Wie frei wir sind, ist unsere Sache. Ulrich Pothast
Читать онлайн книгу.zu sein. Zwischen die Erörterungen zu Platon und Aristoteles setze ich ein Kapitel, in welchem existenzphilosophische und neuere Analytische Theorien, die meines Erachtens auf eine unmittelbare Selbstwahl der menschlichen Person zielen, einer Kritik unterzogen werden. Entsprechend steht der Zweite Teil unter dem Titel: Wegweisendes Altes und gewagtes Neues.
Der Dritte Teil des Buches, Personeigene Feiheit und Selbstverhältnis, behandelt mehrere Weisen des Selbstumgangs, die für die genannte Freiheit wie auch für indirekte Willensorientierung bedeutsam sind. Durch sie wird eine sinnvolle Form dieser Freiheit teils in besonders tiefreichender Weise verwirklicht, durch ihren unangemessenen Einsatz oder das Unterbleiben dieses Einsatzes aber auch verfehlt. Es handelt sich, metaphorisch gesagt, um personeigene Werkzeuge, die nicht jeder jederzeit einsetzen muss, die aber, wenn eingesetzt, zu speziell ausgeprägten Formen der individuellen Willensorientierung führen.
Das Thema der Freiheit persönlicher Entscheidung hat für die abendländische Philosophie ein besonders großes Gewicht gewonnen, weil es sich früh mit dem Thema der Verantwortung des Menschen für eigene Handlungen verbunden hat. Dass personeigene Freiheit mit der Möglichkeit gesetzmäßigen Hervorgehens menschlichen Wählens und Tuns aus vorausliegenden Bedingungen vereinbar ist, wurde vorhin schon gesagt. Dass die Vereinbarkeit in diesem Fall nicht zu der klassisch-kompatibilistischen Auffassung des Verhältnisses von Freiheit, Verantwortung und Strafe führt, sondern zu einer grundsätzlich anderen Deutung von Verantwortlichkeit und Schuld, soll im Schlusskapitel erkennbar werden. Unter dem Titel Personeigene Freiheit und der Schuldgedanke werden elementare Züge einer anderen Auffasssung von Schuld und Schuldbewältigung vorgetragen.
1. Auch wenn wir den »festen Willen« haben, etwas Bestimmtes zu tun, kann sich bis zum letzten Augenblick alles ändern
Lew Tolstoi erzählt in Krieg und Frieden eine Episode aus Napoleons Russlandfeldzug. Nach der Niederlage bei Austerlitz und weiteren Feindseligkeiten hatte der junge Zar Alexander I. mit dem Frieden von Tilsit eine Kehrtwende vollzogen und das russisch-französische Bündnis erneuert. Eine sehr freundschaftliche Begegnung Alexanders mit Napoleon wird im Roman ausführlich beschrieben. Dennoch kam im Juni 1812 die Nachricht, dass Napoleon mit einer riesigen Streitmacht die Memel überschritten und russisches Gebiet betreten habe. Damit drohte für Russland ein großer, potentiell katastrophaler Krieg. Der junge Alexander war durch Napoleons Treubruch aufs äußerste erbittert. Nach Tolstoi sprach er die Worte: »Ich werde mich erst dann zufriedengeben, wenn nicht ein einziger bewaffneter Feind mehr in meinem Lande zurückgeblieben ist.«1 Der Erzähler betont, dass dieser Satz dem Zaren sehr gefiel und vollständig seine Empfindung wiedergab. Unverzüglich ließ der Zar einen Brief an Napoleon schreiben, in dem er dessen Vorwände für den Angriff zurückwies und noch einmal seinen Friedenswillen betonte. Den relevanten Satz ließ er in den Text nicht aufnehmen. Denn er fürchtete, dass dieser Ausdruck seiner ganzen Entschlossenheit den letzten brieflichen Versuch zum Erhalt des Friedens belasten könne. Er beauftragte jedoch seinen Generaladjutanten Balaschow, in Napoleons Lager zu reisen, den Brief dem französischen Kaiser persönlich zu übergeben und dabei wörtlich jenen Satz zu übermitteln, der im schriftlichen Text weggelassen war.
Die Franzosen hielten den General Balaschow zunächst mehrere Tage hin, bis er von Napoleon empfangen wurde. Der müde, von Bonapartes Anblick etwas eingeschüchterte, vom anfangs freundlichen Tonfall des mächtigen Mannes zusätzlich überrumpelte General übergab den Brief und trug Argumente vor, die den russischen Friedenswillen zeigen sollten. Über seinen mündlichen Auftrag berichtet der Erzähler, dass Balaschow die zu überbringenden Worte des Zaren wörtlich im Gedächtnis hatte und an den Befehl des Zaren dachte, »doch ein verworrenes Gefühl hielt ihn zurück. Er konnte diese Worte nicht sagen, obgleich er es doch wollte.«2 Schließlich brachte er einen anderen Satz hervor, der nur Napoleons Rückzug hinter die Memel verlangte, aber die unbedingte Entschlossenheit des Zaren, keinen Kompromiss zu schließen, nicht angemessen wiedergab.
