Fremde und Fremdsein in der Antike. Holger Sonnabend
Читать онлайн книгу.entsprachen. Im 5. Jahrhundert v. Chr. formulierte der griechische Historiker Herodot die klassische Definition dessen, was aus Griechen Griechen macht (8,144): »Wir haben die gleiche Abstammung, die gleiche Sprache, die gleiche Religion und die gleichen Lebensformen.«
Das bedeutet im Umkehrschluss: Fremde haben eine andere Abstammung, eine andere Sprache, eine andere Religion und andere Lebensformen.
Woher sie kamen und von wem sie abstammten, wussten die Griechen – die sich meistens Hellenen nannten – selbst nicht so genau. Immerhin wussten sie, dass es sie nicht schon immer gegeben hatte. So sagt der athenische Historiker Thukydides im 5. Jahrhundert v. Chr. (1,2): »Es ergibt sich nämlich, dass, was heute Hellas heißt, nicht von alters her fest besiedelt gewesen ist, sondern dass es früher Völkerwanderungen gab und die einzelnen Stämme leicht ihre Wohnsitze verließen unter dem Druck der jeweiligen Übermacht.«
Später, als sie sich dann nach einer langen Phase der Formierung gefunden hatten und eine ethnische oder zumindest kulturelle Einheit bildeten, waren die Griechen bemüht, sich eine gemeinsame Herkunft zu verschaffen. Beliebt war das Mittel, eine Abstammung von Göttern, Heroen oder fiktiven Stammvätern zu konstruieren und damit Identität zu erzeugen. Verbreitet war der Mythos von einem Stammvater Hellen, auf den über seine Söhne und Enkel letztlich alle Griechen – oder besser: Hellenen – zurückgegangen sein sollen. Eine für die Griechen typische Art der Rekonstruktion: Ortsnamen, Personennamen oder Völkernamen wurden gerne vom völlig fiktiven Namensgeber abgeleitet, hinter dem man sich scharte, um zu einer Identität zu finden und sich von anderen abzugrenzen.
Ein wichtiges Element von Zugehörigkeit und Identität waren bei den Griechen die Phylen und Phratrien. Die Phyle wird im Allgemeinen etwas altertümlich mit »Stamm« oder »Sippe« übersetzt. Diese Verbände entstanden in den Zeiten der großen Wanderungen der nachmykenischen Zeit, als sich die Stadtstaaten formierten. Sie bildeten das Fundament der für die Griechen der klassischen Zeit charakteristischen Poleis. Niemals aber vergaßen die Griechen ihre stammesmäßige Herkunft.
Die Phratrie, etymologisch abgeleitet von dem griechischen Wort für »Bruder«, bildete, als Unterabteilung einer Phyle, einen Zusammenschluss von Personen, die sich familiär miteinander verbunden fühlten. Dabei handelte es sich um Großfamilien, die mehrere hundert Köpfe zählen konnten. Diese Clans waren eng miteinander verbunden, feierten gemeinsame Feste, heirateten untereinander und halfen sich in allen wichtigen Angelegenheiten. Die wichtigste Veranstaltung war das jährlich stattfindende Apaturia-Fest in Athen. Hier demonstrierten die Mitglieder der Phratien ihre Zusammengehörigkeit und ihren Zusammenhalt. Das Fest dauerte drei Tage und bot viele Attraktionen. Die jungen Männer, Epheben genannt, wurden zeremoniell in die Gemeinschaft der Erwachsenen eingeführt, indem man ihnen das Haar schor. Gleichzeitig wurden die im abgelaufenen Jahr geborenen Kinder in die Großfamilie aufgenommen. Per Eid oder Opfer bezeugten dabei die jeweiligen Väter, dass die Kinder aus einer legitimen Ehe mit einer Athenerin stammten.
Fremde, die diesem Spektakel zusahen, fühlten sich dabei nicht gerade perfekt integriert. Im Gegenteil: Nichts konnte ihnen deutlicher vor Augen führen, dass sie nicht dazugehörten. Die Griechen bildeten aus ihrer Sicht eine verschworene, exkludierende Gemeinschaft.
Nicht alle Griechen verstanden sich untereinander problemlos. Es gab verschiedene Dialekte, die eine Kommunikation erschwerten. Und doch waren sie eine einheitliche Sprachfamilie. So fungierte die Sprache als ein wesentliches Element bei der Frage, wer zu den Griechen gehörte und wer nicht. Wer nicht Griechisch sprach, war ein »Barbar« – so das lautmalerische Etikett, das die Griechen, stolz auf die Ästhetik ihrer Sprache und den Reichtum an Vokalen, all jenen anhefteten, die Klänge benutzten, die sich in ihren Ohren wie kakophonisches Kauderwelsch anhörten.
