1920er Jahre. 100 Seiten. Jens Wietschorke

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1920er Jahre. 100 Seiten - Jens Wietschorke


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der Weimarer Republik genügend Luft zum Atmen blieb; der relative Boom der »Goldenen Zwanziger« von 1924 bis 1929 wäre anders nicht möglich gewesen.

      Mit ihrer Deutschlandpolitik stiegen die Vereinigten Staaten auch zum kulturellen Leitbild und zum Inbegriff der Modernität auf. Rationalisierung, Massenproduktion, Konsumorientierung und die sprichwörtlichen »unbegrenzten Möglichkeiten« faszinierten die Deutschen quer durch die sozialen Klassen. Zudem brachte Hollywood ein internationales Flair in die deutschen Kinos. Schriftsteller der »Neuen Sachlichkeit« griffen bevorzugt Themen im American style auf. Das rief freilich auch die Kritiker auf den Plan. Der Schriftsteller Gottfried Benn schrieb als Antwort auf eine Umfrage:

      Es gibt eine Gruppe von Dichtern, die glauben, sie hätten ein Gedicht verfaßt, indem sie ›manhattan‹ schreiben. Es gibt eine Gruppe von Dramatikern, die glauben, sie manifestierten das moderne Drama, wenn sie die Handlung in einem Blockhaus in Arizona spielen lassen und wenn eine Flasche Whisky auf dem Tisch steht.

      Dank der kulturellen Vorbildfunktion der USA verbreitete sich indessen auch die spezifisch amerikanische Ideologie von Liberalismus, Leistung und Erfolg. Nach dem Ende der Monarchie wurde der »Selfmademan« auch in Deutschland zu einer Leitfigur, die das ökonomische Denken der 1920er Jahre mitbestimmte.

      Doch zurück zur Politik: In Deutschland übernahm nach 1918 zunächst die politische Linke die Macht – gleich zu Beginn in Bayern, wo für kurze Zeit eine Räterepublik existierte. Auf Reichsebene war es die gemäßigte Sozialdemokratie unter Friedrich Ebert, die den Ton angab. Als Übergangskanzler und Reichspräsident führte Ebert zügig das allgemeine Wahlrecht, das Tarifvertragsrecht und den Achtstundentag ein. Andererseits setzte er entschieden auf die etablierten bürgerlichen Ordnungen, ließ die linksradikalen Aufstände der Spartakisten unter Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg niederschlagen und verschärfte damit die Spaltungen innerhalb der Linken. In Weimar wurde am 11. August 1919 eine neue, liberale und demokratische Verfassung verabschiedet. Von einer »Weimarer Republik« war allerdings erst gegen Ende der 1920er Jahre die Rede, als besagte Republik in die Krise geriet. Das verschaffte dieser Formulierung einen negativen Beiklang; für die Nationalsozialisten wurde »Weimar« dann erst recht zu einem politischen Feindbild.

      Unsicherheit, Unordnung und Krise bestimmten das Lebensgefühl in der Weimarer Republik. Mehr als die Jahrzehnte des Kaiserreichs waren die 1920er Jahre denn auch eine Zeit ausgeprägter politischer Gewalt. Einer ganzen Gesellschaft steckte der Krieg in den Knochen, überall sah man Kriegsversehrte: nervenkranke, Menschen mit Prothesen oder entstellten Gesichtern. Der Brutalisierungsschub der Kriegszeit setzte sich mit den politischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit fort. Und so kam die Republik vor allem in ihren ersten Jahren kaum zur Ruhe: Revolution und Straßenkämpfe, Kapp-Putsch, Aufstände in Oberschlesien und im Ruhrgebiet, »Deutscher Oktober« in Sachsen, Thüringen und Hamburg, Hitlerputsch, Ruhrkrise. Dazu kamen reihenweise politische Morde: der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner, der ehemalige Finanzminister Matthias Erzberger, der Publizist Maximilian Harden und Reichsaußenminister Walther Rathenau waren die prominentesten Opfer. Wenn der englische Journalist George Eric Rowe Gedye die frühe Weimarer Republik als Revolver Republic bezeichnete, so traf er dieses Gewaltszenario recht genau. Und nach einigen Jahren der relativen Ruhe setzten die Kämpfe infolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 wieder ein: der berüchtigte »Blutmai« von 1931 in Berlin-Wedding ist nur eines von vielen Ereignissen.