Tolstois Darstellung lässt keinen Zweifel daran, dass Balaschow vor der Begegnung mit Napoleon durchaus willens war, den Satz des Zaren befehlsgemäß zu überbringen. Jedoch konnte er es nicht. Balaschow wurde im entscheidenden Augenblick von einem unklaren Impuls, eben jenem »verworrenen Gefühl« beeinflusst und gehemmt. Er »wollte« zwar seine Pflicht tun, heißt es. Aber dieses »Wollen« war im entscheidenden Augenblick höchstens noch eine blasse Regung, es löste keine Handlung aus, es wurde nicht handlungswirksam, wie wir in der Philosophie sagen. Zu diesem Zeitpunkt war es daher kein Wollen im typischen, philosophisch eingebürgerten Sinn mehr, sondern nur noch etwas wie Sich-verpflichtet-Fühlen, Für-besser-Halten oder ähnlich. Stattdessen müssen wir den Text so deuten, dass in eben diesem Augenblick, als die Pflichterfüllung gefordert war, unter dem Einfluss jenes »verworrenen Gefühls« sich quasi im Spalt einer Sekunde ein schwächeres Wollen bildete. Dieses löste wirklich eine Handlung aus, nämlich dass der General einen milderen Satz sprach, als ihm aufgetragen war. Bonaparte erfuhr nichts von Alexanders fester Entschlossenheit, ließ gegen Balaschow noch eine Flut bramarbasierender Tiraden los, und seine Armee marschierte weiter – zur Verwüstung weiter Teile Russlands und in ihren eigenen Untergang.
Handeln aufgrund eines kurzfristigen eigenen Wollens, das die Person in langfristiger Perspektive und zu anderen Zeitpunkten selbst für falsch erachtet und missbilligt, findet sich allgegenwärtig und alltäglich. Es ist uns allen aus der Beobachtung unserer selbst wie auch anderer vertraut. Wir sprechen davon, dass viele Menschen dazu neigen, aufgrund temporärer Impulse zu handeln, welches Handeln dann später oft bereut wird. Wir sprechen auch von größerer oder geringerer Impulsanfälligkeit einzelner Personen. In der Psychologie wird darüber diskutiert unter dem Stichwort »impulsivity«3, in der Philosophie wird der Problemkreis seit den Griechen als »akrasia« alias »Unbeherrschtheit« (auch unrichtig »Willensschwäche«) abgehandelt.4 Dass es die Versuchung zum Tun des Falschen gibt und dass Menschen ihr häufig erliegen, gehört zu den elementaren Erfahrungen, die Personen mit ihrem Wollen und Tun machen können. Die Berichte darüber beginnen mit der Geschichte von Adam und Eva. Auch die griechische Epik und Dramatik sind voll von Beispielen dafür, und die griechische Philosophie hat sich des Themas früh angenommen. Es findet sich auch früh in anderen großen Schriftkulturen.
Der seinen temporären Impulsen ausgelieferte Mensch ist in dem Sinn unfrei, der anfangs dargestellt wurde: Er bringt es unter dem Einfluss solcher Impulse nicht zustande, seinen bei ruhiger Überlegung für richtig und bindend erachteten Handlungs-Leitlinien zu folgen. Vielmehr ereignet es sich, dass er von Zuständen der Furcht, der Nachgiebigkeit gegenüber den Erwartungen anderer, der Eitelkeit, eigenen Begierden, dem Wunsch nach Geld, oder irgendeinem anderen Impuls hingerissen wird. Der Mensch möchte wohl gern von dieser Anfälligkeit frei werden; aber insbesondere in den stark ausgeprägten Fällen müssen wir sagen, »er schafft es einfach nicht«, »er fällt immer wieder um«, er ist gar »wie ein Blatt im Wind«. Er bleibt oft zu seinem eigenen Leidwesen in dem anfälligen, durchaus als »unfrei« zu bezeichnenden Zustand, in dem wir ihn kennengelernt haben. Die Unfreiheit aus dem Unvermögen, zeitweiligen Anreizen zu widerstehen, die sich durchaus als kurzfristiges Wollen der Person selbst geltend machen, scheint mir die folgenreichste Form von Unfreiheit unter Menschen zu sein. Überwiegendes, kurzsichtiges Impulshandeln ist als »die niedrigste Form moralischen Lebens« beschrieben worden.5 Es ist nicht die sozial oft auch geschätzte Eigenschaft der Impulsivität im Sinn von Direktheit, Offenheit, Spontaneität, um die es hier geht, sondern vielmehr Impuls-Anfälligkeit. Eine impulsanfällige Person ist tendenziell unfähig, Handlungsanreize, die nicht zu ihrer vorher in eigener Überlegung entworfenen Handlungslinie passen, abzuweisen. Impulsanfällige Personen neigen dazu, sich solche Anreize kurzfristig zu eigen zu machen. Sie handeln dann im entscheidenden Moment der Form nach aus eigenem Antrieb. Allerdings ist dies oft ein Handeln, das die impulsanfällige Person in übergreifender Betrachtung außerhalb des entscheidenden Zeitfensters nicht für richtig halten kann und diese Handlungsweise auch nicht dauerhaft als ihr zu eigen haben will. Die zerstörerischen Wirkungen von Impulsanfälligkeit finden sich nicht nur kurzzeitig im Alltag. Sie können