Chronik von Eden. D.J. Franzen
Читать онлайн книгу.aber auch untereinander ist dabei so groß, dass wir Ihnen leider keine Bilder zeigen können. Es wird aber von zahlreichen Verletzungen berichtet, die auch durch Bisse der unglaublich aggressiven Plünderer verursacht wurden. Das Auswärtige Amt rät derzeit von Reisen nach Amerika, den Westen Russlands und nach China ab. Innerhalb der Europäischen Union sei die Lage aber noch stabil, und Reisen problemlos möglich.
Weitere Meldungen …«
(Bericht aus der Tagesschau der ARD)
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T-Minus 45 Tage … Kriegsrecht
Alle Fluglinien canceln ihre Flüge in folgende Länder: England … Frankreich … Italien … Polen … USA … Ausnahmezustand verhängt … EU-Innenminister einigen sich auf allgemeinen Ausnahmezustand in allen Ländern der EU … Um Versorgungsengpässe zu verhindern, werden NATO-Einsatzkräfte an den Brennpunkten eingesetzt, um Trinkwasser und Notrationen zu verteilen … Ausgangssperre ab 19:00 Uhr in folgenden Städten … Frankfurt … Berlin … Köln …
(Per SatWas während einer Sondersendung aller öffentlich-rechtlichen Sender als Laufschrift eingeblendet)
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Das Dach von Franks Elternhaus zierte eine Solaranlage, die er schon vor mehreren Jahren, als seine Eltern noch lebten, dort installiert hatte. Sie erzeugte an hellen Tagen soviel Strom, dass sich ihre Anschaffungskosten schnell wieder amortisiert hatten. Einen Teil des zweiten Kellergeschosses hatte er damals für drei Monsterbatterien vom gleichen Typ ausgebaut, wie er laut Herstellerangaben auch in U-Booten Verwendung fand. Sein Vater hatte den Kopf geschüttelt, und ihn gefragt, ob er noch ganz dicht im Kopf sei, so viel Geld für diesen neuartigen Schnickschnack auszugeben.
Frank hatte damals gelächelt.
»Weißt du Paps, die Dinger haben mich kaum etwas gekostet. Die bekommst du teilweise sogar im Internet gebraucht zu kaufen. Du musst nur wissen wo.«
»Und was sollen wir mit dem ganzen Mist?«
»Paps, wenn wir die alle vernünftig aufladen, können wir die ganze Hütte wie einen Christbaum mit 1000-Watt-Leuchten für etwa eine Woche erstrahlen lassen, ohne einen einzigen Cent Stromkosten zu zahlen.«
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T-Minus 25 Tage … Chaos
… folgende Notstationen sind noch intakt … Deutz, Gymnasium Schaurtestraße … Lanxess Arena … Jahnwiesen … Rheinenergie Stadion … alle anderen Notstationen sind bis auf Weiteres geschlossen … bitte bleiben Sie zu Hause … verriegeln sie Fenster und Türen … legen Sie Wasservorräte an … NATO-Einsatzkräfte ziehen sich zurück … meiden Sie den Kontakt mit Infizierten und Reanimierten …
(Laufschrift eines öffentlich-rechtlichen Lokalsenders unter einem Testbild)
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Frank blickte entsetzt aus einem Fenster im oberen Stockwerk auf die nächtliche Straße. Menschen, wenn es denn noch Menschen waren, fielen in dem kleinen Vorortviertel von Köln übereinander her, krallten ihre Finger in Augenhöhlen, gruben ihre Zähne in warmes Fleisch … und direkt gegenüber vom Haus kauerte Dietmar Hellmers, der Ortsvorsteher des Viertels, im Rinnstein vor seinem kleinen Einfamilienhaus. Er kaute auf einem menschlichen Bein herum, als sei es ein besonders kross gebratener Hühnerschenkel. Dem Schuh und den blutigen Fetzen bunter Kniestrümpfe nach zu urteilen, war es ein Bein seiner Enkelin, aber Frank war sich nicht sicher. Der Rest des grausigen Mitternachtssnacks zuckte als blutiges Bündel vor Hellmers auf dem kalten Asphalt herum. Glücklicherweise war die Straßenbeleuchtung größtenteils ausgefallen, sodass Frank weitere Details erspart blieben.
Er ließ so leise wie möglich die Rollos herunter, als ein dumpfes Pochen von der Haustür nach oben schallte. Vorsichtig schlich er in den Hausflur. Ein Blick durch den Türspion, und vor Schreck fiel Frank beinahe ohnmächtig um.
