Unter Ultras. James Montague

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Unter Ultras - James  Montague


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WM 1994 erneut durch einen Dopingtest fiel, diesmal wegen Ephedrin.33 Caniggia genoss einen Ruf als Partylöwe und hatte bei der Roma eine 13-monatige Sperre wegen Kokainmissbrauchs abgesessen.34 Die beiden waren die ersten Neuverpflichtungen unter Macri, der mit seinem Image als zaghafter Playboy kämpfte. Mit den beiden wollte er die Boca-Anhänger für sich gewinnen und für rasche Erfolge sorgen. Doch laut Juan schlugen die beiden Spieler sich die Nächte um die Ohren und fielen anschließend bei vereinsinternen Drogentests durch. Also bat Boca die barra, die beiden zu zähmen. Juan sagte: »Wenn einer von uns Caniggia oder Maradona auf ihrer nächtlichen Tour traf, sollte er sie aufhalten und warnen. Man würde sie schlagen!«

      Die 1980er- und 1990er-Jahre waren eine Ära der Gewalt. Juan wurde zweimal angeschossen und viermal niedergestochen. Er holte ein Röntgenbild von der Wand. Es war gemacht worden, nachdem die Kugel eines River-Plate-Fans seine Hüfte zertrümmert hatte und ihm eine künstliche hatte eingesetzt werden müssen. Rafa und sein Bruder Fernando drängten den Großvater hinter den Kulissen angesichts der erwirtschafteten Profite zu einer Professionalisierung. Die beiden wurden immer mächtiger, und das Ende der Amtszeit des Großvaters rückte näher. Als 1994 beim superclásico zwei Anhänger von River Plate erschossen wurden, kam es zu unzähligen Gerichtsverfahren. Dem Großvater konnte nicht nachgewiesen werden, dass er vor Ort gewesen war, doch wegen einer Reihe anderer Anklagepunkte wie etwa Erpressung wurde er schließlich zu neun Jahren Haft verurteilt. Als Rafa den Großvater im Gefängnis besuchte, explodierte der Streit.

      »Der Großvater hielt Rafa vor, dass er nur an die Spitze wolle, also dorthin, wo er nun ist«, erklärte Juan. José Barrita starb 2001 an einer Lungenentzündung, 20 Tage nach seiner Entlassung. Rafas La Doce unterschied sich grundlegend von Barritas La Doce. Juan sagte: »Rafa ging es ums Geschäft. Er sah, dass sich mit den barras und der Politik und all dem Geld machen ließ. Macri, unser heutiger Präsident, war zu der Zeit noch Chef von Boca, also haben Rafa und ich ihn aufgesucht und ihn beraten, wie er seine Macht festigen könne und den Klub führen sollte.«

      Er erwähnte das so beiläufig, als schildere er ein Treffen in einem Golfklub. Zugleich offenbarte er damit das Geflecht aus Macht, Geld und Einfluss, das zwischen den barras, den Vereinen und der politischen Elite Argentiniens bestand. Mauricio Macri wurde 1995 zum Präsidenten der Boca Juniors gewählt, doch wie Juan unmissverständlich klarmachte, hatte er sich dafür zunächst La Doces Wohlwollen sichern müssen. Ihm zufolge waren die Zahlungen der Politiker die größte Einnahmequelle von La Doce. Im Gegenzug erwarteten die Politiker eine Menge von ihrem, in Juans Worten, »angeheuerten Personal«: Es sollte an Kundgebungen teilnehmen, Protestveranstaltungen auflösen, für bestellte Krawalle sorgen und sie schützen. Wenn der Preis stimmte, ließ sich alles arrangieren. Juan schilderte, wie im Jahr 2003 mehrere Mitglieder der Gruppierung eine Solidaritätsdemonstration für die Arbeiterinnen der Brukman-Fabrik zerschlagen hatten. Fünfzig Frauen hatten die Textilfabrik besetzt und dafür international viel Beifall erhalten.35 Die Aktion hatte nicht mehr als 20.000 Dollar und 20 Pizzen gekostet – und einen Bus, der groß genug war, um alle hin und wieder zurück zu bringen. Juan hielt es sogar für möglich, dass der Zeitpunkt der Aktion den Ausgang der Präsidentschaftswahl 2003 beeinflusst haben könnte. Das nächste Mal würde La Doce sehr viel mehr verlangen.

      Und es gab immer ein nächstes Mal. In Juans Augen war Macri nicht anders als jeder andere argentinische Politiker. Selbstverständlich stritt er ab, La Doce jemals unterstützt zu haben. Die Folge »Foreign Fields« der BBC-Reihe Hooligans von 2002 über die Krawallmacher des Fußballs in Großbritannien und anderswo widmete sich ausgiebig La Doce und den argentinischen barras im Vorfeld eines superclásico. Neben Rafa kam auch der noch jüngere, dennoch bereits ergrauende Macri – noch mit Menjou-Bärtchen – zu Wort und erklärte: »Über die Beziehung zwischen Vereinspräsidenten und Hooligans wurde immer schon viel spekuliert. Und es gab Klubpräsidenten, aber auch Politiker, die Hooligans für ihre Zwecke eingespannt haben. Doch es ist ein Teil unserer neuen Politik, jeglichen Kontakt zu diesen Menschen, deren Macht auf Gewalt gründet, abzubrechen.« Er bestritt, La Doce jemals direkt finanziell unterstützt zu haben oder ihnen wissentlich Eintrittskarten überlassen zu haben, die dann mit beträchtlichem Gewinn weiterverkauft wurden. »Vielleicht sollte ich noch einmal auf Englisch wiederholen, was ich schon unzählige Male gesagt habe: Wir geben den Hooligans keine Tickets.«

