Liebe und Tod im Grenzland. Ruth Malten

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Liebe und Tod im Grenzland - Ruth Malten


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hatte, war der Betrieb in eine unabwendbare Abwärtsspirale geraten.

      Eine nennenswerte Anzahl an Stammkunden ließ sich mit einigem Geschick voraussichtlich zügig reaktivieren.

      Angesichts der in Allenstein erworbenen Erfahrungen, einen eigenen Betrieb zu führen, machte ihm dieser Neustart im Alter von 49 Jahren keine Sorge. Im Gegenteil, durch das neuerlich zu bewältigende Werk fühlte er sich einmal mehr angefeuert und herausgefordert. Zwar würde der Weg noch einmal mit Schweiß und Anstrengung verbunden sein, aber, dessen war er sicher, mit seiner Familie im Rücken auch nach oben führen.

      Hermine behagte durchaus der Gedanke, Allenstein wieder zu verlassen. Die Insellage, umgeben vom Land Polen, missfiel ihr seit deren Bestehen durch den Friedensvertrag von 1919. Auch die wortkarge Gemütsart der ostpreußischen Menschen war für sie, die rede- und erzählfreudige Sächsin, eine harte Nuss. Görlitz war keine hundert Kilometer von ihrer alten Heimat entfernt und von ihren sächsischen Landsleuten, die sprachen und sich verhielten wie sie und Gustav. Zudem reizte sie die größere Stadt. Wie sie einem Stadtplan von Görlitz entnehmen konnte, den ihr Sigrid, ihre Schwiegertochter, zugesandt hatte, war das ein Ort mit vielen Parks, an einem Fluss gelegen wie Breslau, einem Kegelberg, der Landeskrone, und zahlreichen Sehenswürdigkeiten wie der Peterskirche, der Muschel-Minna, dem dicken Turm, den Laubengängen am Unter- und Obermarkt und anderem. Sie freute sich darauf, ihre Freunde und Verwandten in der alten Heimat, mit geringerem Aufwand an Zeit und Fahrgeld nun des Öfteren per Bahn besuchen zu können und mit ihnen in ihrer Heimatsprache zu reden, ohne dass Umstehende ihres sächsischen Dialekts wegen einen mehr oder minder verborgenen Lachanfall bekamen.

      Paul, der vom Sitzen auf seiner Holzbank allmählich steife Glieder bekam, erhob sich und öffnete das Abteil-Fenster. „Sie, junger Mann, entschuldigen Sie ock vielmals, es tut mir wirklich leid, aber das zieht“, rief eine ältere Frau hinter ihm mit weher, belegt-rauer Erkältungsstimme bescheiden, „tut mir wirklich leid, aber ich bin fürchterlich erkältet, müssen Sie wissen. Wären Sie so gutt, dass Sie vielleicht das andere Fenster gegenüber könnten aufmachen? Es tut mir wirklich leid, aber wenn es zieht, fang’ ich gleich wieder zu husten an, und dann kann ich nicht mehr mit dem blöden Husten aufhören.“ Jetzt hustete sie wirklich, und das klang nicht gut. Nachdem Paul das Fenster geschlossen hatte, wandte er sich der älteren Frau zu und entgegnete gebührlich und bedauernd: „Tut mir wirklich leid. Entschuldigung. Ich hab nicht überlegt. Ich hätt’ ja auch vorher fragen können.“ Die Frau mit dem weißen Kopftuch hinter ihm schaute ihn zutraulich aus ihrem gebräunten Gesicht mit den blanken, gütigen Augen und den vielen kleinen Lachfältchen an und hob, wie winkend, versöhnlich ihre Hand, die nach viel Arbeit aussah.

      Auf ihrem Schoß stand ein Korb mit einem lebenden Huhn, das sie bis zum Hals mit einem rot-weiß karierten Küchenhandtuch bedeckt hatte. Das Huhn gab bei ihren Worten einen langgezogenen, weinerlichen Ton von sich, und die alte Frau lachte Paul herzlich entgegen. „Das hier ist unser Paulinchen. Meine Tochter hat Geburtstag, und ich will ihr Paulinchen schenken. Sie wünscht sich schon lange eine Henne, nu ja, für ein Paar Eier in der Woche. Drei Kinder hat sie, müssen Sie wissen. Viele hungrige Mäuler sind da jeden Tag zu stopfen. Ne junge Mutter hat’s nicht leicht heutzutage, ne wah?“, sagte sie besorgt, aber tapfer lächelnd und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. „Paulinchen wird’s da gutt haben“, verbürgte sie sich und wischte erneut scheu eine Träne aus ihrem Augenwinkel.

      Die gute alte Frau hatte ein helles Glöckchen aus Kindertagen in seinem Inneren zum Klingen gebracht. Ihm wurde warm ums Herz. Ja, so redeten die Leute hier. Das hatte er in den zehn Jahren in Ostpreußen fast vergessen.

      Er legte seine Hände auf den Rücken und versuchte, zwischen den Rauchschwaden der Lokomotive hindurch etwas von der Landschaft wahrzunehmen. Er sah Getreide, noch grün, mit wildem Mohn gesprenkelt, an den Rändern Kornblumen und Margueriten. Dazwischen einzelne kleine Wäldchen wie eingestreut. Er sah hin und wieder die roten Dächer eines Dorfes, sah Kinder und Erwachsene an einem unbeschrankten Bahnübergang warten und winken, sah eine lange Reihe Kühe und eine Gänseherde auf einer Dorfstraße gemächlich entlangtrotten. Hinter den Gänsen lief ein kleines Mädchen barfuß mit einer Gerte. Aus einem Feldweg bog ein Leiterwagen in die mit Kopfstein gepflasterte Fahrbahn neben den Bahnschienen. Er war zur Hälfte mit frischem Grünfutter beladen, obenauf lagen Rechen, Sense und Heugabel. Den Wagen mit den kleinen Gummirädern zog gemächlich und schwerfällig eine Kuh. Wunderbare heile Welt, dachte Paul.

