Grenzgänge. Jan Eik

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Grenzgänge - Jan Eik


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Zeiten. Insgeheim und nicht ohne Hoffnung war sein Name als der eines längst notwendigen Nachfolgers für das höchste Amt genannt worden. Etwa auch durch Max?

      Charlotte wusste, was das bedeutete. Ein schrecklicher Gedanke, der sich nicht verdrängen ließ, obwohl sie sich damit zu beruhigen versuchte, dass sich die Dinge seit dem letzten Parteitag in Moskau verändert hatten. Ein wenig jedenfalls. Der Alpdruck, der alle ihre Erinnerungen überschattete, war geblieben. Gerade jetzt, wo sie etwas Verbotenes zu unternehmen gedachte, spürte sie ihn deutlich.

      Dabei hörte sich ganz harmlos an, was sie vorhatte: Sie wollte ihre Tochter besuchen. Elke wohnte wie sie in Berlin, kaum eine Stunde entfernt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln bequem zu erreichen. Nur verlangte diese Fahrt eine Entscheidung von Charlotte, die gerade in der gegenwärtigen Situation existenzielle Auswirkungen für Max und sie haben konnte. Elke wohnte in West-Berlin. Für sie selbst, die treue Genossin und brave Ehefrau eines höheren Staatsfunktionärs, war es selbstverständlich, die Berliner Westsektoren nicht ohne besondere Genehmigung zu betreten. Genossen ihres Standes durften nicht einmal zu Agitationseinsätzen in die feindliche Frontstadt.

      Dabei hatten Max, Elke und sie bis zum Jahre 1952 zusammen in Charlottenburg gewohnt. Als sie Anfang 1946 aus Moskau in Berlin eintrafen und Max sofort eine wichtige Funktion im Rundfunk übernahm, schien es angebracht, sie in der Nähe des Funkhauses an der Masurenallee unterzubringen. Aber dann wurde Max aus heiterem Himmel in eine unglückliche politische Affäre verwickelt, gemaßregelt und in die Provinz versetzt, wo er sich als Chef eines Museums wiederfand. Bis sich der zu jener Zeit noch führende Genosse im Politbüro, dessen Namen zu nennen man seit zwei Monaten besser vermied, auf ihn besann. Er holte Max zurück nach Berlin, wo ihn im Kulturministerium eine verantwortungsvolle Aufgabe erwartete.

      Seitdem wohnten sie in Niederschönhausen. Im Städtchen, wie das abgeschlossene Viertel am Pankower Schlosspark allgemein genannt wurde. Im Schloss hatte der greise Staatspräsident seinen Amtssitz, und in den Villen ringsum wohnten er und die Repräsentanten von Partei und Regierung. Das erleichterte es den Verantwortlichen, für deren Sicherheit zu sorgen. Im Westen galt Pankow deswegen als Synonym für das «Zonenregime», eine Formulierung, die Max maßlos aufregte, während Charlotte eher das Wort «Repräsentanten»missfiel.

      Sie vermied es sich umzublicken, als sie die stille Straße mit den gepflegten Gärten und Häusern entlangschritt. Seltsam, sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wer früher hier gelebt hatte. Sicherlich alte Nazis. Die sowjetischen Freunde hatten gewiss die Richtigen enteignet.

      Auf der Ossietzkystraße hatte sie ständig den Eindruck, jeder Passant mustere sie besonders aufmerksam und sogar der Posten am Zugang zum Städtchen schaue ihr aufmerksam hinterher. Ärgerlich verzog sie das Gesicht. Sie war schließlich kein heuriger Hase. Als junge Frau hatte sie lange genug im illegalen Apparat der Partei gearbeitet und seither nicht verlernt, wie man einen Verfolger erkannte und sich ihm entzog. Vor der Buchhandlung blieb sie stehen und tat so, als betrachte sie die Auslage. Im Spiegelbild fiel ihr nichts Verdächtiges auf. Weshalb auch? Niemand konnte ahnen, was sie vorhatte.

      Sie überquerte die Straße und den alten Dorfanger mit der Kirche und wandte sich nach rechts, als wollte sie in Richtung Rathaus gehen. Der Straßenbahn, die gerade in die Haltestelle einfuhr, schenkte sie scheinbar keine Aufmerksamkeit. Erst als alle Wartenden eingestiegen waren und die Schaffnerin im Anhänger abklingelte, lief sie hastig auf die anfahrende Bahn zu und kletterte auf die Plattform.

      «Hätten Se sich och früher überlejen könn’, junge Frau!», murrte die mollige Schaffnerin.

      Charlotte lächelte gewinnend. «’tschuldigung. Ich war ganz in Gedanken.»

      Dabei war sie hellwach. Sie bezahlte die zwei Groschen und blieb an der hinteren Scheibe stehen. Aufmerksam beobachtete sie die Fahrzeuge neben der Bahn, bevor sie sich umwandte und unauffällig die Insassen im Innern des Wagens in Augenschein nahm. Jetzt, um die Mittagszeit, waren es nur wenige, und sie entdeckte kein bekanntes Gesicht darunter. Die meisten stiegen am S-Bahnhof Pankow aus. Unschlüssig, ob sie mit Straßen- und U-Bahn ins Stadtinnere fahren sollte oder besser die S-Bahn nahm, folgte sie in einem plötzlichen Entschluss dem letzten Aussteigenden.