      In Argentinien nahm ihm das niemand ab. Macri ist der Sohn eines der reichsten Geschäftsleute des Landes. Er lebt in einer geschlossenen Wohnanlage und war laut Juan jämmerlich ungeeignet, Kontakt zu Boca Juniors Fanbasis aus der Arbeiterschaft aufzubauen. Juan sagte: »Als ich ihn das erste Mal traf, lebte er in einer Blase, in einem privaten Wohnviertel, in einer anderen Welt. Wir brachten ihm das kleine Einmaleins bei, etwa, dass er seine Bodyguards zuhause lassen sollte. Wir sagten ihm, er solle sich in der popular sehen lassen, nicht in den platea [Logen]. Wir halfen ihm bei seinem Wahlkampf. Er gewann … und wurde zum Hardliner.«

      Rafa stand im Zentrum von allem. »Rafa war schon immer verrückt danach, Geld zu verdienen. Er hatte ein gutes Auge für die zukünftigen Entwicklungen und sah, wo überall Geld zu machen war.« Wie viel Geld La Doce tatsächlich umsetzt, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Laut einem Bericht der Zeitung La Nación von 2013 betrugen allein die Einnahmen der trapitos, die die Parkplätze rund um La Bombonera kontrollieren, 300.000 Pesos pro Spieltag.36 (2013 entsprachen 300.000 Pesos noch knapp 60.000 Dollar, doch inzwischen, nach dem Kollaps der argentinischen Währung, nur noch gut 5.000 Dollar.) Der Journalist Gustavo Grabia schätzte, dass die Organisation jeden Monat rund 400.000 Dollar umsetzte.

      Juan geht allerdings von einer sehr viel höheren Summe aus. Die Einnahmen aus Tickets, Parkplätzen, Imbissständen und Merchandisingartikeln würden nur den geringsten Teil ausmachen. »Der [Rest] kommt von Politikern und Gewerkschaften, die ›Personal‹ für Demonstrationen oder den Kampf gegen die Polizei anheuern. Und nicht zuletzt von den Narcos.« Ihm zufolge streicht La Doce monatlich im Durchschnitt mindestens drei Millionen Dollar ein, bei gut laufenden Geschäften aber auch oft mehr. »Und das ist noch nichts. Normalerweise sind es immer mehr als drei Millionen im Monat. Nur bei dieser barra. Nur bei Boca. Manchmal sind es sechs, manchmal zehn. Sie können verlangen, was sie wollen. Und kriegen es.«

      Um die Jahrtausendwende florierte La Doce und hatte laut Rafa 2.000 Mitglieder. Er zählte die besten argentinischen Spieler zu seinen Freunden, auch Maradona, mit dem er immer wieder fotografiert wurde. Alles geschah in aller Öffentlichkeit. La Doce veranstaltete »Adrenalintouren« für ausländische Touristen – in Gruppen von 40 Teilnehmern –, die es sich einiges kosten ließen, auf der popular von La Bombonera inmitten der Gruppe ein Spiel zu verfolgen.37 La Doces Geschäftsmodell war derart erfolgreich, dass die Gruppe sogar eine Art »Ultra-Universität« für Fans aus aller Welt gründete. Für 5.000 Dollar lernten andere Gruppierungen, ein Business wie La Doces aufzuziehen: vom Ticket-Schwarzhandel über das Verfassen von Tribünengesängen bis zum Herstellen eigener Banner. Am Ende erhielt jeder Teilnehmer eine CD mit Gesängen aus La Bombonera, die anschließend vervielfältigt wurden und in ganz Europa kursierten. In einer Dokumentation des argentinischen Fernsehsenders Canal 9 erklärte Rafa 2006: »La Doce ist wie Harvard, eine Universität, auf der man lernt, wie man eine barra wird.«38 Doch schließlich kamen die Gesetzeshüter auch Rafa bei. 2007 wanderte er wegen der mutmaßlichen Beteiligung an Krawallen ins Gefängnis. Mauro übernahm Teile des Geschäfts, und bei einem Besuch bei Rafa im Gefängnis brach zwischen den beiden offener Streit aus.

      Als Rafa 2009 entlassen wurde, hatte der Konflikt die Anhängerschaft gespalten. Bei Spielen verteilten sich die beiden Lager häufig auf gegenüberliegende Seiten der Tribüne und überzogen sich gegenseitig mit Schmährufen. Ein Stellvertreterkrieg brach aus, in dem die Unterstützer der beiden für ihren jeweiligen Anführer kämpften und starben. Juan zufolge wurde sogar Mauros Mutter zum Ziel eines Angriffs. Neun Monate darauf wurde Mauros Truppe auf dem Weg nach Rosario in einen Hinterhalt gelockt und ihm selbst in den Magen geschossen. Er überlebte, und so war es letztlich einem Pekinesen vorbehalten, Rafa wieder zum unumstrittenen Boss von La Doce zu machen. Das Hündchen gehörte Ernesto Cirino, und der ließ es vor die Tür seines Nachbarn pinkeln. Leider war dieser der Schwager von Mauros Stellvertreter Maximiliano Mazzaro, den er sogleich anrief. Cirino wurde totgeprügelt,


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