Liebe und Tod im Grenzland. Ruth Malten
Читать онлайн книгу.brandgefährlich?“, fragte Frau Boller, die sehr für diesen Krieg gewesen war.
„Das geht ins Auge!“, entgegnete Kollegin Susanne, eine entschiedene Kriegsgegnerin der ersten Stunde.
„Wieso?“, wollte Boller wissen. „Unseren Soldaten geht die Munition aus. Viele sind angeschlagen, müssen trotz Kriegsverletzungen zurück an die Front. Sie hungern und frieren. Die Amis schicken alles an Material, was ein Soldatenherz sich nur wünschen kann und das in jeder Menge! Wie soll das gutgehen? Der Krieg ist verloren, sag ich euch!“ Susanne hielt sich sofort nach ihrer Rede die Hand vor den Mund. Hoffentlich habe ich jetzt nicht zu laut geplappert, dachte sie erschrocken.
In der nächsten Zeit gab es noch öfter Anlass zu Diskussionen im Salon, in die sich auch die männlichen Kunden leidenschaftlich einmischten.
„Haben Sie das schon gelesen, die ersten Langstreckenbomber vom Typ ‚Gotha‘ greifen London an“, eröffnete Kunde Kröger. „Sollen die Amis doch kommen. Unsere Langstreckenbomber werden das Rennen machen.“ Es klang triumphierend. Elise, die ihm die Haare schnitt, schaute eher mitleidig, als sie entgegnete: „Ich wünsche von Herzen, dass Sie recht haben.“ Sie vermied Streit und fühlte sich verantwortlich für eine gewisse Neutralität von Seiten der Kolleginnen. Sie wollten Kunden mit allzu deutlichen eigenen Aussagen nicht vergraulen.
Auf ihren Heimwegen nahm sie sich hin und wieder Zeit für einige Überschriften. Zudem hatte sie sich angewöhnt, beim Schlangestehen über die Schultern ihres Vordermannes mitzulesen.
Zu den nach ihrer Meinung herausragenden Ereignissen gehörten die Meutereien auf der deutschen Hochseeflotte. Verständlich, dass die Matrosen sich weigerten, noch einmal hinauszufahren, um gegen die Engländer anzutreten. Sie verweigerten dieses Himmelfahrtskommando. ‚Hätte ich auch gemacht‘, dachte Elise, ‚wir sind erst mal zum Leben, nicht vorrangig zum Sterben hier auf dieser Erde.‘ Dieser Krieg ist verloren, dessen war sie sicher. Außerdem war sie grundsätzlich gegen Krieg. Wenn es überhaupt einen Sieger gab, so gab es mit absoluter Sicherheit unendlich viel mehr Verlierer. Tote Väter, Söhne, Brüder. Verhungerte Frauen, Kinder und Alte. Von den Kriegsversehrten nicht zu reden. Nein, keinen Krieg, diesen nicht und nie wieder einen anderen. Sie war erstaunt, wie viele ihrer Bekannten, Kolleginnen und Kunden, immer noch Krieg für unerlässlich hielten. ‚Werde ich nie nachvollziehen können‘, dachte sie und schüttelte den Kopf, während sie nach dem Anstehen nach Kohlrüben auf dem Heimweg war.
Später war von einer letzten großen West-Offensive die Rede, was Elise nur noch mit ‚so ein Wahnsinn‘ kommentieren konnte.
Als Reichskanzler Max von Baden die Abdankung des Kaisers und seinen Rücktritt verkündete, war sie erleichtert und sicher, das Ende stünde nun kurz bevor.
Extra-Blatt-Verkäufer riefen aus, Kaiser Wilhelm II sei ins Exil nach Doorn geflohen.
Dass britische Truppen Köln und Bonn besetzen, empfand Elise als eine unerhörte Schmach.
Sie hatte das Gefühl, dass ihre Kräfte ausgingen, die immer neuen Unglücksmeldungen zu ertragen. Sie lehnte Krieg zwar generell ab, nun aber fühlte sie sich vor allem als Deutsche und gehörte zu den geschmähten Verlierern. Sie fühlte sich persönlich betroffen, persönlich als Verliererin.
Waren das die Gründe, dass es ihr seit Wochen nicht gut ging? Sie war niedergeschlagen. Ihr war übel. Sie sah ihr Leben grau in grau. Alles durch den verlorenen Krieg? Wegen der schlechten Nahrung seit langem? Wegen der zerstörten Zukunft für ihre Familie und ihr Land? Sie war sich nicht sicher.
Schon seit Tagen wartete sie auf den richtigen Zeitpunkt, um mit Theo zu reden. Der richtige Zeitpunkt kam jedoch nicht. Sie waren abends müde, die schlechte Ernährung machte sie schlapp. Das immer gleiche Essen mit dem Wenigen, was es zu kaufen gab, ließ Theo ungenießbar werden. Er maulte unverhohlener denn je, dass Elises Wassersuppen grässlich seien. Aber gerade in dieser Zeit hätte sie von ihm ein gutes Wort gebraucht. Zärtlichkeit. Was für ein Wunsch! War sie eine Träumerin, wenn sie sich von ihrem Mann gelegentlich eine Berührung, ein Wort, einen Blick, etwas wünschte, das sich nach Liebe anfühlte? Oder waren das Jungmädchen-Phantasien? Hatten sie nicht geheiratet, um sich liebzuhaben und gemeinsam stärker zu sein als allein? Dieser eine Blick hätte Mut gemacht. Als er nicht kam und auch das gute Wort oder die liebevolle Berührung nicht, fasste sich Elise eines Abends ein Herz, denn es musste sein.