Zum Glück waren die Griechen keine Sprachwissenschaftler. Denn wenn die Sprache ein Faktor war, der Griechen von Nichtgriechen trennte, hätten sie auch die frühen Kreter nicht für Griechen halten dürfen. Auf Kreta entstand um 2000 v. Chr. die minoische Kultur, die erste europäische Hochkultur, benannt nach dem sagenhaften König Minos, der, wie die Griechen überzeugt waren, im Palast von Knossos residierte. Die Griechen waren stolz, schon so früh so bedeutend gewesen zu sein und vereinnahmten die minoische Kultur retrospektiv als Anfang und Ausgangspunkt ihrer eigenen Kultur. In Wirklichkeit waren die Minoer keine Griechen, denn sie sprachen, wie ihre Linear A genannte Schrift beweist, nicht Griechisch, sondern eine vorgriechische Sprache.
»Ich bringe Opfer für Zeus, Hera, Poseidon, Demeter, Apollon, Artemis, Athene, Ares, Aphrodite, Hermes, Hephaistos und Hestia.« Ein Grieche, der diesen Satz sagte, war ein vorbildlicher Grieche. Denn er erwies allen wichtigen Göttinnen und Göttern seine kultische Reverenz. Die zwölf Göttinnen und Götter, die weit oben auf dem Olymp thronten, waren in religiöser Hinsicht das Maß aller Dinge.
Der bärtige Zeus der Griechen mit den Widderhörnern Amuns, römische Marmorbüste des Zeus-Ammon aus der Oase Siwa, 120–160 n. Chr., Metropolitan Museum of Art
Die Sympathiewerte der Griechen waren bei den anderen Völkern nicht so hoch, wie sie es sich selbst vorstellten. Bei vielen waren sie im Gegenteil sehr unbeliebt. Das lag vor allem daran, dass sie der Meinung waren, sie seien in allen Bereichen die Besten. Schlimmer noch: Sie waren in den meisten Bereichen auch die Besten. Aus dieser überlegenen Grundhaltung heraus waren sie auch der Ansicht, dass es neben ihren Göttern keine anderen Götter gebe. Die Götter anderer Völker, so ihre Vorstellung, müssten die griechischen Götter sein, nur mit einem anderen Namen. Das Fremde wurde unter griechischen Vorzeichen interpretiert. So setzten sie etwa den ägyptischen Gott Amun mit ihrem obersten Gott Zeus gleich und nannten ihn Zeus-Ammon. Insofern war die Religion in der Praxis kein wirklich trennendes Element zwischen den Griechen und den Fremden. Die »Barbaren« mussten eben nur einsehen, dass ihre Götter in der Realität die Götter der Griechen waren.
Lebensformen
Um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. unternahm Herodot, dem die Definition dessen, was einen Griechen und implizit einen Fremden ausmacht, zu verdanken ist, eine Reise nach Ägypten. Von dieser Reise hat er einen umfangreichen Bericht vorgelegt, den er im zweiten Buch seiner Historien veröffentlichte. Er tauchte in die fremde Welt ein und notierte gewissenhaft alles, was ihm dabei auffiel (2,35).
»Sie haben sich in fast allen Bereichen Gewohnheiten und Sitten zurecht gelegt, die denen anderer Menschen gerade entgegen gesetzt sind. So gehen die Frauen bei ihnen auf den Markt und handeln, die Männer aber sitzen zu Hause und weben. Und beim Weben schlagen die anderen den Einschlag nach oben, die Ägypter nach unten. Lasten tragen die Männer auf den Köpfen, die Frauen auf den Schultern. Die Frauen lassen Wasser im Stehen und die Männer im Hocken. Ihre Notdurft verrichten sie in den Häusern und sagen dazu, was unanständig, aber notwendig ist, solle man im Verborgenen tun, was aber nicht unanständig ist, vor aller Augen. Keine Frau versieht Priesterdienste, weder bei einem Gott noch bei einer Göttin, sondern nur Männer, bei allen Göttern und Göttinnen. Die Söhne brauchen ihre Eltern nicht zu ernähren, wenn sie keine Lust haben, aber die Töchter müssen es, auch wenn sie keine Lust haben.«
Alles anders als bei uns, lautet die Botschaft, die Herodot vermitteln will. Nicht alle seiner teils skurrilen Behauptungen halten einer kritischen Betrachtung stand. Wichtiger aber ist der Maßstab, den er anlegt. Er spricht von »anderen Menschen« und meint damit in erster Linie die Griechen. Bei ihnen konstatiert er gemeinsame Formen der Gestaltung des alltäglichen Lebens,