Maximen und Reflexionen. Johann Wolfgang Goethe

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Maximen und Reflexionen - Johann Wolfgang Goethe


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sich ausspricht.

      676. Verharren wir aber in dem Bestreben, das Falsche, Ungehörige, Unzulängliche, was sich in uns und andern entwickeln oder einschleichen könnte, durch Klarheit und Redlichkeit auf das möglichste zu beseitigen!

      677. Mit den Jahren steigern sich die Prüfungen.

      678. Wo ich aufhören muß, sittlich zu sein, habe ich keine Gewalt mehr.

      679. Censur und Preßfreiheit werden immerfort mit einander kämpfen. Censur fordert und übt der Mächtige, Preßfreiheit verlangt der Mindere. Jener will weder in seinen Planen noch seiner Thätigkeit durch vorlautes widersprechendes Wesen gehindert, sondern gehorcht sein; diese wollen ihre Gründe aussprechen, den Ungehorsam zu legitimiren. Dieses wird man überall geltend finden.

      680. Doch muß man auch hier bemerken, daß der Schwächere, der leidende Theil gleichfalls auf seine Weise die Preßfreiheit zu unterdrücken sucht, und zwar in dem Falle, wenn er conspirirt und nicht verrathen sein will.

      681. Man wird nie betrogen, man betrügt sich selbst.

      682. Wir brauchen in unserer Sprache ein Wort, das, wie [114]Kindheit sich zu Kind verhält, so das Verhältniß Volkheit zum Volke ausdrückt. Der Erzieher muß die Kindheit hören, nicht das Kind; der Gesetzgeber und Regent die Volkheit, nicht das Volk. Jene spricht immer dasselbe aus, ist vernünftig, beständig, rein und wahr; dieses weiß niemals für lauter Wollen, was es will. Und in diesem Sinne soll und kann das Gesetz der allgemein ausgesprochene Wille der Volkheit sein, ein Wille, den die Menge niemals ausspricht, den aber der Verständige vernimmt, und den der Vernünftige zu befriedigen weiß und der Gute gern befriedigt.

      683. Welches Recht wir zum Regiment haben, darnach fragen wir nicht: wir regieren. Ob das Volk ein Recht habe, uns abzusetzen, darum bekümmern wir uns nicht: wir hüten uns nur, daß es nicht in Versuchung komme, es zu thun.

      684. Wenn man den Tod abschaffen könnte, dagegen hätten wir nichts; die Todesstrafen abzuschaffen wird schwer halten. Geschieht es, so rufen wir sie gelegentlich wieder zurück.

      685. Wenn sich die Societät des Rechtes begibt, die Todesstrafe zu verfügen, so tritt die Selbsthülfe unmittelbar wieder hervor: die Blutrache klopft an die Thüre.

      686. Alle Gesetze sind von Alten und Männern gemacht. Junge und Weiber wollen die Ausnahme, Alte die Regel.

      687. Der Verständige regiert nicht, aber der Verstand; nicht der Vernünftige, sondern die Vernunft.

      688. Wen jemand lobt, dem stellt er sich gleich.

      689. Es ist nicht genug zu wissen, man muß auch anwenden; es ist nicht genug zu wollen, man muß auch thun.

      690. Es gibt keine patriotische Kunst und keine patriotische Wissenschaft. Beide gehören wie alles hohe Gute der [115]ganzen Welt an und können nur durch allgemeine freie Wechselwirkung aller zugleich Lebenden in steter Rücksicht auf das, was uns vom Vergangenen übrig und bekannt ist, gefördert werden.

      691. Wissenschaften entfernen sich im Ganzen immer vom Leben und kehren nur durch einen Umweg wieder dahin zurück.

      692. Denn sie sind eigentlich Compendien des Lebens: sie bringen die äußern und innern Erfahrungen in’s Allgemeine, in einen Zusammenhang.

      693. Das Interesse an ihnen wird im Grunde nur in einer besonderen Welt, in der wissenschaftlichen erregt; denn daß man auch die übrige Welt dazu beruft und ihr davon Notiz gibt, wie es in der neuern Zeit geschieht, ist ein Mißbrauch und bringt mehr Schaden als Nutzen.

      694. Nur durch eine erhöhte Praxis sollten die Wissenschaften auf die äußere Welt wirken; denn eigentlich sind sie alle esoterisch und können nur durch Verbessern irgend eines Thuns exoterisch werden. Alle übrige Theilnahme führt zu nichts.

