Grenzgänge. Jan Eik

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Grenzgänge - Jan Eik


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mit der Tochter nicht durch Gemecker zu belasten. Oder hatte Elke ihr etwa doch eine Bemerkung übelgenommen, ohne dass es ihr aufgefallen war?

      Was hatte sie falsch gemacht, das eine solche Kluft zwischen Elke und ihr rechtfertigte? Gewiss, in den Jahren beim Rundfunk war viel zu wenig Zeit für die Heranwachsende geblieben. Elke hatte ihr eigenes Leben geführt, das äußerlich keinen Grund zur Beunruhigung bot. Was wirklich in dem Mädchen vorging, war Charlotte verborgen geblieben. Auch jetzt wusste sie im Grunde nicht mehr über ihre Tochter, als dass sie studierte. Publizistik und Theaterwissenschaft. Und dass sie für Brecht schwärmte und öfter das Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm besuchte. Ein ideologischer Hoffnungsschimmer für Charlotte, während Max aus seinem Misstrauen gegen den «Augsburger», wie er Brecht stets betitelte, kein Hehl machte. Wo Elke politisch wirklich stand, vermochte Charlotte nicht einmal zu erraten. Den knappen, nur flüsternd vorgetragenen Bericht über die Schreckenszeit in der Haft, zu dem sich Charlotte nach dem Parteitag in Moskau überwand, hatte Elke mit Schweigen quittiert. Davon, dass ihr Vater inzwischen rehabilitiert worden war, ahnte sie nichts. Auch deshalb musste sie unbedingt mit Elke reden.

      Vor dem Haus angelangt, fiel ihr die renovierte Fassade auf. In dem ehemaligen Antiquitätengeschäft residierte eine Fahrschule. Ein chices Auto stand vor der Tür und dahinter ein Gefährt mit gläsernem Dach, das an ein Kleinstflugzeug erinnerte.

      Es hatte sich noch mehr geändert. Die stets offenstehende Haustür war verschlossen, links in der Wand war eine Klingelleiste installiert. Menzel las sie dort und hinter einem Schrägstrich einen zweiten Namen: U. Losinski. Richtig, Elke hatte vor einiger Zeit ihre Absicht erwähnt, der steigenden Miete wegen einen Untermieter aufzunehmen. Entschlossen drückte Charlotte auf den Klingelknopf. Ein scharfes Klicken ertönte, dann quäkte eine Männerstimme: «Bin schon unterwegs!»

      Ratlos starrte Charlotte die Tür an. «Das ist ein Missverständnis», sagte sie dann. «Ich möchte zu Fräulein Menzel.»

      Eine Antwort blieb aus.

      Sie drückte erneut auf den Knopf. Nichts. Dann die sich überschreiende Männerstimme, die ungeduldig «Ja doch!» hervorstieß. Kurz darauf vernahm Charlotte das Zuknallen der Wohnungstür im Treppenhaus. Sie kannte das vertraute Geräusch noch.

      Schritte polterten die Treppe herab, die Haustür wurde aufgerissen. Ein baumlanger junger Mann wollte an ihr vorbeistürmen. Sie hielt ihn am Ärmel fest. «Herr Losinski?», fragte sie.

      Überrascht blickte er auf sie hinab. «Ja, bitte?»

      «Ich möchte zu Fräulein Menzel.»

      Sein Befremden wuchs sichtlich. «Die ist nicht da», sagte er barsch und wollte gehen, nicht ohne die Frau, die noch immer seinen Arm umklammerte, mit einem gewissen Misstrauen zu betrachten. «Was wollen Sie denn von ihr?»

      «Ich bin ihre Mutter.»

      Er schien zu erschrecken. «Sie ist trotzdem nicht da», sagte er ablehnend, doch immerhin eine Spur höflicher.

      «Und wann kommt sie wieder?»

      «Keine Ahnung.» Es war klar, dass er an einem Gespräch mit ihr nicht interessiert war.

      «Sie wohnen doch mit ihr in derselben Wohnung!»

      Moralische Skrupel waren Charlotte fremd. Aber wenn eine bildhübsche 25-jährige Frau und ein Mann, der nur ein wenig älter sein konnte, gemeinsam in einer Zweieinhalbzimmerwohnung lebten, sah das nach einer engeren Beziehung aus.

      «Elke ist zurzeit nicht hier», äußerte der Mann vage. Das Thema schien ihm nicht zu behagen. «Tut mir leid, ich muss los.»

      Charlotte besann sich nicht lange, versperrte ihm den Weg in Richtung auf das rote Kleinflugzeug. «Einen Moment werden Sie wohl noch Zeit für mich haben», sagte sie kühl. «Wo ist meine Tochter?»

      Er wich ihrem Blick aus.

      Der Kerl gefiel Charlotte überhaupt nicht. Sein Äußeres wirkte ungepflegt, der Bartflaum zottelig, das Haar zu lang. Passte es zu Elke, sich mit so einem einzulassen?

      «Kann ich nicht sagen», murmelte er, wobei er sich nach allen Seiten umblickte, als könnte jemand sie beobachten. «Sie wird sich schon wieder melden.»

