Unter Ultras. James Montague

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Unter Ultras - James  Montague


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wollte ich wissen.

      »Ich habe auf zwei Peñarol-Fans geschossen«, erwiderte er und formte beide Hände zu Pistolen. Er holte sein Handy hervor und zeigte mir Fotos von sich in der Zelle. Auf den meisten hatte er die Finger lächelnd zum Victory-Zeichen gespreizt. Sein Freund Martin war ebenfalls gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden, nachdem er neun Jahre wegen bewaffneten Raubes gesessen hatte. Er hatte ein steifes Bein. Alle waren auf Crack oder Kokain. Einer aus der barra hielt mir mit starrem Blick aus tellergroßen Pupillen eine Plastiktüte mit einigen Papierstreifen hin. LSD. Vermutlich war das der denkbar schlechteste Ort der Welt, um LSD zu nehmen, daher lehnte ich höflich ab. »Holen wir jetzt die Pistolen?« fragte er. Santino versetzte ihm einen Wischer über den Kopf, als würde er einen Welpen maßregeln.

      Hunderte weitere Fans strömten herbei, indessen Mikael in seinem gebrochenen Spanisch, das er in Argentinien aufgeschnappt hatte, Geschichten aus der schwedischen Ultra-Szene zum Besten gab. Bengalos wurden ausgeteilt, dazu tranken und rauchten die Mitglieder der barra und stimmten Gesänge an, in denen sie Nacional und die hinchas feierten und ihrem Hass auf Peñarol freien Lauf ließen. Ohne jegliche Vorwarnung enterte die Gruppe die Straße. Der Verkehr brach zusammen, als zunächst einige Dutzend Fans zur entrada Aufstellung nahmen und schließlich mehrere Hundert die Straße entlang marschierten. Die Fahnen und Banner wurden entrollt, und die lärmende Prozession blockierte die Schnellstraße, sodass sich hinter uns die Autos stauten. Der Asphalt verschwand im Nebel der Rauchbomben und Bengalos. Alle paar Sekunden erschütterte eine gewaltige Explosion die Gegend. Santino lief am Rand vor und zurück und behielt alles im Blick. Seine Aufgabe bestand offenkundig darin, dafür zu sorgen, dass die Banda del Parque so richtig auf Touren kam, ohne dabei allerdings komplett auszurasten.

      Die Prozession traf an ihrem Ziel ein, der Antel Arena, einem brandneuen, modernistischen, hell erleuchteten Würfel. Die Gruppe trennte sich in zwei Hälften: Die eine machte sich auf zum Eingang, um ihre Plätze am Spielfeldrand einzunehmen und genauso viel Lärm wie bei einem Fußballspiel zu veranstalten. Die übrigen rund 50 Menschen verzogen sich in den Park oberhalb der Straße. Mateo sagte: »Wir nennen uns ›Die Schwarze Liste‹.« Sie alle hatten Hausverbot. Die Erben von Prudencio Miguel Reyes mussten sich damit begnügen, die Antel Arena in der Ferne strahlen zu sehen.

      2

       Argentinien

      BUENOS AIRES

      In den frühen Morgenstunden rissen Mikael und ich uns von Nacionals Banda del Parque los und brachen nach Argentinien auf. An einem schönen Tag bei günstigem Wind und ruhigem Wellengang schafft die Fähre es in gut zwei Stunden von Montevideo über den Río de la Plata nach Buenos Aires. Im Skatepark war die Feier immer weitergegangen, doch als irgendwann die Leuchtfeuer, das Kokain und das Geld ausgingen, wurde die Stimmung düsterer, auch wenn Mikael das nicht bemerkte. Ich zerrte ihn fort, bevor es zur unvermeidlichen Razzia kam, und wenige Stunden darauf nahmen wir die erste Fähre. Mikael erzählte mir aus seinem Leben, in dem sich alles um Fußball drehte. Zu Beginn der 1990er-Jahre hatte er Schwedens allererste Ultra-Gruppierung gegründet und in Stockholm einen Laden mit Fahnen, Schals und Shirts eröffnet, die er zehn Jahre lang auf seinen Reisen zusammengetragen hatte. »Ein Freund von mir hatte einen Eishockeyladen«, erzählte er. »Dort habe ich einen Fiorentina/ Inter-Schal ins Schaufenster gelegt, weil ich die Roma mag, und er war noch am selben Tag weg.« Irgendwann hatte er auch Videos und DVDs von Fanschlägereien in England, Deutschland, den Niederlanden, Griechenland, Brasilien und Argentinien ins Programm genommen und schließlich den Laden ganz übernommen. Eine Zeitlang war das Geschäft gut gelaufen, doch nach einigen Jahren war die Miete erhöht worden, und das war das Aus gewesen. Er hatte die unerwartete freie Zeit genutzt und war nach Argentinien geflogen, für ihn das Herz und die Seele der globalen Fankultur und der beste Ort der Welt, um live ein Fußballspiel zu erleben. Doch im Grunde hatte er nur eine Mannschaft unbedingt sehen wollen.