Es war seine Tante Martha, die da vor der Tür stand. Sie sah aus, als wäre sie nur auf einen kleinen Snack vorbeigekommen. Ihre rechte Schulter war nur noch ein Stück angekautes Fleisch, das Schultergelenk eine weiße Kugel in roter Masse. Ihre linke Wange war so weit heruntergefressen, dass ihr Auge beinahe aus der Höhle fiel. Stöhnend pochte sie gegen die Haustür. Frank befürchtete, dass sie noch mehr von diesen Dingern anlocken würde. Die Ersten blickten schon dumpf die Straße entlang zu seiner Tür. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Mit zitternden Fingern griff er nach seinem Baseballschläger, öffnete die Tür und ließ seine Tante eintreten.
Dann gab er ihr den letzten Frieden.
Es war eine fürchterliche Sauerei, und es dauerte länger, als es Frank lieb war.
Aber schließlich zuckte sie nicht mehr.
Er zerrte ihre Leiche in den Flur, vergewisserte sich mit einem schnellen Blick, dass keiner von den anderen da draußen etwas von dem Spektakel mitbekommen hatte, und schloss die Tür wieder. Anschließend verbarrikadierte er sie mit den neu angeschafften Sicherheitsbalken. Mit zitternden Gliedmaßen sank er neben Tante Marthas leblosem Körper zu Boden und weinte und kotzte und hoffte, dass dies alles nur ein böser Traum sei.
Doch der Geruch von Tante Martha holte ihn schließlich zurück in die Gegenwart. Nicht dass er ihr Parfüm zu Lebzeiten besonders gemocht hätte, aber das, was sie heute Abend aufgelegt hatte, war einfach eine zu starke olfaktorische Herausforderung für ihn.
Vielleicht Fäulnis exklusiv, der neue Duft von Chanel?
Die Mauer aus albernen Gedanken und Assoziationen, die Frank als Schutz um sein Denken herum aufgebaut hatte, bekam in einem zittrigen Laut, der zugleich hysterisches Lachen und panisches, atemloses Schreien war, Risse. Die Realität rollte mit ungeahnter Wucht über ihn hinweg. Zurück blieb nach einem kurzen Gefühlschaos nur noch eine betäubte Leere in seinem Denken und Fühlen. Wie ein Schlafwandler zog er Tante Marthas Leiche in den Garten hinter dem Haus, der glücklicherweise von einer hohen Mauer umgeben wurde. Dann wischte er die Sauerei im Flur weg, holte eine Schaufel aus dem Gartenhäuschen, und begann im Licht des Vollmondes zu graben.
Mechanisch.
Als er bis zu den Knöcheln in der Grube stand, reckte er sich. Sein Blick glitt über die Terrasse hinweg auf das Holzkreuz, das wie ein dunkler Blickfang über der Wohnzimmertür hing. Es war ein Erbstück seiner Eltern, die in ihren Werten streng katholisch gewesen waren, es aber nie geschafft hatten, ihm die gleiche Hingabe an die Religion zu vermitteln. Er wollte es schon längst entsorgt haben, aber irgendwie hatte er die Umsetzung dieses Entschlusses immer wieder vor sich hergeschoben. Frank sah genauer hin. Der gepeinigte Jesus blickte finster auf ihn hinab. In Erlöserlaune war der bestimmt nicht, egal was seine Eltern immer behauptet hatten. Und in diesem Moment wurden Frank mit aller Deutlichkeit einige wichtige Fakten bewusst: Das alles war kein Traum, es gab nirgendwo einen Regisseur, der laut »CUT!« rief, es waren definitiv keine Komparsen mit jeder Menge Latex im Gesicht, die da durch das kleine Kölner Viertel auf der schäl Sick herumstromerten und auch keine normalen Plünderer, die sich schnell ein paar Schätze für die Zeit nach dem Desaster sichern wollten. Fakt war vielmehr, dass der große, alte Mann da oben, sofern es ihn wirklich gab, die Nase voll hatte von Kriegen, Umweltverschmutzung, Börsencrashs und all dem anderen schwachsinnigen Zeugs, das seine Schöpfung da auf seine Welt losgelassen hatte. Also war Gott letzten Endes zu dem Schluss gekommen, dass es besser wäre, seine Geschöpfe den Lokus runterzuspülen, um nochmal von vorne zu beginnen. Vielleicht wäre das Programm Dinosaurier 2.0 eine gute Alternative?
Unbewusst verfiel Frank in ein atemloses Dankgebet an alle Heiligen, das ihm seine Mutter als Kind beigebracht hatte. Eigentlich glaubte er ja nicht an diesen Hokuspokus, aber schaden konnte es ja auch nicht. Er dankte ihnen allen für die frühzeitige Vision, die ihn dazu veranlasst hatte, sein Haus rechtzeitig zu einer kleinen Festung auszubauen und sich ordentlich Vorräte anzulegen. Wenn er sich nur tief genug in sein Schneckenhäuschen zurückzog, würde der da oben ihn bestimmt übersehen, und dann hätte er gute Chancen, Armageddon unbeschadet zu überstehen.
Er war kurz vor dem Amen und bei den letzten Schaufeln Erde für Tante Marthas definitiv letzte Ruhestätte angekommen,