      Kaum zu glauben, dass vor kurzem noch ein böser Krieg in anderen Teilen Europas gewütet hatte, der viel zu viele Menschen umgebracht oder für den Rest ihres Lebens an Leib und Seele beschädigt hatte. Mit den Vätern und Söhnen waren auch viele Pferde, die nun in der Landwirtschaft fehlten, auf den Schlachtfeldern gestorben, reflektierte Paul bei diesen Friedensbildern.

      In der Fensterscheibe des Zuges sah Paul einen jungen Mann mit blond gewelltem Haar, weißem Sporthemd, roter Fliege, runder Nickelbrille und hoher Denkerstirn. ‚Guter Typ, intellektuell, nachdenklich, introvertiert‘, dachte er, bis er überrascht feststellte, dass ihn da sein eigenes Spiegelbild anschaute. ‚Merkwürdig‘, dachte er, ‚gerade war ich noch ein Knabe, dem Tante Selma vor den ersten Geigenstunden die Hände mit viel Seife wusch und die Fingernägel mit einer Nagelfeile reinigte.‘ Jetzt sah Paul einen jungen Mann vor sich, zwar nicht sehr groß, mit Brille, sonst aber ansehnlich und gut für einen zweiten Blick. Beinahe hätte er sich nicht erkannt und weiter über den jungen Mann im Fenster oder hinter sich gemutmaßt, wer oder was er wohl sei.

      Die Entscheidung seiner Eltern, den Betrieb in Allenstein aufzugeben und in Görlitz einen gescheiterten Betrieb wieder aufzubauen, fand Paul richtig und mutig.

      Arthur hatte Sigrid geheiratet, und sie hatten inzwischen ein kleines Mädchen, Betti. Gustav und Hermine, nun Großeltern, waren glücklich über ihr Enkelkind.

      Paul hatte sich wieder auf der ratternden Holzbank im Zug niedergesetzt und nahm aus seinem Rucksack ein Päckchen mit einer Schnitte, dünn mit Margarine bestrichen. Dazu aß er, genüsslich und ausgiebig kauend, ein kleines Stück Knoblauchwurst, vor seiner Reise nach Breslau zu Tante Selma beim Metzger auf Lebensmittelmarken erstanden. Aus dem Becher, der Verschlusskappe seiner Thermosflasche, trank er Pfefferminztee. Der Duft der Knoblauchwurst und des Tees breitete sich aus und vermischte sich mit dem rauchigen Mief nach Kohlenruß aus dem Schornstein der Lok, der beim Öffnen des Fensters ins Abteil gedrungen war. Köpfe von Mitreisenden drehten sich neugierig für einen Moment in seine Richtung. Andere Reisende begannen nun ebenfalls, Proviant-Päckchen auszuwickeln und mit Appetit in ihre Brote zu beißen. Halblinks vor ihm kaute ein kleines Mädchen mit genüsslichem Knacken an einem schon etwas schrumpeligen Apfel. Der Tee seiner Nachbarin duftete nach Brombeerblättern. Sie nahm eine kleine Wasserrübe, deren weiß-lila Schale sie mit einem Taschenmesser zuvor sternförmig eingeritzt und so zurückgezogen hatte, dass die weiße Rübe wie eine glänzende Kugel in der Mitte des Schalensterns stand. Der Radieschen ähnliche Duft der Wasserrübe stieg Paul in die Nase. Gern hätte auch er jetzt eine solche weiße Wasserrübe gegessen. Als die Nachbarin hineinbiss, hörte Paul, wie saftig die Rübe war. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, und er schluckte.

      Gleichmäßig ruckelte und rumpelte der Wagen.

      Allein zu wirtschaften als möbliert wohnender Herr war für Paul eine neue Erfahrung, immer noch merkwürdig und ein wenig befremdlich. Für die gewonnene Unabhängigkeit nahm er die Notwendigkeit in Kauf, seine Wäsche in der Waschküche der Vermieterin selbst zu waschen und für Nahrungsmittel anzustehen.

      Die jetzige Wohnung seiner Eltern war klein. Das beengte Kinderzimmer bewohnte zunächst seine Schwester, die inzwischen den Molkereibesitzer Eugen geheiratet hatte und ausgezogen war. Die Wohnung war auch für die Eltern klein im Vergleich zu Allenstein. Ansonsten war sie in vielem ähnlich: Kein fließendes Wasser, die Pumpe vor dem Haus, das Klohäuschen auf der Hinterseite des Hauses, dahinter der kleinere Garten. Da Gustav und Hermine nun allein lebten, genügte ihnen der Wohnraum. Vorrangig war, den Betrieb in Gang zu setzen und ihr Auskommen in der Nähe ihrer alten Heimat zu haben, umgeben von Landsleuten, deren Sprache und Lebensart ihnen vertraut war. Sparsam und einfach zu leben waren sie gewöhnt.

      Paul erinnerte sich, wie er Tante Selma, die er heut wiedersehen würde, erstmals


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