„Wir werden noch ein Kind haben“, eröffnete sie behutsam ihrem Mann die Botschaft. Erwartungsbang schaute sie Theo an. Er sah auf den Boden. Sie wartete mit einem kleinen Lächeln. Dann berührte sie sachte seine Hand, die herunterhing. Er nahm ihre Hand nicht. Er schüttelte unwillig den Kopf, warf ihr einen kurzen Blick zu und brummte: „Wenn es denn sein muss.“
Er ging an diesem Abend früh aus dem Haus und kam spät wieder. Sie hörte ihn weit nach Mitternacht, wie er die Treppe hochtappte. An seinem Gang und der Art, wie er wiederholt ungeschickt versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, erkannte sie, dass er betrunken war.
Die zweijährige Minna war wach geworden und weinte. Elise ging zu ihr hin und beruhigte das Kind.
Im Jahre 1918, zwei Jahre nach Minna, gebar Elise den blonden, braunäugigen Udo. Bis auf die Augenfarbe sah er aus wie seine Mama und seine kleine Schwester Minna. Udo lebte am Tage bei Tante Knorrn, einer warmherzigen, fröhlichen Frau, deren eigene zwei Kinder erwachsen waren und das Haus verlassen hatten. Ihre überschüssige Liebe schenkte sie Udo, der wie Minna abends fröhlich und wohlig in seine Familie zurückgebracht wurde. Nun war außer Frau Rösler häufig abends auch Tante Knorrn bei dem kleinen Familien-Abend-Konzert dabei, sang mit heller, klarer Stimme mit und trat zufrieden und froh- gestimmt ihren Heimweg an. Als Udo ein halbes Jahr alt war, bis dahin schlief er bei den Eltern, zog er in Haralds Zimmer ein.
Harald mochte seinen kleinen Baby-Bruder. Wurde er nachts von seinem Weinen gestört, reagierte er zwar unwirsch, weil er aus dem Schlaf gerissen und müde war, wusste aber den Baby-Bruder schnell zu trösten; meist lag dessen Schmusetüchlein am Boden.
Im gleichen Jahr unterschreibt der Leiter der deutschen Waffenstillstands-Delegation, Matthias Erzberger, in einem Eisenbahnwagen im Wald von Compiegne den Waffenstillstands-Vertrag und beendigt die Kampfhandlungen nach vier Jahren.
Die Frauen hatten sich auf den Mangel an Nahrungsmitteln eingestellt. Sie hofften, nach Ende des siegreichen Krieges für ihr Durchhalten an der Heimatfront, wie dieser Kampf der Mütter ums Überleben ihrer Familien genannt wurde, entschädigt zu werden.
Aber alles kam anders. Der Krieg ging verloren. Tausende Kriegsversehrter kamen in die Heimat zurück. Es gab nicht genug Holzprothesen für all die Soldaten, die ein Bein oder beide Beine auf dem Schlachtfeld verloren hatten. Soldaten, die beide Beine verloren hatten, mussten sich mit einem Holzbrett behelfen, unter dessen vier Ecken je ein Rädchen befestigt war und sich mit den Händen vom Boden abschieben.
Die Versorgung mit Nahrungsmitteln brach zusammen. Vor dem Krieg waren die Lebensmittel zum Teil aus dem Ausland importiert worden. Durch die britische Seeblockade war die Versorgung der Menschen mit Essbarem bereits während des Krieges erheblich erschwert. Diese Seeblockade wurde nach Beendigung des Krieges von den Briten beibehalten. Die Massen der heimgekehrten Soldaten mussten zusammen mit der Bevölkerung mit Nahrung versorgt werden. Die Menschen lebten nach wie vor überwiegend von Steckrüben, Kartoffeln und Brot. Aber auch diese Magerkost war nur in völlig unzureichender Menge verfügbar. Milch und Fleisch sah man schon lange nur noch in Kinderbilderbüchern. Zu allem Übel kam hinzu, dass 1918 die Ernte wegen ungünstiger Witterungsbedingungen schlechter ausfiel als in den Jahren zuvor. Auch für Nahrungsmittel galt der Import-Stopp.
Die Not der Menschen war groß, der Hunger ihr täglicher Begleiter. Alles Denken und Sinnen drehte sich um die Beschaffung von Essbarem und als der Winter kam, auch von Heizmaterial. Die Widerstandskraft der Menschen ebbte ab. Viele erkrankten im kalten Winter an Lungenentzündungen und Tuberkulose. Viele Menschen, zuweilen arbeits- und wohnungslos, starben entkräftet oder erfroren auf einer Parkbank oder auf der Straße.
Immer mehr Suppenküchen versuchten, die größte Not zu lindern. Immer länger wurden die Schlangen der nach einem Teller heißer Wassersuppe anstehenden Menschen.