1920er Jahre. 100 Seiten. Jens Wietschorke
Читать онлайн книгу.für viele schrieb die Journalistin und erfolgreiche Tennisspielerin Paula von Reznicek 1928:
Die Frau hat eine andere Stellung als früher, sie ist beruflich oder sportlich tätig, sie ist nicht mehr behütet, im Haushalt gefesselt, ihr Wissen, ihre Interessenssphären sind erweitert, sie ist Kamerad, Frau, Geliebte, Mutter in einer Person. Sie hat das Recht und die Sehnsucht nach mehr Freiheit als früher. Ob sie sie ausnutzt, und wie weit – ist ihre Sache.
Stand also die deutsche Gesellschaft nach dem Zusammenbruch der Monarchie vor einem kompletten Neuanfang? War 1918 eine »Stunde null«? Sicher nicht. Bei aller Faszination für den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel darf man weder übersehen, dass schon die Zeit vor 1914 eine überaus dynamische Periode gewesen war, noch darf man die weitreichenden Kontinuitäten unterschätzen, die das Kaiserreich mit der Weimarer Republik verbinden. Das wird selbst an der Spitze der alten Gesellschaftsordnung deutlich, dem Adel. Zwar war das Ansehen der deutschen Adelsfamilien durch das Ende der Monarchie und das Abtreten der Hohenzollern stark beschädigt, allerdings konnten viele Adelige ihre Privilegien und Netzwerke durchaus in die neue Zeit hinüberretten. In Militär, Diplomatie, Politik und der höheren Verwaltung – also im Staatsdienst der Weimarer Republik – waren sie nahezu unverändert präsent, und auch ihren Landbesitz konnten sie in den meisten Fällen halten. Überhaupt blieb die soziale Struktur der deutschen Gesellschaft erstaunlich intakt. Schließlich wusste niemand, in welche Richtung das politische Pendel als Nächstes ausschlagen würde.
Kaiser Wilhelm II., der am 9. November 1918 überstürzt in die Niederlande ausgereist war, residierte unterdessen in Haus Doorn bei Utrecht, schimpfte über die »Saurepublik« und wartete noch lange auf die Gelegenheit, die Monarchie in Deutschland wiederherzustellen. Gemeinsam mit seinem Sohn, Kronprinz Wilhelm, war er der Auffassung, dass zunächst »ein Diktator den Karren aus dem Dreck ziehen« müsse, bevor die Hohenzollern wieder als Monarchen herrschen könnten. Der alte Kaiser und das rechtskonservative Establishment der Republik – allen voran der ab 1925 amtierende Reichspräsident Hindenburg – sahen daher in aller Ruhe zu, wie die Nationalsozialisten immer mehr an Zuspruch gewannen. Und sie vertraten 1933 die fatale Auffassung, dass ein Reichskanzler Hitler ihrer Sache mehr dienen würde als eine Fortsetzung der prekären Koalitionspolitik der frühen 1930er Jahre.
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