      Ganz entgegen ihrer üblichen Vorsicht besaß sie nicht einmal einen genauen Plan für ihr Vorhaben. Nur nicht lange zögern!, dachte sie, doch ihre Hand zitterte, als sie am Schalter mit leiser Stimme eine Rückfahrkarte verlangte. Niemand stand hinter ihr, und dem alten Mann hinter der Glasscheibe schienen die Fahrgäste höchst gleichgültig. Er fragte nicht nach der Preisstufe, schob ihr das gelbe Pappkärtchen und sechzig Pfennig Wechselgeld hin, ohne den Blick zu heben.

      Der Mann in der Abfertigungswanne knipste die Fahrkarte mit gleicher Unaufmerksamkeit. Selbst zwei auf dem Bahnsteig patrouillierende Bahnpolizisten interessierten sich nicht für sie, zumal sie sich vorsichtshalber nach links wandte, zum Gleis nach Bernau. Als der Zug in der Gegenrichtung einfuhr, überquerte sie den Bahnsteig und stieg erst beim Kommando «Türen schließen!» ein. Wie albern sie sich plötzlich vorkam! Sie, eine geborene Berlinerin, war seit Jahren nicht mehr mit der S-Bahn gefahren. Im Grunde war sie überhaupt nicht mehr mit den alltäglichen Gegebenheiten der geteilten Stadt vertraut.

      Wollte sie mal ins Zentrum, nahm Max sie morgens mit oder schickte ihr im Verlauf des Vormittags den Dienstwagen. Ihr war das unangenehm, doch Max bestand darauf. Dass sie gelegentlich alleine mit der Straßenbahn bis zur Schönhauser Allee und von dort sogar mit der U-Bahn zum HO-Kaufhaus am Alex fuhr, verschwieg sie ihm ebenso wie die regelmäßigen Verabredungen mit Elke. Kehrte Max spätabends und oft genug erst nachts nach Hause zurück, fragte er sowieso nicht danach, was sie den ganzen Tag getrieben hatte. Nur ihrem Wunsch, sich wieder eine Arbeit zu suchen, widersprach er heftig. «Sei zufrieden, dass du deine Ruhe hast!», lautete sein Kommentar. Erwähnte er in den seltenen gemeinsamen Stunden etwas von den täglichen Widrigkeiten, vom Misstrauen, den Intrigen und Verdächtigungen, welche die Arbeit in den oberen Etagen so schwer erträglich machten, musste sie ihm recht geben. Das war wirklich nichts mehr für sie und ihre angegriffene Gesundheit.

      Der Zug hielt. Eine gurgelnde Lautsprecherstimme verkündete unüberhörbar: «Letzter Bahnhof im demokratischen Sektor!» So direkt auf ihr Vergehen hingewiesen, durchfuhr Charlotte ein leichter Schock, der sich angesichts zweier graugekleideter Zöllner noch verstärkte, die suchend durch den Wagen schritten. Charlotte streifte nur ein gleichgültiger Blick. Den Mann am Fenster, der seinen Rucksack vergeblich hinter den Beinen versteckte, wurde zum Aussteigen aufgefordert. Murrend folgte er den Uniformierten.

      Endlich fuhr die S-Bahn weiter. Charlotte warf einen Blick auf den Linienplan neben der Tür. Die nächste Station hieß Gesundbrunnen. Am nahen Wedding hatte sie sich einst gut ausgekannt. Mehr als fünfzehn Jahre lag das zurück. Und was für Jahre! Jetzt erinnerte der Name der Station sie nur an Frau Raabe, ihre Haushaltshilfe. Fehlte etwas in der Wirtschaft und war nicht einmal für die bevorzugten Bewohner des Städtchens aufzutreiben, riet die mit ihrer Berliner Kodderschnauze: «Vasuchn Set mal bei de HO Jesundbrunn’! Da jibt et allet.»

      Charlotte erschrak. Weshalb war sie so kopflos und unüberlegt losgestürzt?

      Der Zug, in dem sie sich befand, erreichte in fünf Minuten wieder den demokratischen Sektor. Am Bahnhof Friedrichstraße musste sie umsteigen, wo eine weitere Grenzpassage bevorstand. Hastig stand sie auf. Stieg sie hier am Gesundbrunnen in den Nordring um, konnte sie über Westkreuz nach Charlottenburg fahren. Das war etwas umständlicher, aber die Wahrscheinlichkeit, einem bekannten Genossen zu begegnen, war umso geringer. Es sei denn, sie traf die gute Frau Raabe auf dem Weg zu einem Einkauf. Die war zu Max’ Ärger nicht einmal Genossin und sprach ganz offen über ihre Westeinkäufe. Oft genug hatte sie Charlotte angeboten, ihr das eine oder andere mitzubringen, ein gutes Stück Seife oder Tosca, ein Parfum, für das sogar Max eine Schwäche hatte.

      Charlotte passte scharf auf, entdeckte in dem Gewusel der Umsteigenden aber weder Frau Raabe noch sonst ein vertrautes Gesicht. Von der Raabe wusste sie, dass sich andere Ehefrauen aus dem Städtchen keineswegs so abstinent verhielten wie sie, wenn es um Besuche in West-Berlin ging. Vor allem unter den sogenannten Kulturschaffenden gab es genügend unsichere Kantonisten, von denen viele noch aus den Jahren ihres Westexils über Kontakte nach «drüben»verfügten und sich keineswegs


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