Liebe und Tod im Grenzland. Ruth Malten
Читать онлайн книгу.daran, wie sie durch die Art ihres Wiedersehens in Hannover gedemütigt worden war, ließ sie wieder und wieder vor Scham erröten. ‚Ich verstehe die heikle Situation, in der er war: leben mit mir ohne Existenzgrundlage oder ohne mich in vorgegebenen Gleisen ohne Glück‘, dachte Elise, denn sie ging davon aus, er habe sie geliebt wie sie ihn. ‚Aber es ist vorbei und muss vorbei sein‘, beschwor sie sich und straffte ihren Körper; dennoch konnte sie nicht verhindern, an einsamen Abenden oder strahlenden Sonntagnachmittagen von ihren Erinnerungen an die gemeinsame Zeit eingeholt zu werden. Das tat weh.
„ Unzertrennlich beide, gehe, lieb und leid“, zitierte ihre Mutter Helene die alte Volksweisheit. In solchen Momenten fand Elise Trost in einem schönen Text oder einer Melodie. Besonders liebte sie das Lied von den zwei Königskindern:
‚Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb. Sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief.‘
Sie begann die Melodie zu summen. Ihre Mutter sah Elise an verstand deren Kummer, verlassen worden zu sein und dieses nie ganz vergehende Weh. Helene stimmte summend ein. Sie sangen mit ihren klaren Sopranstimmen die drei Verse, in denen erzählt wird, wie der Königssohn zu seiner Liebsten schwimmen will, aber ertrinkt. Als sie geendet hatten, waren beider Augen feucht. Gerade weil der Text so traurig war, tröstete er Elise. Andere vor ihr hatten demnach auch Liebesweh erlitten. Der innige Text war noch in ihnen, wenn Helene später wieder an der Nähmaschine saß, den harten Stoff der Militäruniformen unter ihren Händen und das knarrende Rattern des Fußantriebs den Raum erfüllte.
Elise hatte ihre buntbedruckte Arbeitsschürze umgebunden und das Abendessen vorbereitet. In ihrer Wohnküche verbreitete sich der Duft von garenden Hefeklößen, die beide Frauen so liebten. In einem zweiten Topf köchelten geschälte und kleingeschnittene Apfelstücke mit Zucker, einer Gewürznelke und einem Stückchen Zimtstange für Apfelkompott. Bei dem Duft der Äpfel brummte Helene ein zufriedenes „Hm“. Sie schaute zu Elise und lächelte aus immer noch feuchten Augen. Als Elise einen duftig aufgegangenen Hefekloß auf jeden Teller legte, mit Zimt und Zucker bestreut und wenigen Tropfen gebräunter Butter begossen hatte, hielt es Helene nicht mehr an ihrem Arbeitsgerät. Beflügelt erhob sie sich, mit einem herzhaften ‚hab ich einen Hunger‘ setzte sie sich an den hübsch gedeckten Küchentisch. Elise hatte die von ihr vor Jahren mit bunten Streublumensträußen bestickte Tischdecke aufgelegt, die Helene so gefiel. Dankbar und hungrig verspeisten sie ihr gemeinsames Mahl von ihrem blau-weiß gemusterten Bunzlauer Geschirr.
Elise schaute auf ihr Leben und fand viel Gutes: Sie war zur Freude ihrer Mutter Helene bei ihr geblieben. Da Helene, um leben zu können, ihre Arbeit tun musste und keine Zeit für das Baby blieb, war sie froh, dass es Frau Rösler gab. Das kleine Mädchen war guter Dinge, wenn es am späten Nachmittag, nach Elises Arbeitsende, zu Mama Elise und Oma Helene gebracht wurde. Mit ihrem freudestrahlenden Lächeln, ihrem begeistert-erregten Glucksen und Brabbeln, dem erwartungsfroh zitternden Ruckeln ihrer Arme, Beine und des ganzen Körpers kamen Frohsein und Behagen in die mütterliche Wohnung.
Oft saßen die beiden Frauen mit dem Kind auf dem Boden und dachten sich zum Ergötzen der kleinen Madam drollige Fingerspiele aus. Sie liebkosten ihre flaumige Haut an den Armen, fuhren mit einem Finger kosend den seidigen Nasenrücken entlang, kraulten sein gelocktes, blondes Haar mit zwei Fingern und plauderten in melodischem Singsang. Emma schaute mal ernst, mal sprudelte sie vor Wonne. Warm geborgen schwelgte sie in ihrem Mütternest.
„Was für ein gutes Leben wir haben“, bemerkte Elise. „Ja, viel Arbeit und viel Glück“, ergänzte Helene, um deren helle Augen sich die ersten müden Fältchen eingegraben hatten. Beim Anblick ihrer Enkelin blühte sie auf, wenn sie dieses Leben mit ihrer vorherigen herben Einsamkeit verglich.
Elise liest ihrer Mutter Helene aus der Zeitung vor, Textil-Heimarbeiter in einem Dorf in Sachsen träten in den Ausstand. Sie forderten einen zehnstündigen Arbeitstag und eine Lohnerhöhung um vierzehn Prozent.
