Mississippi Melange. Miriam Rademacher
Читать онлайн книгу.mein Salatdressing anzurühren pflegte. Nie entdeckte ich auch nur eine Schuppe oder ein Haar von dem gefräßigen Ding. Und natürlich glaubte ich auch nicht an dieses Hirngespinst. Es war nur eine von Katalies kleinen Verrücktheiten, die ich ihr zuliebe eine Zeitlang am Leben hielt. Genauso lange, wie Katalie brauchte, um heimzukehren.
»Wie konntest du das Mädchen nur verlieren?« Zum wiederholten Male stellte mir mein Vater diese Frage und begleitete sie wie jedes Mal mit einem fassungslosen Kopfschütteln.
Ja, wie? Hätte ich doch nur geahnt, dass Katalie von meiner Existenz wusste, dann hätte ich mich von Anfang an anders verhalten, hätte mich darum bemüht, ihr Vertrauen zu gewinnen, statt wie ein Geheimagent hinter ihr herzuschnüffeln. Doch jetzt war es zu spät, um über alternative Strategien nachzudenken. Ich musste Maiberg seine tägliche Mail zukommen lassen, und darin würde, wie auch in den vorangegangenen, auf keinen Fall zu lesen sein, dass Katalie ihre Wohnung seit nunmehr drei Tagen nicht mehr betreten hatte.
Es fiel mir nicht schwer, mir ein paar Zeilen über Katalies Beschäftigungen der letzten Stunden auszudenken. Oft genug schrieb ich ja herzerweichende Briefe für die Daisy und erfand auch regelmäßig recht plausibel klingende Zahlen für die Haltestellenstatistik. Da war es auch keine große Sache, sich etwas für die leere Mail auf meinem Rechner auszudenken. Doch je länger der Cursor fröhlich blinkte, desto mehr musste ich einsehen, dass es gar nicht so einfach war, einen passenden Tag für Katalie zu erfinden. Schließlich behauptete ich dreist, dass sie den Vormittag verschlafen, danach Papierblumen gebastelt und auf ihre Fensterbänke gelegt hatte, während sie jetzt am frühen Abend zu einem Spaziergang durch die Gassen nahe der Gammelgade aufgebrochen war. Den Abend würde sie sicher wieder einmal Chips essend vor dem Fernseher zubringen, so meine Prognose. Ja, ich konnte sie jetzt fast vor mir sehen, wie sie da im roten Jogginganzug vor der Glotze saß.
Lächelnd drückte ich auf Senden, als mein Vater hinter mir murmelte: »Aber heute ist Freitag. Und freitags arbeitet sie doch immer bei Brugsen.«
Ich schloss für einen Moment die Augen. Mein Vater hatte natürlich Recht. Vor lauter Bemühungen, ein paar fiktive Katalie-Stunden zu ersinnen, war mir das Naheliegende entfallen. Sofort jagte ich der ersten Mail eine zweite hinterher, in der ich ausführlich erklärte, warum Katalie von ihrem gewohnten Rhythmus abgewichen war.
Gerade hatte ich sie per Mausklick auf die Reise geschickt, als mein Vater, der noch immer hinter mir stand, leise sagte: »Jetzt würde ich an seiner Stelle erst recht misstrauisch werden.«
Noch einmal schloss ich die Augen und konzentrierte mich auf eine von mir selbst erdachte Atemübung, von der ich hoffte, dass sie den Geist klärte und beruhigte. Die Übung taugte nichts.
»Warum kannst du deine Einwände nicht anbringen, bevor ich eine Nachricht abschicke«, fauchte ich.
»Du hast mich nicht nach meiner Meinung gefragt«, war die knappe Antwort. »Aber aus reiner Freundlichkeit lasse ich dich an meinen Bedenken teilhaben. Wenn ich dieser Maiberg wäre, würde ich nach Erhalt dieser beiden Mails augenblicklich hier bei dir anrufen. Oder noch besser: Ich würde mich ins Auto setzen und gleich selbst herkommen.«
»Und gnade mir Gott, wenn ich dann keine gute Erklärung dafür habe, warum ich seit Tagen in die Fenster einer verlassenen Wohnung starre. Vielleicht ist das alles nur ein Test und sie hat die letzten Tage bei Maiberg selbst verbracht. Dann bin ich soeben durchgefallen«, entfuhr es mir. »Was soll ich denn jetzt nur machen?«
»Antworten auf seine Fragen suchen, bevor er sie stellen kann. Das würde ihn beeindrucken«, schlug mein Vater vor. »Oder noch besser: Du gehst los und suchst das Mädchen. Ich kann sowieso nicht verstehen, warum du noch hier herumsitzt, anstatt jeden Kieselstein links und rechts der Gammelgade umzudrehen.«
»Fein«, erwiderte ich, und meine Stimme klang unfreundlicher als beabsichtigt. »Dann bleib du bitte hier und beobachte für mich den gegenüberliegenden Hauseingang. Und sobald Katalie heimkehrt, rufst du mich auf meinem Handy an, verstanden?«
Mein Vater nickte artig und griff nach dem Plastikfernglas auf der Fensterbank.
