Liebe und Tod im Grenzland. Ruth Malten

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Liebe und Tod im Grenzland - Ruth Malten


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neigte sich dem Ende zu. Er konnte bei der Bank anfangen. Fräulein Hauf fragte ihn, ob er nicht als Vollzeitmitarbeiter in der WKK arbeiten wolle. Das lockte ihn mehr als das Geschäft mit Geld, und er sagte zu.

      Paul verschaffte sich zunächst einen Gesamtüberblick über die Arbeitsrückstände. Sie waren größer als befürchtet. Für ihn erschütternd waren die Zustände in der Buchführung. Immer wieder blieb ihm nur ein Kopfschütteln. Ob Gehälter oder Mitgliedsbeiträge, das Durcheinander war beängstigend. Als Paul mit Fräulein Hauf darüber sprach, sagte sie mit resigniertem Schulterzucken: ‚Ich weiß, könnten Sie sich vorstellen, die Geschäftsleitung zu übernehmen?‘ Ja, Paul konnte sich das durchaus vorstellen, und er stimmte zu. Er traute sich zu, innerhalb einer angemessenen Frist Ordnung zu schaffen. Fräulein Hauf schrieb an die Zentrale, die Paul ein Jahr nach seiner Einstellung die Geschäftsleitung probeweise übertrug.

      Zu seinen ersten Leitungs-Aufgaben gehörte, den Ist-Zustand zu erheben und diesen der Zentrale mitzuteilen. Gleichzeitig beantragte er eine Buchungsmaschine, die bewilligt wurde. Die Revisoren erhielten den Auftrag, die Geschäftsstelle scharf zu beobachten, weil Paul der jüngste leitende Mitarbeiter im damaligen deutschen Reich war. Oft bekam er Besuch von den Revisoren, und gewann den Eindruck, dass sie intensiver prüften als üblich. Die Berichte, die sie anschließend schrieben und mit ihm besprachen, konnten sich sehen lassen. Nach einem Jahr wurde er endgültig als Geschäftsführer bestätigt.

      „Inzwischen klappte das meiste, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Buchungsmaschine war eingetrudelt, und in mühsamer allabendlicher und sonntäglicher, schweißtreibender Sisyphusarbeit habe ich herumgeknobelt, die Funktionen zu verstehen und mir beizubringen. Fragen konnte ich ja leider keinen“, Paul hatte stakkato-artig einzelne ihm wichtige Wörter betont und musste nun selbst über die Darstellung seiner Heldentaten lachen. Tante Selma, die während der Erzählung Pauls kerzengerade dasaß, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände auf den Knien gefaltet, nur hin und wieder wie zustimmend mit dem Kopf genickt hatte, lehnte sich nun in ihrem Stuhl zurück. Ihr Körper entspannte sich, und auch sie lachte herzlich. Paul erzählte gut. Es machte ihr Spaß, ihm zuzuhören. Paul nahm sich bei aller Leistungskraft und Arbeitsfreude nicht wichtig, neigte eher zum Tief- statt zum Hochstapeln. Das gefiel ihr. Er war bescheiden geblieben.

      Vor dem Fenster sang eine Amsel hingebungsvoll und volltönend ihr Nachmittagslied. Selma und Paul schauten beide zum Fenster und lächelten sich an. „Schön, nicht wahr?“, sagte Selma, leuchtend vor Freude.

      „Möchtest Du noch Kaffee oder eventuell einen kleinen Likör, ebenfalls ein Geschenk?“

      „Wenn noch Kaffee da ist und ich dich nicht schädige, gern.“ Selma nahm die Mütze von der Kanne und goss Paul den Rest ein. Sie stellte Kanne und Mütze seitlich auf einer Anrichte ab und eine bauchige Glas-Vase mit wilden Margueriten und Kornblumen auf den Tisch. „Hat mir gestern eine Schülerin mitgebracht. Vom Feldrain gepflückt. Ich mag Wildblumen so gern. Sie weiß, dass ich Kornblumen und Margueriten besonders liebe. Kleine Alltagsfreuden.“ Tante Selma sah die Blumen an, dann wieder Paul und ermunterte ihn, weiterzuerzählen.

      „Ja, so ganz viel gibt’s da nicht mehr zu erzählen. Ich kämpfe noch jeden Tag mit den Tücken der Technik, was meine Buchungsmaschine anbelangt, gebe aber die Hoffnung nicht auf, dass wir beide, meine Buchungsmaschine und ich, eines Tages gute Freunde werden.“ Wieder lachten beide herzerfrischend. „Ich bin nun mal kein ausgemachter Technikfreund und würde in der Zeit lieber im Garten meiner Eltern umgraben oder Stachelbeeren pflücken und essen. Aber ein Beruf ist nun mal kein Kinderzoo. Eines Tages werde ich die Buchungsmaschine lieben, wenn wir uns noch nähergekommen sind und unsere beidseitigen Talente zu schätzen wissen. Möge dieser segensreiche Morgen bald anbrechen.

