Archäologie. 100 Seiten. Kurt Wallat

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dem Mittelalter bekannt und deren Rezeption bei Buchgelehrten eine Selbstverständlichkeit. Warum interessierte man sich nun plötzlich für das Forum Romanum, das jahrhundertelang als Steinbruch für umliegende Häuser gedient hatte und einer Müllkippe glich?

      In den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts entwickelte sich parallel zum Barock mit seinem üppigen, prunkvollen Stil zunehmend eine neue Stilrichtung, die nüchterne, klarere Linien bevorzugte und sich daher eindeutig an Vorbildern des klassischen Altertums orientierte. Fortan glichen die Bauten mit ihren Säulenfronten griechischen Lang- und Rundtempeln, replizierten nicht selten ein singuläres Element, wie die Kuppel des Pantheons in Rom. Einen wahren Schub erhielt der Klassizismus mit den in der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Ausgrabungen in Herculaneum und Pompeji. Nun spätestens etablierte er sich als alleinige Stilrichtung, der Barock verschwand weitestgehend.

      In dieser Zeit sorgte im deutschsprachigen Raum ein Bibliothekar für Furore: Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), der als Begründer des Klassizismus gilt. Seine Abhandlung Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst erschien 1755 und hat die Rezeption antiker Kunst durch eine völlig neue Sichtweise nachhaltig beeinflusst. Nie machte Winckelmann einen Hehl daraus, dass die Kultur des antiken Griechenland in seinen Augen von herausragender Bedeutung sei. Weniger enthusiastisch beurteilte er die römische Kunst. Ironischerweise basierten seine Ausführungen ausgerechnet auf römischen Kopien griechischer Kunstwerke, nicht etwa auf Originalen. Lange Reisen führten ihn nach Italien, wo er in allen wichtigen Städten Material für seine Schriften sammelte. Geheimnisumwoben ist sein Tod. In Triest wurde er von dem vorbestraften Koch Francesco Arcangeli erstochen (ob die Tathintergründe erotischer Natur waren, konnte nie zweifelsfrei geklärt werden).

      »Es kann leichter von der Schönheit gesagt werden, was sie nicht ist, als was sie ist; und es verhält sich einigermaßen mit der Schönheit und ihrem Gegenteile, wie mit Gesundheit und Krankheit: diese fühlen wir und jene nicht.«

      Johann Joachim Winckelmann

      Pompeji und Giuseppe Fiorelli

      Die Geschichte der Ausgrabungen in Pompeji war in den letzten Jahrzehnten des 18. und den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine überaus traurige, was insbesondere damit zusammenhängt, dass zu der Zeit eine fundierte Grabungswissenschaft noch nicht existierte. So setzte man eine große Anzahl an Arbeitern ein, um in raschem Tempo ausgedehnte Flächen der Stadt freizulegen. Ausgehend von Südwesten wühlten sich diese in Richtung Osten voran. Dutzende Männer trugen die Verschüttungsmassen zügig ab, ohne der Stratigraphie, der Schichtenfolge, große Beachtung zu schenken. Als fatal erwies sich zudem die Methode, zunächst Plätze und vor allem Straßen großflächig auszugraben, um dann von dort seitlich in die Gebäude vorzustoßen. Natürlich geschah dies auch, weil man von der Vielzahl an Funden geradezu überwältigt war.

      Relativ früh wurden die Fortschritte in der Grabung und wichtige Fundstücke in einem Tagebuch festgehalten, jedoch gab es noch kein System, das es ermöglicht hätte, die Lage eines Hauses und seiner Räume genau zu adressieren. Aber schon damals bedachte man die freigelegten Gebäude mit Namen: Die Bezeichnung konnte sich aus einem spezifischen Fund, einer Inschrift an der Hauswand, dem Motiv aus einer Wandmalerei ableiten, oder auf den Besuch einer anerkannten Persönlichkeit zurückgehen. So gab und gibt es ein »Haus des Goethe« (zu Ehren seines Besuchs), ein »Haus des Paquius Proculus« (Inschrift an der Hausfassade), ein »Haus des Schiffes Europa« (Ritzzeichnung an der Wand), das »Haus mit den roten Wänden« (aufgrund einer Wandmalerei), das »Haus der Silbernen Hochzeit« (Visite eines adligen Paares). Dieses Verfahren behielt man viele Jahrzehnte bei. Kündigte sich hoher Besuch an, wurden nicht selten soeben entdeckte spektakuläre Stücke erneut vergraben, damit sie dann in Anwesenheit des Gastes wie zufällig ans Tageslicht traten.

