Wu. Frank Rudolph
Читать онлайн книгу.erster Zuibaxian-Lehrer, ist über 50 und berührt mit seinen Füßen problemlos die Nase, obwohl er sehr kurze Beine hat und recht breit gebaut ist. Diese Männer haben ihr Leben lang bei Meistern erster Klasse trainiert, von Kindesbeinen an.
Foto 9: Traditionelle chinesische Dehnung.
Im allgemeinen sind die Chinesen heute schlechter gedehnt als früher. Die Wushu-Profisportler haben nicht mal eine halb so gute Dehnung wie Cheng Jianping und das, obwohl sie meist etwa zwanzig Jahre alt und durchtrainierte Athleten sind. Das Bein wird nicht mehr eng, sondern lang gedehnt, so wie in der Gymnastik.17 Der Grund dafür ist, dass enge Dehnung die Muskeln stärkt und zuviel Kraft entstehen lässt, so dass man sich während einer Vorführung nicht mehr ästhetisch genug bewegen kann. Ursprünglich ging es jedoch nicht um Ästhetik, sondern um Kraft. Doch auch, wenn nach meiner Erfahrung die chinesische Art der Dehnung die beste der Welt ist, ist sie natürlich nicht alles. Sie ist eine wichtige Grundlage, aber sie sagt noch nichts über die Kampfqualität aus.
Einher mit dem Gesagten geht ein weiterer Punkt, die Stellungen. Zu den wichtigsten Stellungen und Schritten (bufa, 步法) zählen der gongbu (弓步, Bogenstand, jpn. zenkutsu dachi 前屈立) und der mabu (马步, Pferdestand, jpn. shiko dachi 四股立). Studiert man den heutigen mabu, so ist daran keine Unregelmäßigkeit festzustellen. Das ist nicht als Lob gemeint. Die Haltung ist eindeutig auf Schönheit und Ästhetik hin ausgelegt. Die Füße sollen parallel stehen, der Stand muss sich mit dem Körper und den Händen harmonisch ausbalancieren. Auf Chinesisch sagt man dazu liang xiang (亮象, Showform).
Betrachtet man alte Gemälde und Kunstwerke mit Darstellungen von Kämpfern, sieht man einen ganz anderen mabu, eine Haltung, die auf Stabilität und Anwendbarkeit ausgerichtet ist. Als ich einmal mit Meister Li unterwegs war, sahen wir eine Abbildung in Stein, auf der alte Kämpfer (xiake, 侠客) dargestellt waren. Mein Lehrer wies mich auf den Stand der Figuren hin. Ihre mabu und gongbu waren bei weitem nicht so elegant, wie man das heute erwartet, doch sie drückten ganz deutlich Kraft und Stabilität aus.
Foto 10: Moderner gongbu. Er ist viel zu lang und wird dadurch kraftlos und instabil.
Foto 11: Meister Li Yuanchao im »echten« gongbu. Er war ein Schüler eines der letzten Xingyi-Meister in China – Großmeister Qi Dianchen. Auch sein Stand ist sehr tief, aber dennoch sind seine Beine nicht so langgezogen und haben somit Stabilität. Dadurch ist er auch flexibel, und seine Handtechniken sind kräftig und können jederzeit entsprechend den Umständen verändert werden. Man beachte die durch hartes Training gekräftigten Arme und den Ausdruck der Kraft, die in dem alten Meister steckt, der noch dazu schwerste Zeiten in China durchleben musste, wie Kulturrevolution und Hungersnöte.
Foto 12: Meister An in traditionellem tiefen Mabu-Stand.
Wie ich im Kapitel über die yanyu (S. 357) zu erklären versuchen werde, entspricht der heutige Kunstgeschmack hinsichtlich des wushu nicht mehr dem, der in den alten Steinreliefs zum Ausdruck gebracht wurde. Letzterer orientierte sich am Wissen um die Anwendbarkeit der Kraft und der Technik, an der realen Kampffähigkeit, ganz so, wie dies einst auch die Zuschauer eines Gladiatorenkampfes in Rom gesehen haben werden.
Traditionelles und heutiges Training
In den alten Stile der chinesischen Kampfkunst wurde immer Wert darauf gelegt, durch beharrliches Training (gongfu) ein Verständnis für den eigenen Körper und den eigenen Geist zu schaffen. Die Meister strebten danach, sich selbst zu verstehen, das eigene Wesen zu entdecken. Das ist etwas grundsätzlich anderes als das Streben nach banalen Glücksmomenten, wie sie sich nach einem Sieg in einem sportlichen Wettkampf einstellen.
