1920er Jahre. 100 Seiten. Jens Wietschorke
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1920er Jahre. 100 Seiten
Reclam
Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:
2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung nach einem Konzept von zero-media.net
Infografik: annodare GmbH, Agentur für Marketing
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961688-9
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020571-6
Krise und Experiment
Im Mai 2019 wurde die dritte Staffel von Babylon Berlin abgedreht – einer Krimiserie, die auf den erfolgreichen historischen Romanen Volker Kutschers basiert und im Berlin der ausgehenden 1920er Jahre spielt. Sie zeigt eine Metropole der Spannungen und der krassen Gegensätze: »Rauschhafter Exzess und extreme Armut, Emanzipation und Extremismus« kommen in Babylon Berlin zusammen, verspricht der Sender Sky in seiner Kurzbeschreibung. »Die deutsche Hauptstadt ist eine Weltmetropole der Verlockungen und Abgründe.« Der riesige Erfolg der mehrfach preisgekrönten Serie der Regisseure Tom Tykwer, Achim von Borries und Hendrik Handloegten hat nicht nur mit dem überaus spannenden Plot zu tun, sondern auch mit der anhaltenden Faszination, die die 1920er Jahre bis heute ausstrahlen. Die kurze Periode zwischen zwei großen historischen Katastrophen, dem Ersten Weltkrieg 1914–1918 und der NS-Diktatur 1933–1945, war eine schwierige Zeit, in der viele alte Sicherheiten wegbrachen. Eben darum bot sie sich aber auch als Versuchslabor für Neues an. Wenn sich der Kommissar Gereon Rath und die Stenotypistin Charlotte Ritter in der Serie durch die Unterwelten der deutschen Hauptstadt kämpfen, dann sind die populären Bilder der Goldenen und der verruchten 1920er Jahre immer mit dabei. Aus ihrem Stoff sind die großen Erzählungen von einem Leben zwischen Aufbruchs- und Untergangsstimmung, zwischen Hoffnung und Scheitern, gemacht.
Eine Szene aus der ersten Staffel von Babylon Berlin
Die 1920er sind eigentlich immer gefragt. Und dabei sind historische Themen in meinem Fach, der Empirischen Kulturwissenschaft an der Universität München, bei den Studierenden nicht gerade die beliebtesten. Vielen ist das 19. Jahrhundert zu weit weg, der Nationalsozialismus zu düster, die Nachkriegszeit zu farblos. Doch wenn ich ein Seminar zu einem Thema der 1920er Jahre anbiete, fallen die Reaktionen eigentlich immer anders aus: Die Roaring Twenties wecken Interesse. Mit dieser Zeit verbinden fast alle etwas: Jazz und Swing, Cole Porter und Josephine Baker, Jean Cocteau und Gertrude Stein, Magnus Hirschfeld und Marlene Dietrich, Prohibition und Cosa Nostra, Sacco und Vanzetti, das neue Nachtleben in den Metropolen, der Rundfunk und der Tonfilm. Dada, Expressionismus und Berlin Alexanderplatz, Lenin, Hindenburg und Mussolini, die politische Mobilisierung von rechts und von links, die ganze Unruhe, Nervosität und Explosivität der damaligen Gesellschaft. Im Jahrzehnt zwischen Revolution und Wirtschaftskrise scheinen sich die sozialen Probleme und die kulturellen Möglichkeiten der Moderne zu verdichten. Innerhalb weniger Jahre wurden diverse Optionen sozialer und politischer Ordnung durchgespielt, die an die Stelle der im Ersten Weltkrieg untergegangenen Monarchien treten sollten: vom autoritären Führerstaat bis zur Anarchie, von völkischen Gemeinschaftsideologien bis zum Kommunismus. Und so intensiv wie selten prägten diese Fragen auch die Entwicklungen der Architektur und der Kunst, der Literatur und der Populärkultur.
Wenn sich die politische Geschichte so unmittelbar in der kulturellen Produktion abbildet, wird sie greifbar. Kürzlich, in einem meiner Seminare zur populären Musik der Zwischenkriegszeit, gingen die Studierenden begeistert daran, Querverbindungen zwischen den Musikstilen und Modetänzen sowie den politischen und alltagskulturellen Entwicklungen der Zeit herzustellen. Wir fragten nach den gesellschaftlichen Kontexten der populären Nonsens-Schlager der frühen Weimarer Republik oder überlegten anhand des Wandels der Singstimme und des neuen Phänomens des crooning, wie sich Geschlechterbilder innerhalb weniger Jahre merklich veränderten. Es wurde deutlich: Die 1920er sind uns erstaunlich nahe. Modern war die Welt schon vorher, aber die Moderne der 1920er Jahre spricht uns stärker an. Sie steht für die Befreiung von Konventionen, für das ironische Spiel mit den gesellschaftlichen Möglichkeiten.
