Unter Ultras. James Montague
Читать онлайн книгу.Der Fußball trug entscheidend zur Entwicklung der uruguayischen Identität bei. So ließ das Land zum Beispiel laut Pou als erstes in Südamerika ausdrücklich »dunkelhäutige Spieler im Fußball« zu. Das kleine Land war durch Sklaverei und die Einwanderungswellen aus Europa ausgesprochen multikulturell, zugleich war es umgeben von weit mächtigeren Nachbarn mit kolonialen Ambitionen. Pou sagte: »Fußball war der Kitt, der die Nation vereinte. Als vergleichsweise junges Land waren wir zwischen Brasilien und Argentinien eingeklemmt. Doch Fußball? Durch ihn hatten wir das erste Mal das Gefühl, dass es etwas gibt, was unser ist. […] Er veränderte die uruguayische Gesellschaft.«
Die meisten Darstellungen des uruguayischen Fußballs konzentrieren sich durchaus zurecht auf seine außerordentlichen Erfolge und auf die Stars, die er hervorgebracht hat. Weit weniger Platz wird der Suche nach Erklärungen für das Phänomen des Publikums eingeräumt, der Frage also, wieso in Uruguay eine derart unzweifelhafte Leidenschaft für das Spiel herrscht. Als Pou und die übrigen Mitglieder von Nacionals historischer Kommission sich vor einigen Jahren auf die Suche nach vergessenen Geschichten der Vereinshistorie machten, entdeckten sie Zeitungsausschnitte, Fotografien und Notizen zu Miguel Reyes’ Auftritten am Spielfeldrand. Auf einer berühmten Fotografie der aus elf Nacional-Spielern bestehenden Nationalmannschaft von 1914 ist nur eine weitere Person zu sehen – Miguel Reyes, buchstäblich der zwölfte Mann. Sigmund Freud stellte in seiner Abhandlung Massenpsychologie und Ich-Analyse von 1921 dar, dass in der Masse die unbewussten Triebe von Gruppen von Individuen mit ähnlichen Interessen, die durch ein Liebesobjekt zusammengehalten werden, freigesetzt werden können. Häufig ersetze ein charismatischer Führer die Fähigkeit des Individuums, sein Es – den niederen, instinktiven Teil der Persönlichkeit – zu regulieren. Reyes war Nacionals kollektives Es. Sein Auftreten war ansteckend, wie Pou erkannte. »Was uns stolz macht, ist die Tatsache, dass er der erste Fußballfan war, der so etwas gespürt hat, der vor Begeisterung gebebt hat. Der das Spiel gelebt hat.« Pou ergänzte, es mache »einen Riesenunterschied, ob man einen Film schaut oder in ihm mitspielt«.
Eine halbstündige Autofahrt brachte mich vom Stadion zu Ernesto Reyes. Auf einem alten, mit grünem Filz bezogenen Spieltisch breitete er die Handvoll braunstichiger Fotos aus, die er von seinem Urgroßvater besaß. »Hier, das ist er mit meiner Urgroßmutter. Sie hatten fünf Kinder«, sagte er. Das Foto war beinahe vollständig verblichen. Er legte ein anderes daneben: Miguel Reyes und seine Frau an ihrem Hochzeitstag. »Miguel war verwitwet, darum trug meine Urgroßmutter Schwarz«, kommentierte er. In dem kleinen Spielzimmer befand sich alles, was von Prudencio Miguel Reyes noch vorhanden war und was man über ihn wusste. Auch das Foto, das ich bereits aus dem Museo del Fútbol kannte, hing dort. Es gab Rechnungen seines Ledergeschäfts. Ein paar Briefe. Abgerissene Eintrittskarten von Nacional-Spielen. Ein Büchlein, in dem er die Ergebnisse sämtlicher Begegnungen von Nacional und Peñarol aufgelistet hatte, beginnend mit einem 2:0-Sieg von Peñarol am 15. Juli 1900. Eine Mate-Kalebasse mit seinem Monogramm. Das war alles. Alles, was man über Prudencio Miguel Reyes’ Leben weiß, passte in einen Schuhkarton.
