Stanisław Brzozowski. Aleksandra Konarzewska
Читать онлайн книгу.eine versteckte Form des kulturellen Imperialismus, da der Verzicht auf die nationale Frage in der Praxis eine Unterordnung unter diejenigen Kulturen bedeutete, die bereits den hegemonialen Status besaßen. Brzozowski hatte ein breiteres Verständnis von Marxismus; die wahre Emanzipation bezog sich in seinen Augen nicht nur auf die Arbeitsbedingungen, sondern auch auf die damit verbundene Komplexität sozialkultureller Bedingungen und sollte in Form einer nationalen und ethnischen Selbstbehauptung auftreten.
Bei dem letzten theoretischen Text in dieser Anthologie handelt es sich um ein Fragment aus der Legende des Jungen Polens (1909), neben Ideen (1910), dem wichtigsten theoretischen Werk Brzozowskis, in dem er viele seiner früheren Äußerungen zur Kultur der Jahrhundertwende und insbesondere zur polnischen Literatur revidiert. Eines der Hauptprobleme, die in der Legende des Jungen Polens verhandelt werden, ist die Frage nach der Authentizität, die hinsichtlich verschiedener Aspekte diskutiert wird und eine Vielzahl an Themenbereichen umfasst: Religiosität, Humor und Komik, Autonomie und das Erbe der Romantik in der polnischen Kultur. Das Fragment ROMANTIK UND MODERNE rückt eine Gegenüberstellung der Romantik und des „Jungen Polens“ (wobei als „Junges Polen“ die modernistische polnische Literatur verstanden wird) in den Mittelpunkt, bei der die kraftvolle Authentizität und Individualität der polnischen Romantik von dem Epigonentum des „Jungen Polens“ kontrastiert wird. Die polnische Romantik war ein kulturelles Phänomen, mit dem Brzozowski Zeit seines Lebens in einem ständigen Dialog blieb, indem er versuchte ihre Vielfalt und Originalität intertextuell erfahrbar zu machen: Das letzte Kapitel seines frühen Buches über Fjodor Dostojewski16 ist dem romantischen Mystiker Andrzej Towiański (1799–1878) gewidmet, in der Dialogschrift Einführung in die Philosophie (Wstęp do filozofii, 1906) tritt der romantische Philosoph August Cieszkowski (1814–1894) als Gesprächspartner auf, der Roman Flammen – die Geschichte über Revolutionär:innen im Zarenreich – beinhaltet mehrere Anspielungen auf das Werk von Adam Mickiewicz (1798–1855) und Seweryn Goszczyński (1803–1876).17 Laut Brzozowski ist es der polnischen Romantik gelungen die polnische Geschichtserfahrung samt der historischen Besonderheiten Ost- und Mitteleuropas in den Rang moderner Weltliteratur zu erheben. In Werken von Goszczyński, Mickiewicz, Juliusz Słowacki oder Antoni Malczewski stellen lokale Themen aus Belarus oder der Ukraine keine Exotik dar, sondern eine authentische Abbildung harter Lebens- und Geschichtserfahrungen, in denen sich die moderne conditio humana widerspiegelt. Die polnische Romantik thematisierte auf eigene Weise die Grundprobleme der Moderne: nicht nur jene Daseinszustände, die zukünftig als „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) oder „transzendentale Obdachlosigkeit“ (György Lukács) bezeichnet werden,18 sondern sie warf auch die Frage nach Emanzipationsmöglichkeiten auf. Dies kennzeichnete auch die romantische Vorstellung des ‚Polentums‘ in bezeichnendem Maße und verlieh ihr eine Dimension (selbst-)ironischer Ambivalenz. Mit der Zeit aber, so Brzozowskis Diagnose, wurde die polnische Romantik in der populären Vorstellung auf einen kuriosen Nationalismus reduziert, der für eine besondere Rolle Polens in der Weltgeschichte plädiere, jedoch außer pathetischen Standardfloskeln keine Errungenschaften mit sich bringe. Stattdessen führe er intellektuelle Faulheit und Ausreden herbei, um den kulturellen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Moderne (insbesondere der Entfremdung) entkommen zu können.