Und sie steht für einen attraktiven Stil. Nicht ohne Grund feiert Max Raabe mit seinen eleganten Chanson-Remakes enorme Erfolge, wird in den Ballsälen Berlins oder Wiens Swing getanzt, werden in Anlehnung an den 1925 erschienenen Roman The Great Gatsby von F. Scott Fitzgerald heute Gatsby-Partys veranstaltet. In Woody Allens Film Midnight in Paris (2011) unternimmt die Hauptfigur Gil Pender alias Owen Wilson mit Begeisterung Zeitreisen in die Pariser Années folles. Auch die Warenwelt der 1920er zieht uns magisch an: Im Januar 2019 wurde angekündigt, dass das Karstadt-Kaufhaus am Berliner Hermannplatz wieder im Stil der 1920er Jahre umgebaut werden soll, mitsamt der berühmten Art-Déco-Fassade, die eine Attraktion der Weimarer Republik war. Und in dichter Folge erscheinen derzeit Bildbände und Großstadtcomics über die 1920er: etwa die Trilogie Berlin von Jason Lutes, der Bildkrimi Berlin 1931 vom spanischen Duo Felipe H. Cava und Raùl oder das Album Es wird Nacht im Berlin der Wilden Zwanziger von Robert Nippoldt und Boris Pofalla.
Für alle Vintage-Fans sind die 1920er also eine wahre Fundgrube. Glanz und Glamour, eine auf Hochtouren Neues produzierende Populärkultur, ein neues Frauenbild. Gleichzeitig ist uns die Dekade aber auch in vielen Aspekten fremd, etwa mit ihrer existenziellen politischen Sprache, ihrem Pathos, der Albernheit ihrer Cabarets und der Gewalt ihrer sozialen Auseinandersetzungen. Wie soll man auf hundert Seiten eine Geschichte dieser spannenden, komplexen 1920er Jahre erzählen? Ich habe mich dafür entschieden, die 1920er als eine Zeit der Krise und des Experiments vorzustellen, als ein Versuchsfeld der klassischen Moderne. Nach der fundamentalen Krisenerfahrung des verlorenen Ersten Weltkriegs schien zunächst alles zur Disposition zu stehen. Nichts hatte mehr Bestand; eine neue Generation baute sich ein neues, wenn auch prekäres Leben auf. Die Geschwindigkeit und die Intensität dieses Lebens waren teilweise berauschend: Im rauen gesellschaftlichen Klima der Nachkriegszeit wurden viele Bereiche des Lebens in einen Sog der kulturellen Pluralisierung und der Politisierung hineingezogen.
Trotzdem sind die 1920er viel mehr als nur eine Zeit der Krise und des Experiments. Denn gleichzeitig blieben erstaunlich viele Dinge beim Alten. Das Alltagsleben der meisten Menschen hatte mit der schillernden Kulturszene nicht sonderlich viel zu tun – besonders auf dem Land oder in der Kleinstadt, wo man teilweise noch so lebte wie im 19. Jahrhundert. Und auch bei der Erneuerung der Gesellschaft griff man auf verschiedenste Rezepte zurück, die bereits im Kaiserreich entwickelt worden waren: im Bereich der Lebensreform, der Jugendbewegung, der künstlerischen Avantgarde. In vielerlei Hinsicht blieben die 1920er Jahre ein Kind der vorangegangenen Epoche.
Wer sich mit den 1920er Jahren in Deutschland beschäftigt, ist also immer mit einem Paradox konfrontiert: auf der einen Seite der kulturelle Glanz der Goldenen Zwanziger und eine der innovativsten Perioden der deutschen Geschichte. Auf der anderen Seite aber eine Gesellschaft zwischen Kriegen und Katastrophen, gezeichnet von Armut, Unsicherheit und Gewalt. Die soziale Ungleichheit war groß: 1919 setzte das Berliner Hotel Adlon neben der Gänseleber für 32 Mark auch eine Hafergrützensuppe für 1,50 Mark auf die Karte. Und die allermeisten Deutschen waren weit davon entfernt, sich diese Hafergrützensuppe ohne weiteres leisten zu können. Wie also passen diese beiden Entwicklungen, die schlagartige Erweiterung der kulturellen Möglichkeiten und das Elend einer ausgebluteten Gesellschaft, zusammen? Für unser historisches Bild von der Weimarer Republik ist das eine Schlüsselfrage.