      In Pompeji fanden sich seit dem Beginn der Ausgrabung zahlreiche Skelette von Menschen und Tieren, häufig in den Räumen, in denen sie zu Tode gekommen waren. Beim Freilegen von Straßen und Plätzen entdeckte man Reste von Opfern, die durch umstürzende Mauern oder Säulen erschlagen worden waren. Gerade diese Stellen erfreuten sich bei Besuchern größter Beliebtheit, konnte man sich doch ein wenig gruseln. Dass die Stadt durch den Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 n. Chr. quasi mitten aus dem täglichen Leben gerissen und in exakt diesem Augenblick konserviert schien, übte eine große Faszination aus: Man stieß auf Theken mit Lebensmitteln, auf Brotlaibe, die in einem Ofen verblieben waren und verkohlten. In Privathäusern lagen Gegenstände des täglichen Lebens auf den Tischen, die offensichtlich bei der überstürzten Flucht zurückgelassen worden waren. In einigen Küchen gab es eindeutige Anzeichen dafür, dass soeben noch der Ofen angefeuert worden war. Durch diese Einzelbefunde und Details erstand das antike Pompeji vor den Augen der Besucher mit einer zuvor nie gekannten Intensität. In all den Jahrzehnten jedoch fehlte ein klares Konzept, um ein bestimmtes Gebiet gezielt freizulegen und dabei gewissenhaft alle damit zusammenhängenden Entdeckungen zu dokumentieren, zu analysieren und in den Gesamtkontext zu stellen.

      »Sonntag waren wir in Pompeji. – Es ist viel Unheil in der Welt geschehen, aber wenig, das den Nachkommen so viel Freude gemacht hätte.«

      Johann Wolfgang von Goethe

      Als wahrer Glücksfall für Pompeji erwies sich die Tatsache, dass ab 1863 mit Giuseppe Fiorelli (1823–1896) ein neuer Grabungsdirektor die Verantwortung übernahm. Er stellte die archäologische Erforschung der antiken Stadt auf eine neue, solide und vor allem wissenschaftliche Basis. Die Freilegung erfolgte nun konsequent von oben nach unten, dabei wurde die Stratigraphie beachtet. Noch während der Ausgrabung eines Gebäudes sicherte man dessen Mauern vor dem Einsturz. Funde in den Verschüttungsmassen wurden dokumentiert und im jeweiligen Forschungsbericht notiert, dabei auch die Höhe über dem Bodenniveau festgehalten. Spätestens jetzt erhielt Pompeji ein bis heute gültiges System, mittels dessen über eine festgelegte Reihenfolge jedes Gebäude genau lokalisiert werden kann: Region, Häuserblock, Eingang.

      Und Fiorelli ist eine weitere, atemberaubende Methode zu verdanken: Während der Grabungsarbeiten zeigten sich in einer bestimmten Ascheablagerung immer wieder Hohlräume, die man nun mit Gipsmasse ausgoss. Häufig entstanden dabei Abdrücke von Menschen oder Tieren, die beim Ausbruch des Vesuvs ums Leben gekommen waren. Die organischen Bestandteile waren längst verwest, Knochen, ebenso mitgeführte Gegenstände (Schmuck, Schlüssel) aber noch vorhanden. Selbst Spuren der Kleidung hatten sich in Abdrücken erhalten. Zum ersten Mal bekamen die Opfer der Katastrophe sozusagen ein Gesicht. Viele dieser Körper sind im Moment des Todes konserviert.

      Sicherlich kann man darüber streiten, ob es pietätlos ist, die Abgüsse von Opfern einer Naturkatastrophe in Glaskästen auszustellen. Andererseits verdanken wir gerade diesen Abgüssen wertvolle Erkenntnisse zur Anatomie der Bewohner von Pompeji, zur Kleidung und zu ganz alltäglichen Gegenständen.

      Troja und Heinrich Schliemann

      Herakles und der nemeische Löwe, Theseus und das Labyrinth, die Irrfahrten des Odysseus und der einäugige Polyphem. Die Sagen des klassischen Altertums sind fast so bekannt wie Grimms Märchen. Man stelle sich nun vor, ein Wissenschaftler würde beschließen, anhand der von den Brüdern Grimm überlieferten Geschichte über Hänsel und Gretel das darin erwähnte Hexenhaus zu suchen. Ja, genau … Ganz ähnliches mussten die Altertumswissenschaftler des späten 19. Jahrhunderts gedacht haben, als Heinrich Schliemann (1822–1890) sich auf den Weg in die Türkei machte, um das sagenhafte Troja zu finden, laut antiker Überlieferung (Homer) Zentrum eines mythischen Krieges.

      Schliemann wollte an dem Ort sein, an dem Helden in Streitwagen über die staubige Ebene fegten, Achilleus gegen Hektor kämpfte, antike Götter fleißig mitmischten – alles wegen eines Prinzen namens Paris und einer Fürstengattin namens Helena. Verständlicherweise erntete Schliemann nur Kopfschütteln, wurde bestenfalls milde belächelt. Aber er hatte Erfolg. Mit ziemlicher Sicherheit ermittelte er tatsächlich den in der Sage vom trojanischen Krieg beschriebenen Ort (auch wenn inzwischen kein Historiker mehr


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