      Ihre ungeheure Spannung bezog die Zeit unter anderem daraus, dass immer die ganz große Frage im Raum stand: US-amerikanischer Liberalismus oder sowjetischer Kommunismus? Wer beides ablehnte, schloss sich vielleicht einer der deutschnationalen und rechtsextremen Bewegungen an, die sich zunehmend radikalisierten und die Reste des zerschlagenen Militärs um sich scharten. Die einen befürchteten, Berlin könnte wie Chicago werden, während die anderen eher Angst hatten, Berlin könnte wie Moskau werden. Beides stand, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise, für die Herausforderungen der modernen Massengesellschaft. Ob als kapitalistische Konsumgesellschaft oder als kommunistisches Kollektiv: Die »Masse« wurde zu einem der wichtigsten Schlagworte der Zeit. Der Filmkritiker Siegfried Kracauer sprach vom Ornament der Masse. Der Schriftsteller Elias Canetti begann Anfang der 1920er Jahre mit den umfangreichen Vorstudien zu seinem Buch Masse und Macht. Über seine Erfahrungen während der Demonstrationen am Wiener Justizpalast 1927 schreibt Canetti: »Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm.« Und auch der Spanier José Ortega y Gasset arbeitete an einer Abhandlung über das Problem der Masse: 1930 erschien La Rebelión de las Masas (Der Aufstand der Massen). Diese Bücher waren auch Reflexionen über einen alltäglichen Zustand: Überall traf man auf Menschen, in den Städten, den Häusern, den Hotels und Cafés, den Kinos, den Boulevards, den Sportstadien, den Stränden. Die breite Bevölkerung hatte sich ihre Freiräume erobert. Der 1918 endlich durchgesetzte Achtstundentag und die neuen Konsummöglichkeiten sorgten dafür, dass viel mehr Menschen am öffentlichen Leben teilnehmen konnten, als es noch im Kaiserreich der Fall gewesen war. Und bald sollte das ausdrücklich auch für die Frauen gelten.

      Wer der »Masse« partout nichts Positives abgewinnen konnte, redete lieber vom »Volk«. Dieser Begriff schien die Einheitssehnsüchte der Zeit zusammenzufassen: Das »Volk« war die geordnete, sozial gegliederte und von fremden Einflüssen gereinigte Masse, mehr Gemeinschaft als Gesellschaft. Als politisch enorm aufgeladene Begriffe geisterten »Volk« und »Masse« durch die Publizistik der Weimarer Republik, und wenn man die politisch-ideologischen Auseinandersetzungen der Zeit verstehen will, kommt man um diese beiden Konzepte nicht herum. Nicht zuletzt bereitete sich in diesem Spannungsfeld auch der Aufstieg der Nationalsozialisten vor, bei denen »Volk« und »Volksgemeinschaft« geradezu als religiöse Erlösungsformeln fungierten. In diesem politisch aufgeheizten Klima gewann die öffentliche Rede an Bedeutung – auch, weil sie ab Mitte der 1920er Jahre dank des Mikrofons und des Rundfunks viel größere Zuhörermengen erreichen konnte als zuvor. Während die politischen RednerInnen der Revolutionszeit 1918/19 noch regelrecht brüllen mussten, konnten Hitler und Goebbels später die Resonanzen des Lautsprechers für ihre Reden nutzen, was eine ganz andere Rhetorik und Dramaturgie ermöglichte.

      Welche Generationen prägten die 1920er Jahre? Welchen Erfahrungshorizont hatten die jungen Leute, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs auf die Arbeitsmärkte drängten und sich ihren Platz in einer instabilen, verwilderten Gesellschaft suchen mussten? Was die Biographien der Männer betrifft, war da zunächst die Frontgeneration: Männer, die 1914 mit 20 oder 25 Jahren in den Krieg gezogen waren und nun zurückkehrten, um das überalterte Establishment des Kaiserreichs herauszufordern und ihren Anspruch auf die wichtigen Posten in der Gesellschaft geltend zu machen. Dann waren da aber auch noch die Jüngeren, die den Krieg nur von zu Hause aus erlebt hatten. Ernst Glaeser hat 1928 den definitiven Roman über diese Generation geschrieben und einen Sensationserfolg damit erzielt. In Jahrgang 1902 schildert Glaeser die Erfahrungen einer Jugend, deren Pubertät in die Kriegszeit 1914–1918 fiel. Für die Kriegsteilnahme waren sie zu jung, von den schlimmen »Kohlrübenwintern« 1916 und 1917, dem Elend, der Kriegsniederlage und dem Massensterben während der Spanischen Grippe wurden sie geprägt.

      Die Angehörigen des Jahrgangs 1902 wurden 1920 18 Jahre alt. Sie gehörten zu denen, die fast aus dem Nichts heraus eine neue gesellschaftliche Ordnung aufbauen mussten, hatten aber beim Gerangel um Jobs oft das Nachsehen. Gleichzeitig mussten sie erst einmal den Bruch mit den Leitbildern ihrer wilhelminischen Kindheit verarbeiten: Als 12-Jährige hatten sie noch den Soldaten zugejubelt, die in Richtung Belgien und Frankreich abfuhren, vier Jahre später waren ihre naiven Kriegsträume geplatzt, ohne dass sie eigentlich dabei gewesen waren. Sie und die noch Jüngeren, in etwa die Jahrgänge 1900 bis 1910, bildeten die chancenlose Jugend der Weimarer Republik. Gesellschaftliche Stabilität kannten sie kaum; erwachsen wurden sie in einer Zeit permanenter Unsicherheit. Auch spätere NS-Verbrecher der ersten Reihe wie Reinhard Heydrich, Heinrich Himmler, Hans Frank, Adolf Eichmann und Odilo Globocnik gehörten zu dieser »verlorenen Generation«.

      Die Generationserfahrungen der Frauen folgten in vielerlei Hinsicht der gleichen Logik. Viele Frauen der Kriegsgeneration rückten in neue Berufe und verantwortungsvollere öffentliche Positionen auf, als die wehrfähige männliche Bevölkerung ab 1914 eingezogen wurde, mussten aber nach Kriegsende


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