      Die Boca Juniors, Argentiniens erfolgreichster Klub, wurden 1905 in dem Stadtteil La Boca von italienischen Einwanderern gegründet. Die meisten von ihnen kamen aus der nordwestitalienischen Hafenstadt Genua. Von den heutigen Argentiniern haben mehr als 60 Prozent in irgendeiner Form italienische Vorfahren. Wegen der starken italienischen Wurzeln des Vereins lautet Boca Juniors’ Spitzname Los Xeneizes, was im genuesischen Dialekt so viel wie »Bewohner Genuas« bedeutet. Beiderseits des Atlantiks entwickelten sich unabhängig voneinander zwei erstaunlich ähnliche Fankulturen: in Italien die Ultras und, zeitlich schon vorher, in Argentinien die barras bravas, was übersetzt so viel wie »wilde Horden« bedeutet. Als rauflustige, locker organisierte Fangruppen gab es sie bereits seit den 1920er-Jahren. Der Name von Bocas barra – La Doce (Die Zwölf) – geht auf das Jahr 1925 zurück, als Victoriano Caffarena, ein wohlhabender Bewohner des Viertels, Bocas erste Europatournee finanzierte. Auf der 22-tägigen Schiffsreise über den Atlantik machte er sich unentbehrlich. Er leitete das Training, massierte die Spieler und kümmerte sich um alles. Die Tournee wurde zum überwältigenden Erfolg, und am Ende der langen Reise war Caffarena im Grunde zu einem der Spieler geworden. Daher wurde ihm der Spitzname »der zwölfte Mann« verliehen, den er bis an sein Lebensende 1972 beibehielt23 – auch wenn zu jener Zeit der Name La Doce schon eine ganz andere Bedeutung angenommen hatte. Seit dem Ende der 1960er-Jahre und vollends im folgenden Jahrzehnt wurde die Organisation der barras zunehmend straffer und hierarchischer. Den Vereinen ging auf, dass sie auf dem Rasen von ihren leidenschaftlichen Unterstützern profitierten, also unterstützten sie die Fans mit Tickets, bei den Reisen und bei den Materialien der trapos (wörtlich übersetzt »Lumpen«, in Argentinien werden damit jedoch die Banner in den Fußballstadien bezeichnet). Laut dem Journalisten Gustavo Grabia, der sich in unzähligen Texten mit Argentiniens barras beschäftigt hat, stattete in den 1960er-Jahren der damalige Boca-Präsident Alberto J. Armando als Erster die barra La Doce mit ausreichenden Mitteln aus, damit sie vor dem Stadion und auf den Tribünen für eine den Gegner einschüchternde Atmosphäre sorgte. Mit Erfolg, glaubt man der Boca-Legende Antonio Rattín, berühmt geworden durch die Rote Karte, die er als argentinischer Kapitän bei der WM 1966 gegen England sah: »Ich weiß noch, wie unsere Gegner in der Bombonera ganz bleich wurden, wenn das ganze Stadion zu singen begann.«24

      Der auf die Tribünen niedergehende Geldregen hatte jedoch unvorhergesehene Folgen. Zwar gewann die barra schlagartig an Popularität, doch auch die Gewalt breitete sich aus und wurde mit jedem Jahrzehnt schlimmer. Mikael hatte seine Erfahrungen mit der modernen barra gemacht. Sein erstes Boca-Spiel war 2008 eine Auswärtspartie gegen den Club Atlético Huracán im Estadio Diego Armando Maradona, eigentlich die Heimat der Argentinos Juniors. Dorthin war die Partie wegen einer Stadionsperre nach Zuschauerausschreitungen verlegt worden. Allerdings schaffte die Maßnahme das zugrundeliegende Problem keineswegs aus der Welt. Kurz zuvor war der Streit der beiden La-Doce-Anführer eskaliert, ein Ereignis, das als »der Krieg« bekannt wurde. Bei dem Spiel kam es zu Randalen, und Mikael landete im Gefängnis. Irgendein unbedeutendes Vergehen hatte einen Polizeieinsatz mit Gummigeschossen und Tränengas ausgelöst. Mikael war an dem Abend einer von 184 Verhafteten und wurde zu einer Polizeiwache transportiert. Niemand dort konnte Englisch, und Mikael sprach zu der Zeit auch noch kein Spanisch. Doch alle waren freundlich, insbesondere die Polizisten. Trotz Verhaftung wurde Cola und Pizza für alle bestellt. Um ein Uhr nachts wurde Mikael schließlich nach sechs Stunden in der Zelle freigelassen. Doch am darauffolgenden Morgen tauchte sein markantes Gesicht in allen Zeitungen auf. Die Ausschnitte hat er aufbewahrt. Das Boulevardblatt Crónica brachte das ganzseitige Foto eines demolierten Polizeibusses, an dem ein noch jüngerer Mikael – ohne Bart und mit ein paar Pfund weniger – schüchtern vorbeischleicht. Das Tattoo an seinem Hals ist deutlich zu erkennen. Die Überschrift lautete: »Ein neues Kapitel des ›internen‹ Krieges.«

      Der Vorfall hatte für Mikael eine gute und eine schlechte Seite. Einerseits war er dadurch für die breite Öffentlichkeit zum Gesicht des zivilen Ungehorsams der argentinischen barras bravas geworden, insbesondere der barra bei den Boca Juniors, zum fleischgewordenen Symbol einer gewalttätigen, außer Kontrolle geratenen Fußballkultur. Andererseits kannte ihn nun jeder aus dem Umkreis von La Doce. »Die Leute sprachen mich auf der Straße an: ›Du bist doch dieser Schwede? Wir kennen


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