Kaiser Wilhelm II bespricht eine Edison-Walze und beschreibt, wie er sich den idealen deutschen Bürger vorstellt: „ Hart sein im Schmerz, nicht wünschen, was unerreichbar oder wertlos, zufrieden mit dem Tag, wie er kommt; in allem das Gute suchen und Freude an der Natur und an den Menschen haben, wie sie nun einmal sind … und an Herz und Können immer sein Bestes geben, wenn es auch keinen Dank erfährt.“
„Dieses Idealbild erfüllen wir doch schon, oder?“, stellt Elise fest und lacht.
„Nur das mit den zehn Arbeitsstunden pro Tag soll wohl ein Witz sein! Wer kann schon in zehn Stunden seinen Lebensunterhalt verdienen? Kann mir nicht vorstellen, dass solche Träume jemals in Erfüllung gehen werden.“
Elise lacht laut auf. „Nicht zu fassen! Hör dir das an: ‚Der Arbeitslose Wilhelm Voigt beschlagnahmt in Offiziersuniform die Stadtkasse von Köpenick.‘“ Beide Frauen finden das ziemlich komisch. „Aber das hier ist, glaube ich, weniger zum Lachen“, sagt Elise und liest weiter: „Die Germania-Werft in Kiel baut für die deutsche Marine das erste Unterseeboot . Wofür brauchen wir ein Unterseeboot?“
Emma wuchs heran und wurde bald zu einer kleinen Dame mit Wünschen: Sie wolle Klavierspielen lernen. Frau Rösler hatte mit ihrem Zögling eine Freundin besucht, bei der die fünfjährige Emma erstmals Klaviermusik vernahm. Zunächst verharrte sie wie angewurzelt im Zimmer, nahte leise wie ein Kätzchen auf Zehenspitzen, kletterte behutsam einen Sessel nahe am Klavier empor und lauschte mit geöffneten Lippen, kaum noch atmend, den Klängen. „Das war ganz wunder-wunderbar!“, schwärmte sie am Abend bezaubert und mit heißen Wangen bei Mama und Oma.
Da für ein Klavier weder freier Raum in der Wohnung noch genügend Geld da waren, erwarb Elise eine gebrauchte Zither, und Emma erhielt Zither-Stunden bei einem alten Musiklehrer.
Seine Gruppe begann mit acht Kindern. Zwei Jahre später waren zwei verblieben, kurz danach nur noch Emma. Die Kinder hatten wegen blutiger, aufgeplatzter Hornhautschwielen an den Fingerspitzen aufgegeben, weil sie vorübergehend weder üben noch schlafen konnten. Auch Emma hatte diese Phasen erlitten, klagte jedoch nicht, bis ihre Fingerkuppen hart wie Leder waren, und die reine Freude am Musizieren blieb. Mit unermüdlichem Fleiß und großer Begeisterung spielte sie Melodie und Begleitung von Liedern aus dem Riesengebirge, ihrer schlesischen Heimat und andere Volkslieder. In der Schule konnte sie mit ihrem Zitherspiel manche Feier mitgestalten und war beglückt, durchgehalten zu haben. Manche Feierstunde fand ihren Höhepunkt mit dem schlesischen Heimatlied:
„ Blaue Berge, grüne Täler, mittendrin ein Häuschen klein,
herrlich ist dies Stückchen Erde und ich bin ja dort daheim.
Als ich einst ins Land gezogen, ham die Berg’ mir nachgesehn
mit der Kindheit, mit der Jugend, wusst’ nicht recht, wie mir geschehn.
Oh mein liebes Riesengebirge, deutsches Gebirge, du meine liebe Heimat du.
Ist mir gut und schlecht gegangen, hab’ gesungen und gelacht,
doch in manchen bangen Stunden hat mein Herz mir still gepocht.
Und mich zog‘s nach Jahr und Stunden wieder heim ins Elternhaus,
hielt’s nicht mehr vor lauter Sehnsucht bei den fremden Leuten aus.
Du mein liebes Riesengebirge, deutsches Gebirge, du meine liebe Heimat du.“
Nach und nach standen Lehrer und Schüler auf und sangen mit. Schnäuzen war zu vernehmen, und einige Taschentücher verschwanden danach verschämt wieder in Jacken- oder Hosentaschen.
Nach solchen Abenden, meist Elternabenden, ging Emma innerlich glühend vor Stolz und Freude heim. Besonders froh war sie, wenn Elise und Helene mitgekommen waren, denn auch sie machte stolz und glücklich, Emma bei ihrem wunderbaren Zitherspiel zu erleben, mit dem sie vielen Menschen Freude bereitete.
Elise hatte von Selma Havel gehört, die Kindern Lauten-Unterricht gab. Als Emma davon erfuhr, war sie hellauf begeistert. Fortan ging sie auch zur Lauten-Gruppe und kam schnell