangriff der Europäer und einem sofortigen gemeinsamen Gegenschlag aus dem Großkalifat IML und durch die Russen, die den Nichtangriffspakt mit dem westlichen Europa brachen. Mehrere europäische Großstädte wie Wien, Budapest, Bern, Berlin, Warschau, München oder Prag versanken in Schutt und Asche, ganze Landstriche wurden verseucht.
Rund um das Mittelmeer entfachte ein Bodenkampf, der im Laufe der Jahre mehr als zwei Milliarden Menschen das Leben kostete und die breite Todeszone entlang der Frontlinie nördlich des Mittelmeeres entstehen ließ.
Erneut folgte ein nie vereinbarter Waffenstillstand, der immerhin zwei Jahre andauerte. Während dieser Zeit wurden praktisch nur noch Handfeuerwaffen und leicht gepanzerte Transportfahrzeuge produziert.
Die bisherigen weltweiten Nebenwirkungen des Dritten Weltkrieges waren erheblich. Rasch sank die Geburtenrate. Die Ressourcenverteilung erwies sich als äußerst ungünstig, denn im Norden gab es industrielle Anlagen, doch es fehlte an Rohstoffen, und im Süden gab es Rohstoffe, jedoch kaum Industrie. Krankheiten unbekannten Ausmaßes griffen um sich, unter anderem der »Superkrebs«, Männer wurden knapp. Auf der internationalen Raumstation verhungerten die letzten sieben Astronauten. Unablässig heulten in Europa die Sirenen. Nicht wegen der ausbleibenden Luftangriffe der MLA, sondern stets dann, wenn die Wetterlage radioaktiv verseuchte Luftschichten und den dazugehörigen Regen brachte. Hunger und Armut sorgten vielerorts für Aufstände gegen die verbliebenen Regierungen. Die schwersten Unruhen fanden in Russland und den angrenzenden Staaten statt. Die russische Armee drängte die Aufständischen in die Wälder am Ural zurück, sodass entlang des Flusses und des gleichnamigen Gebirges eine weitere Frontlinie entstand.
Ausgerechnet während des ohnehin brisanten Zustandes kam es zu einer weiteren Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes. Ursache waren extrem starke Bewegungen der tektonischen Platten in der Lithosphäre, die in der Umgebung von Japan aufeinandertrafen. Die stärksten Erdbeben seit Menschengedenken ließen fast alle japanischen Inseln