Es ist ein Irrglaube, dass man wushu schnell erlernen kann. Als Sportler trainiert man drei bis vier Jahre, um eine Medaille zu gewinnen. Dann wird man Trainer und beginnt das Erlernte zu unterrichten. Wer möchte schon bei jemandem mit solch einer Karriere Unterricht nehmen? Was kann man dort lernen? Mein Meister, Li Zhenghua, trainierte 20 Jahre jeden Tag bei den besten Meistern seiner Zeit, bevor er von Meister Xiong Daoming (雄道明) das chushi (出师) bekam. Chushi bedeutet, dass man von seinem Lehrer die Erlaubnis bekommt, von nun an selbst Schüler anzunehmen, weil man die nötige Reife hat. Es entspricht in etwa dem japanischen menkyo kaiden18. Obwohl es durchaus noch diese Lizenzierung gibt, greift man immer seltener darauf zurück. Die Schüler halten meist nicht mehr solange durch. Es ist einfach unseriös, wenn heute jemand nach fünf oder vielleicht auch zehn Jahren unbeständigen Trainings Visitenkarten drucken lässt, auf denen er sich als Meister oder shifu ausweist. Ganz davon abgesehen, dass shifu eine Art Titel ist, den man von seinen langjährigen Schülern erhält. Kein seriöser Lehrer würde in China auf die Idee kommen, sich vor anderen als shifu zu bezeichnen. Ähnlich verhält es sich mit den sensei (先生) in Japan. Und so etwas ist nicht bloß auf Asien beschränkt. Wenn sich früher ein fremder Fechter, der sich prahlerisch als Meister ausgab, in Deutschland, Frankreich oder Italien im Gebiet eines echten Meisters niederließ, konnte ihn dieser kühne Entschluss schnell das Leben kosten.
Es gibt heute viele Veröffentlichungen, die sich mit der Frage beschäftigen, was wohl besser sei, modernes oder klassisches wushu. Neulich las ich einen Bericht, in dem es hieß, modernes wushu sei auf alle Fälle schwieriger, da es ja eine Weiterentwicklung sei. Eine überflüssige Abhandlung mehr, die leicht zu widerlegen ist. Es gibt in vielen Bereichen den Punkt, an dem man sagen kann und muss: Bis hierher und nicht weiter. Eine »perfekte« Sache kann man nur noch verderben, wenn man sie verändert. Ich selbst habe es an der praktischen Erfahrung gemerkt. Baguazhang übte ich ziemlich lange. Ebenso das yinyangchui (阴阳锤 – siehe S. 254 f.) von Meister Zeng Tianyuan (曾天元 – siehe S. 185 ff.), einem Lehrer Meister Lis. Bei beiden verstehe ich die Kraftprinzipien noch nicht ganz. Selbst Meister Li, der das yinyangchui von Zeng Tianyuan nun schon an die 40 Jahre trainiert, sagt, dass es immer noch einen Unterschied gibt im Vergleich zu Meister Zeng. Echtes wushu ist sehr schwer zu meistern.
Die neuen Wettkampfformen habe ich bei den besten Trainern Chinas trainiert. Innerhalb von nur einer Woche lernte ich die höchste Qualität des heutigen chinesischen nanquan (Südfaust), in einer weiteren Woche lernte ich den Umgang mit Säbel (dao, 刀), Schwert (jian, 剑) und Lanze (qiang, 枪). Das fiel mir nicht schwer. Nachdem ich einige Jahre bei Meister Li durch eine traditionelle Schule gegangen bin, empfand ich das Training der Profisportler im staatlichen Wushu-Verband als leichte Aufwärmgymnastik. Mir ist bewusst, dass sich das arrogant anhört. Es ist aber dennoch wahr. Während der Ausbildung im traditionellen wushu musste ich mich durch Übungen kämpfen, die alles andere leicht erscheinen lassen. Hätte ich das für mich fruchtlose Training im Verband weiter betrieben, wäre ich heute vielleicht ein echter Wushu-Champion.19
Es besteht ein deutlicher Unterschied zwischen normalem Training und der Ausbildung in der echten chinesischen Kampfkunst. Ein Freund von mir beschrieb das Phänomen mit den Worten: »In den alten Kampfkünsten studierte man Kraft und Technik auf sehr harte Weise, immer mit dem Ziel, die größtmögliche Wirkung im Kampf zu erzielen. Auf diesem Weg erreichte man eine Geschicklichkeit, die Ungeübte für wunderbar hielten. Die Meister demonstrierten Beispiele ihrer Stärke und ihrer Geschicklichkeit. Sie zerschlugen Bäume oder Steine mit ihren Händen. Solche und ähnliche Tricks vollführten sie mit spielerischer Leichtigkeit. Sie konnten dies, da ihre Kampfübungen ungleich härter ausfielen. Heute lässt man diese essentiellen Elemente weg, um nur noch das ›Nebensächliche‹ zu trainieren. Aber ohne die nötige Kampfkraft bleibt das Studium der Kampfkunst wirkungslos.«