Ich aber war noch nicht fertig. »Und behalte auch gleich diesen Fressnapf neben dem Halsband im Auge. Ich will endlich wissen, auf welche Weise sein Inhalt immer wieder verschwindet.« Mein Vater sah bereits aus dem Fenster, doch ich hatte noch ein paar Abschiedsworte für ihn. »Und kein Fernsehen und kein Radio, hörst du? Die Nachbarn werden schon misstrauisch.«
Draußen auf der Straße fiel feiner Nieselregen auf den Asphalt. Bald würden die Läden schließen, über allem lag ein seltsames Dämmerlicht.
Ich schlug den Jackenkragen hoch und lief mit schnellen Schritten dem Sukkertop entgegen, bog aber kurz vor dem Café in eine Seitenstraße ein. Mein Interesse galt der Rückseite des Gebäudes, dem Ort, an dem sich Katalies Spur verlor. Schon bald fand ich mich auf einem Hinterhof wieder, der neben großen Mülltonnen auch einem Kaninchenstall und einem Fahrradschuppen Platz bot. Der Gestank verrottender Essensreste lag in der Luft. Ich drückte beide Nasenflügel fest zusammen und überlegte: Von hier aus hätte Katalie in den Seitengassen der Gammelgade abtauchen, einige hundert Meter später wieder zur Hauptstraße zurückkehren und an einer der weiter unten gelegenen Haltestellen den Bus in die Innenstadt nehmen können. Vom Zentrum Esbjergs aus konnte ihr Weg sie einfach überall hingeführt haben. Vielleicht war sie mittlerweile nicht einmal mehr in Dänemark.
Ich gab der größten Mülltonne einen Tritt und dann noch einen. Zu einem dritten kam es nicht, weil mein Handy in der Innentasche meiner Jacke zu klingeln begann. Hastig zog ich es hervor. Aber der Anruf kam nicht von meinem Vater. Es war Piet vom Fitnesscenter, der mich bat, vorbeizuschauen, um einen verstopften Abfluss zu reinigen. Außerdem hatte seine Yogalehrerin zu Anfang November gekündigt und er brauchte eine Vertretung. Ich sagte allem zu, in der Hoffnung, im November noch am Leben zu sein, was zweifellos davon abhing, ob es mir gelang, Katalie wiederzufinden, bevor Maiberg mich fand, und legte auf.
Irgendwo musste dieses Mädchen doch stecken. Und wer wusste schon mehr über sie und ihr Leben als ich?
Kapitel 4
»Smiljan! Wie schön, dass du einmal hereinkommst und nicht nur draußen herumlungerst. Wie geht es deiner Schwester?«
Es war, als hätte ich nicht einen Kiosk, sondern ein Kino in der Mitte des Films betreten. Ich stand dieser fröhlichen Blondine mittleren Alters gegenüber und hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon sie überhaupt redete. Schwester? Ich hatte keine Schwester.
»Sie wird doch nicht etwa krank geworden sein, oder? Sie war schon ein paar Tage nicht mehr bei mir.« Die blonde Kioskbesitzerin legte ihre Stirn in Dackelfalten und sah mich gespannt an.
»Nein, krank ist sie nicht«, antwortete ich und hoffte, nicht so komplett ratlos auszusehen, wie ich mich gerade fühlte.
»Na, dann ist ja gut. Wenn sie nur verhindert ist, dann bin ich beruhigt. Hat sie dich geschickt, um die Zigarre für den alten Dommer abzuholen? Das finde ich wirklich mutig von dir.« Jetzt strahlte sie über das ganze Gesicht, als wäre ich ein kleiner Junge, der sie mit einem Strauß selbst gepflückter Blumen überrascht hatte.
»Mutig«, wiederholte ich und konnte nicht verhindern, dass ich etwas fragend klang.
Das strahlende Lächeln der Kioskbesitzerin wurde noch breiter. »Ach, bitte nicht böse sein, Smiljan. Katalie hat mir von deinem kleinen Problem erzählt. Ich finde es toll, dass sie hierhergezogen ist, um in deiner Nähe zu sein. Es ist bestimmt nicht immer leicht für dich.«
»Nein«, antwortete ich und atmete ein paar Mal tief durch. »Das ist es nicht.« Jetzt fügte sich das Bild für mich langsam zusammen. Ich war also Katalies Bruder. Und ich hatte ein Problem, das sich mir noch nicht ganz erschloss. Aber ich hatte eine liebende Schwester, die sich meiner angenommen hatte.
»Hier ist die Zigarre. Aber zerbrich sie nicht, sie ist teuer. Nicht einfach in die Jackentasche stecken.« Sie schüttelte den Kopf und reichte mir eine kleine Papiertüte. »Niklas Dommer kann sich nur eine Zigarre in der Woche leisten. Früher habe ich sie ihm immer selbst in den Jeppesvej