      So leicht war Charlotte nicht abzuschütteln. Sie sagte laut und bestimmt: «Ich möchte wissen, wo sich meine Tochter aufhält! Und ich erwarte eine vernünftige Antwort von Ihnen.»

      Ihm war anzumerken, wie lästig sie ihm wurde. «Ich weiß es nicht», sagte er unbestimmt. «Sie ist weggefahren …» Er wandte sich um und klappte die Glaskanzel des Fahrzeugs auf.

      «Wenn Sie mir keine Auskunft geben wollen, muss ich mich wohl an die Polizei wenden», sagte Charlotte.

      Er erschrak. «Lassen Sie das lieber sein!», sagte er halblaut und ein wenig drohend, wie ihr schien. «Sie bringen uns in Teufels Küche!»

      IM GRUNDE gefiel Oberkommissar Otto Kappe die Frau, die vor ihm saß. Als Frau jedenfalls: eine schlanke, aber keineswegs magere Mittdreißigerin mit rötlich getöntem Haar, das nicht ganz so akkurat frisiert war, wie es zu der eleganten Erscheinung der Dame und ihrer teuren Kleidung gepasst hätte. Auch die leicht verschmierte Schminke um ihre braunen Augen verriet etwas von dem Kummer, den sie berechtigt war zu zeigen. Vielleicht zeigte sie ihn etwas zu deutlich, wie Kappe in einer Aufwallung von Misstrauen empfand. Etwas störte ihn an dem Bild der untröstlichen Witwe. Spielte sie ihm etwas vor? Hatte sie den Stuhl vor seinem Schreibtisch mit Absicht so weit nach hinten gerückt, dass er ihre wohlgeformten Beine unbedingt wahrnehmen musste, oder war das nur die Haltung einer selbstsicheren Person, die sich ihrer Wirkung bewusst war?

      Andererseits gab es keine Norm, wie eine so plötzlich in eine Witwe verwandelte junge Frau sich als Zeugin zu betragen hatte. In dieser Rolle gefiel sie Kappe weniger. Nur stockend teilte sie auf seine bewusst zurückhaltenden Fragen ihre persönlichen Daten und karge Einzelheiten ihres Lebenslaufs mit: Verena Roeder, am 8. April 1922 als Verena Hassenkamp in Stralsund geboren, nach Abitur und abgebrochenem Kunststudium infolge der Kriegsereignisse ins Mecklenburgische verschlagen, 1953 wie ihr späterer Mann Ronald als politischer Flüchtling in West-Berlin anerkannt, seitdem in Reinickendorf ansässig. Das Häuschen, dessen Reste nunmehr ihren ganzen Besitz darstellten, sah man von dem blauen Ford Taunus ab, mit dem sie in der Nacht bei der Brandstätte aufgetaucht war, hatten sie mit Hilfe der Hassenkamp’schen Verwandtschaft erworben und zu einem wohnlichen Heim ausgebaut. Ihr Mann, obwohl von Hause aus studierter Volkswirt, hatte sich als ein handwerklich begabter Mensch erwiesen, der auch wesentliche Teile der teuren Heizanlage selbst installiert hatte …

      An diesem Punkt schlug sie die Hände vor das Gesicht und beugte sich aufschluchzend weit vor, wobei sie, wie Kappe nicht umhinkam zu bemerken, mit den Ellenbogen den engen Rock um einiges zurückschob, was ihm zwangsläufig einen Blick weit über ihre aufreizenden Knie hinaus gestattete. Gerne wäre er jetzt aufgestanden und hätte ihr väterlich-mitfühlend die Hand auf die Schulter gelegt, doch er hütete sich von jeher vor derlei Vertraulichkeiten. Außerdem stand ihm – und ihr – das Schlimmste noch bevor: die Identifizierung der Leiche, die bereits abtransportiert war, als Frau Roeder zu Hause erschien. Dass es sich bei dem Brandopfer nur um ihren Mann handeln könne, hatte sie im Angesicht der qualmenden Ruine fassungslos zu Protokoll gegeben. Er habe die Heizung nach dem langen Winter überprüfen und in Ordnung bringen wollen. In letzter Zeit habe es Schwierigkeiten mit dem Warmwasser gegeben.

      «Kommen wir nun zur Person Ihres Mannes», sagte Kappe mild, nachdem sich Frau Roeder etwas beruhigt und den Rock wieder züchtig bis an die Knie gezupft hatte. «Wann und wo ist er geboren?»

      «Am 22. Juni 1916, in einem kleinen Ort in Westpreußen. Den Namen vergesse ich immer wieder.» Sie blickte Kappe entschuldigend an. «Er steht in unserer Heiratsurkun …» Sie stockte, wohl weil ihr bewusst wurde, dass dieses Dokument unwiederbringlich ein Opfer der Flammen geworden sein musste. «Alle unsere Papiere sind verbrannt», stellte sie denn auch mit schreckgeweiteten Augen fest. «Alle.»

      «Haben Sie die nicht in einem


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