Die Romantik war die Bewahrung des Glaubens in der realen Qual. Heute macht man aus ihr ein um des eigenen Stolzes willen täglich erneuertes Passionsspiel; die eigene unfruchtbare Existenz. Ich kann nichts tun, trotzdem aber glaube ich, rief die Romantik. Seht nur, wie ich glaube, ich tue ja nichts, wiederholen heute ihre Epigonen. Dort war Golgatha, hier Oberammergau. Dort war das Märtyrertum, hier der Wunsch, sich durch die „Qual“ vor der Arbeit zu drücken. (S. 81)
In ROMANTIK UND MODERNE ist auch eine Anspielung auf das Dramastück Die Ungöttliche Komödie (veröffentlicht 1835) des romantischen konservativen Dichters und Denkers Zygmunt Krasiński (1812–1859) zu finden, den Brzozowski wertschätzte. Die Handlung dieses Dramas spielt in einer imaginierten Zukunft, in der es zu einer demokratisch-atheistischen Revolution gegen die christlich-konservative Aristokratie kommt. Einerseits zeichnet Krasiński das schonungslose Porträt einer im Verfall begriffenen ‚alten Welt‘, andererseits porträtiert er die Revolutionär:innen als einen primitiven, zynischen und gewaltbereiten Mob, der sogar ihr eigener Anführer tief verachtet. Manch einer (wie Czesław Miłosz) vermochte in Krasińskis Drama die Hauptannahmen der geschichtsmaterialistischen Dialektik oder sogar eine Prophezeiung der kommunistischen Revolution zu erkennen.19 Der Kampf zwischen reaktionären und revolutionären Kräften wird in Die Ungöttliche Komödie sehr abstrakt dargestellt, ohne Verweise auf ein konkretes Land oder eine bestimmte Zeitperiode. Brzozowski beruft sich auf Krasińskis Werk als Beispiel für eine aufrichtige Auseinandersetzung mit den real konkurrierenden Weltanschauungen. Mit der romantischen Bereitschaft, die unterschiedlichen Weltbilder entschlossen neu zu durchdenken, wird die jungpolnische „Ohnmacht“ kontrastiert:
Hinter den hochmütigen Worten zu den Aufgaben der [heutigen] Literatur verbirgt sich feige Huldigung für geistige Laster und Schwächen, die fast absolute Unfähigkeit, sich angesichts der historischen Aufgaben klar und männlich auszusprechen. Wo gibt es eine Antwort auf die Frage nach unserem Verhältnis zum Christentum, zum Katholizismus, zur Demokratie, zu den Problemen der Befreiung der Arbeit[?] Das Junge Polen lebt am Körper seiner Gesellschaft, die in den großen, geschichtlichen Organismus des sich wandelnden Europa eingewachsen ist, […]– und hat sich kein einziges Mal bemüht, in diesem entsetzlichen Chaos eine klare und rücksichtslose Orientierung zu finden. (S. 88)
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Der Roman Flammen. Aus den hinterlassenen Aufzeichnungen des Michael Kaniowski (Płomienie. Z papierów po Michale Kaniowskim, 1908) ist das einzige vollendete Prosastück Brzozowskis und gilt als sein meistgelesenes Werk. Die Geschichte über einen polnischen Adligen, der ein Mitglied der russischen narodniki-Bewegung wird und sich an dem Attentat auf den Zaren Alexander II. (1881) beteiligt, wurde zwar zunächst als „russophil“ kritisiert, erwarb jedoch sehr schnell einen Kultstatus, und zwar nicht nur unter radikalen polnischen Intellektuellen; Flammen gehörte beispielsweise zu den wichtigsten Generationsromanen der radikalen zionistischen Jugend vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, in Galizien und in Palästina (Ryszard Löw erwähnt in diesem Kontext die Pfadfinderbewegung Hashomer Hatzair und die paramilitärische Gruppe Lechi).20 Der Vorwurf der Russophilie lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass Brzozowski eine Identifizierung des Fortschritts mit dem idealisierten ‚Westen‘ ablehnte und stattdessen Russland – von Polen zur damaligen Zeit vor allem mit der Freiheitsberaubung und Diskriminierung assoziiert – als ein alternatives Modernisierungsmodell darstellte. In Flammen zeigt er auf wie Russland, durch die Entstehung radikaler Bewegungen wie Narodnaja Wolja, an einem Geschichtsprozess teilnahm, der für die Formung einer modernen, selbstständigen Gesellschaft notwendig gewesen sei. Die einzigartige, durchdachte und opferbereite Radikalität war für ihn ein Beweis dafür, dass Russland Polen im Hinblick auf die angestrebte „geschichtliche Reife“ der sozialen und kulturellen Entwicklungen überboten habe. In diesem Sinne kann Brzozowskis Roman als ein Beitrag für die Diskussion über multiples modernities angesehen werden, indem er die Frage aufwirft, ob die Modernisierung tatsächlich immer nach „westlicher Art“ stattfinden muss.21
Für diesen Band werden vier charakteristische Fragmente des Romans ausgewählt, die nicht nur die Vielfalt der Themen illustrieren, die in Flammen vorkommen (Religion, Politik, sexuelle Gewalt, moderne Entzauberungsfrage), sondern auch Brzozowskis Verwurzelung in der russischen Kulturwelt. Flammen gehört, zusammen mit Dostojewskis Böse Geister (1873) und Joseph Conrads Under Western Eyes (1911), zu denjenigen politischen Romanen, denen es auf literarische Weise gelingt die Entstehung und Motivation radikaler, gewaltbereiter Gruppen im Zarenreich zu thematisieren und zugleich die Hauptsymptome des