Ernesto nannte Miguel Reyes’ Geschichte eine verschwindende Legende. Reyes war verhältnismäßig jung gestorben und hatte seine Witwe mit den fünf Kindern zurückgelassen. Doch niemand wusste, wie oder wo er gestorben war. Ernesto fragte mich: »Wie viel wissen Sie über Ihren Urgroßvater? Wir kannten nur die Geschichte unserer Urgroßmutter und dass sie es als Witwe irgendwie schaffte, ihre fünf Kinder durchzubringen.« Auch Ernesto und seine beiden Brüder waren mit einem leidenschaftlichen Fan in der Familie aufgewachsen. Ihr verstorbener Vater war besessen von Nacional gewesen. »Er war superfanatisch«, sagte Ernesto. Irgendwann hatten seine Söhne ihn nicht mehr ins Stadion begleiten können, da er andauernd Streit mit anderen Fans angefangen hatte. Eine Farbaufnahme des Vaters hing neben einem Bild von Miguel Reyes. Der Vater stand lächelnd und mit ausgebreiteten Armen in Nacionals Trophäenraum. Ernesto schilderte mir, wie er einmal mit seinem Vater ein Nacional-Spiel besucht hatte und der Vater in eine erbitterte Auseinandersetzung mit anderen hinchas geraten war. Die Sache sei eskaliert, und sein Vater habe die Uhr abgenommen, ein unmissverständliches Zeichen, dass es ernst wurde. »Das war bei einem Freundschaftsspiel zwischen Nacional A und Nacional B!« Ernesto lachte. »Und es endete mit einer Schlägerei zwischen meinem Vater und anderen Nacional-Fans.«
In der Familie hieß es, dass, was auch immer Prudencio Miguel Reyes gepackt hatte, auch Ernestos Vater befallen habe. Dass man es »im Blut« habe. Ernesto erklärte: »Es überspringt immer eine Generation.« Sein Großvater, Miguel Reyes’ Sohn, war ein zurückhaltender Mann gewesen, hatte Klarinette gespielt und sich kaum für Fußball interessiert. Doch Ernestos Vater war mit Leib und Seele hincha gewesen. Ernesto mochte Fußball und sympathisierte mit Nacional, doch der Sport war ihm und auch seinen beiden Brüdern nicht übermäßig wichtig. Ihre Kinder dagegen waren glühende Nacional-Fans. Über seinen Sohn sagte Ernesto: »Er ist Mitglied der barra, steht bei der Fahne. Sogar zum Basketball geht er. Er ist echt verrückt.« Auch seine älteste Tochter hatte das Virus erwischt. »Sie hat das Gen, aber wir haben dem ein Ende gesetzt, weil sie eine Frau ist«, sagte er und fügte rasch hinzu, dass das nichts mit Diskriminierung zu tun habe. Sie wüssten einfach, wie gefährlich es in der barra sein könne. »Ich weiß, dass das diskriminierend ist, ja, aber damals war eine Frau in einer barra einfach nicht gern gesehen. Heute ist das anders.«
Die Reyes hatten sich schon immer gefragt, wieso ihre Familie in jeder zweiten Generation von dieser unbezähmbaren Nacional-Leidenschaft befallen wurde. Prudencio Miguel Reyes war die Antwort gewesen. Über sein Leben wussten sie nach wie vor so gut wie nichts. Er war zu einer Sagengestalt geworden, dem Helden einer nicht belegten Ursprungslegende. Beim Abschied sagte Ernesto: »Wenn wir das Wort hincha hören, ist das für uns jedes Mal etwas Besonderes.« Ihm war zu Ohren gekommen, dass sich in Argentinien sogar zwei Vereine darüber stritten, wer den Begriff hincha ursprünglich aus Uruguay importiert habe, Huracán oder Racing. »Das macht uns stolz.« Die Nachfahren von Prudencio Miguel Reyes hatten seinen Mythos zum Teil ihrer Familiengeschichte gemacht, so wie La Banda del Parque ihn zum Teil ihrer Geschichte gemacht hatte.
Am folgenden Tag sollten Mikael und ich endlich La Banda del Parque treffen. Mikael erhielt eine Nachricht, dass ein Santino uns abholen werde. Er sei von kräftiger Statur, mit kurzgeschorenen Haaren und würde laut und schnell sprechen. Bis dahin war La Banda del Parque für uns nur eine Schimäre gewesen. Die Verhaftung ihres Anführers hatte ihnen zugesetzt, doch Mikael hatte ein wenig herumtelefoniert. Am Abend würde Nacional spielen, allerdings nicht Fußball, sondern Basketball, gegen Aguada in der brandneuen Antel Arena. Wie bei den europäischen Ultras spielte es keine Rolle, ob der eigene Verein im Fußball, Basketball, Wasserpolo oder Frauenvolleyball antrat: Die Farben waren dieselben, und ein Spiel war ein Spiel. Es würde eine entrada geben, also den traditionellen Umzug der barra zur Halle, auf dem sie zumeist unter Einsatz von Feuerwerkskörpern, Bengalos, Rauchbomben und Trommeln ihre Banner präsentierten. Am frühen Abend holte Santino uns mit dem Auto ab. Er trug einen blauen Nacional-Hoodie. Mit donnernder Stimme sagte er, dass er Anwalt sei. Er redete in einem Höllentempo und nahm die Kurven ein bisschen zu rasant. Die Reifen quietschten. Er war schon seit Langem bei La Banda del Parque aktiv, doch was genau er da machte, wurde nicht klar. »Ein bisschen hiervon, ein bisschen davon«, sagte er. Er durfte sich auf dem Vereinsgelände und im Stadion frei bewegen, momentan konnte er allerdings bei Spielen seines Vereins nicht dabei sein, und zwar unabhängig von der Sportart. Durch seinen Beruf hatte er mehr als einmal den Kopf aus der Schlinge ziehen können, doch als bei einer Leibesvisitation eine Pistole bei ihm gefunden und er verhaftet worden war, hatte auch er nichts machen können. Er brachte uns zu einem über und über mit Nacional-Graffiti bemalten Skatepark in der Nähe des Parque Central. Rund 50 Mitglieder der barra bereiteten sich auf die entrada vor. Fast ausschließlich junge Männer. All die Gesichter und Namen verwirrten mich. Irgendjemand drückte mir Haschischkugeln in die Hand, offenbar das einzige, was es umsonst und im Übermaß gab. Marihuana war 2013 in Uruguay legalisiert worden, außerdem war ein Höchstpreis festgelegt worden, wodurch quasi über Nacht der illegale Markt trockengelegt worden war.
»Dies ist die barra, und etwas anderes gibt es nicht«, sagte Mateo, ein kräftig gebauter Mann mit einer Basecap mit der Aufschrift »Winner«. Er sei ein bekanntes Mitglied der Banda del