      Wenn ich nicht mit meiner Buchungsmaschine im Clinch liege, besuche ich Betriebe, um viele neue, junge und aus Kostengründen möglichst gesunde Mitglieder zu werben und unsere Leistungen, die sich sehen lassen können, anzupreisen.“

      Paul kniff Selma lachend ein Auge, um sicherzugehen, dass sie den Scherz erkannt hatte. Selma schmunzelte vergnügt, und er fuhr beruhigt fort: „Ich fahre zu den Zahlstellen, um die Zahlstellenbetreuerinnen anzuleiten und deren Fragen zu klären. Ich schule wie ein jugendlicher Oberlehrer meine Mitarbeiter in der Geschäftsstelle und rede mit schwierigen Kunden, die durch ihre cholerische Ader meine braven Mitarbeiter allzu sehr nerven würden. Mein Ziel ist, meine Geschäftsstelle schnell auszubauen. Ich sehe das sportlich. Spätestens in zehn Jahren möchte ich die Nummer Eins hier im Osten sein.“ Paul war aufgestanden, straffte sich, trommelte mit beiden flachen Händen auf seine Brust wie ein Silberrücken und grinste verschwörerisch mit Siegermiene in Selmas Richtung.

      „Ich wünsche Dir dabei alles Glück der Welt.“ Selma nickte zustimmend und sagte freudestrahlend, während sie seine Hand nahm: „Ich bin vollkommen sicher, dass du das erreichen wirst.“

      „Und was macht die Liebe?“, fragte Selma. Bei dieser Frage wurde Paul heiß. Er liebte sie, das wusste Selma. Sie war nicht zu haben. Das hatte sie klar gesagt. Jemand anderen liebte er nicht, und das konnte er sich auch nicht vorstellen. Andererseits würde er gern heiraten. Deshalb sagte er in einem inneren Zwiespalt, der ihm unüberbrückbar schien: „Ja, ich würde gern heiraten. Jetzt sind die finanziellen Grundlagen da. Ich möchte Kinder, eine Familie, ein Traum wäre das. Ein ganz wunderbarer Traum.“

      „Und warum heiratest du dann nicht?“ Selma kannte die Antwort, versuchte jedoch, so unbeteiligt wie möglich auszusehen. „Wie, wann und wo sollte ich eine Frau finden? Erstens bin ich klein, zweitens trage ich eine Brille …“

      „… und drittens bist du ein wunderbarer junger Mann, ein Glücksfall für jede junge Frau“, vollendete Selma seinen Satz, wohl wissend, dass die schwierigen Anfangsjahre ihm noch immer zu schaffen machten. Er fühlte sich trotz aller Leistungen in der Schule, bei seinem Vater, der Bank, seinem Weg bei der WKK noch immer minderwertig. Sie fand es wichtig, ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit Selbstvertrauen zu vermitteln, wichtig für sein Wohlbefinden und sein künftiges Glück.

      „Und wenn ich jemanden für Dich wüsste?“, fragte Selma sehr leise, sehr behutsam, ihm zugewandt und voll freundschaftlicher Zuneigung. Paul stockte einen Moment lang der Atem, und wieder durchfuhr es ihn heiß. „Sie müsste sein wie du“, erwiderte er nach einigem Nachdenken sehr leise und sah sie einen Momentlang scheu und sehr traurig an. „Nein, Paul, sie muss nicht sein wie ich. Es gibt in jedem Leben nicht nur einen Menschen, den wir lieben können. Sie kann ganz und gar anders sein. Es braucht nur eines: das eigene Herz zu öffnen. Ja, und Mut gehört dazu. Die Frage ist, willst du dir und einer Frau die Chance geben?“

      Er hatte mit dem Herzen zugehört. Er wollte Selma verstehen. Er konnte sich nicht vorstellen, einen anderen Menschen jemals zu lieben, wie er sie liebte. Ihm erschien als Verrat, die übergroße Liebe in seinem Herzen, die nur ihr galt, aufzuteilen. Ihm war elend und zum Weinen. Ja, sie hatte sicher Recht, dass es Mut brauchte, um sich einem ganz neuen, fremden Menschen zuzuwenden und sein Herz nach und nach aufzutun. Er wollte in ihren Augen kein Feigling sein. Doch er fühlte sich innerlich noch ewig weit entfernt von diesem nötigen Mut. Andererseits, wenn Tante Selma eine Frau kannte, niemandem außer ihr traute er mehr zu, zu wissen, welche Frau gut und richtig für ihn sein könnte.

      Beide hatten sie lange geschwiegen. In seinem Kopf und Herzen tobten wild zwei Gegenkräfte. ‚Ich möchte ja‘, schrie die eine, ‚ich kann aber nicht‘, die andere. Selma hatte tiefes Mitgefühl mit Paul. Und noch einmal versuchte sie, nicht an sich selbst zu denken, nicht seine ungeteilte Liebe für sich behalten zu wollen. ‚Nein und nochmals nein!‘, gebot sie sich energisch. Sie stand auf, ging zum Fenster und schaute scheinbar gleichgültig hinaus. Paul brauchte jetzt Zeit. Und sie auch.

      Sie kam zurück, nahm die leere Kaffeekanne und Kaffeemütze von der Anrichte und trug beides in ihre kleine Küche nebenan. Dann kam sie zurück, setzte sich wieder zu Paul und lächelte ihn so gleichmütig wie möglich an.

      In bewusst sachlichem Ton, aber von tiefer Zuneigung getragen, sagte sie: „Ich denke an zwei Frauen, die miteinander befreundet sind und die mehrere Jahre bei mir waren. Beide lernten bei mir Laute zu spielen. Dann blieben sie in der Literatur- und Theater-Gruppe. Beide sind interessiert


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