      695. Die Wissenschaften, auch in ihrem innern Kreise betrachtet, werden mit augenblicklichem jedesmaligem Interesse behandelt. Ein starker Anstoß, besonders von etwas Neuem und Unerhörtem oder wenigstens mächtig Gefördertem, erregt eine allgemeine Theilnahme, die Jahrelang dauern kann und die besonders in den letzten Zeiten sehr fruchtbar geworden ist.

      696. Ein bedeutendes Factum, ein geniales Aperçu beschäftigt eine sehr große Anzahl Menschen, erst nur um es zu kennen, dann um es zu erkennen, dann es zu bearbeiten und weiterzuführen.

      [116]697. Die Menge fragt bei einer jeden neuen bedeutenden Erscheinung, was sie nutze, und sie hat nicht Unrecht; denn sie kann bloß durch den Nutzen den Werth einer Sache gewahr werden.

      698. Die wahren Weisen fragen, wie sich die Sache verhalte in sich selbst und zu andern Dingen, unbekümmert um den Nutzen, das heißt, um die Anwendung auf das Bekannte und zum Leben Nothwendige, welche ganz andere Geister, scharfsinnige, lebenslustige, technisch geübte und gewandte, schon finden werden.

      699. Die Afterweisen suchen von jeder neuen Entdeckung nur so geschwind als möglich für sich einigen Vortheil zu ziehen, indem sie einen eitlen Ruhm bald in Fortpflanzung, bald in Vermehrung, bald in Verbesserung, geschwinder Besitznahme, vielleicht gar durch Präoccupation, zu erwerben suchen und durch solche Unreifheiten die wahre Wissenschaft unsicher machen und verwirren, ja ihre schönste Folge, die praktische Blüthe derselben, offenbar verkümmern.

      700. Das schädlichste Vorurtheil ist, daß irgend eine Art Naturuntersuchung mit dem Bann belegt werden könne.

      701. Jeder Forscher muß sich durchaus ansehen als einer, der zu einer Jury berufen ist. Er hat nur darauf zu achten, in wie fern der Vortrag vollständig sei und durch klare Belege auseinandergesetzt. Er faßt hiernach seine Überzeugung zusammen und gibt seine Stimme, es sei nun, daß seine Meinung mit der des Referenten übereintreffe, oder nicht.

      702. Dabei bleibt er eben so beruhigt, wenn ihm die Majorität beistimmt, als wenn er sich in der Minorität befindet; denn er hat das Seinige gethan, er hat seine [117]Überzeugung ausgesprochen, er ist nicht Herr über die Geister noch über die Gemüther.

      703. In der wissenschaftlichen Welt haben aber diese Gesinnungen niemals gelten wollen; durchaus ist es auf Herrschen und Beherrschen angesehen, und weil sehr wenige Menschen eigentlich selbstständig sind, so zieht die Menge den Einzelnen nach sich.

      704. Die Geschichte der Philosophie, der Wissenschaften, der Religion, alles zeigt, daß die Meinungen massenweis sich verbreiten, immer aber diejenige den Vorrang gewinnt, welche faßlicher, das heißt, dem menschlichen Geiste in seinem gemeinen Zustande gemäß und bequem ist. Ja derjenige, der sich in höherem Sinne ausgebildet, kann immer voraussetzen, daß er die Majorität gegen sich habe.

      705. Wäre die Natur in ihren leblosen Anfängen nicht so gründlich stereometrisch, wie wollte sie zuletzt zum unberechenbaren und unermeßlichen Leben gelangen?

      706. Der Mensch an sich selbst, in so fern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann, und das ist eben das größte Unheil der neuern Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja, was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will.

      707. Eben so ist es mit dem Berechnen. Es ist vieles wahr, was sich nicht berechnen läßt, so wie sehr vieles, was sich nicht bis zum entschiedenen Experiment bringen läßt.

      708. Dafür steht ja aber der Mensch so hoch, daß sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt. Was ist denn eine [118]Saite und alle mechanische Theilung derselben gegen das Ohr des Musikers? Ja man kann sagen: was sind die elementaren Erscheinungen der Natur selbst gegen den Menschen, der sie alle erst bändigen und modificiren muß, um sie sich einigermaßen assimiliren zu können?

      709. Es ist von einem Experiment zu viel gefordert, wenn es alles leisten soll. Konnte man doch die Elektricität erst nur durch Reiben darstellen, deren höchste Erscheinung jetzt durch bloße Berührung hervorgebracht wird.

      710. Wie man der französischen Sprache niemals den Vorzug streitig machen wird, als ausgebildete Hof- und Weltsprache, sich immer mehr aus- und fortbildend, zu wirken, so wird es niemand einfallen, das Verdienst der Mathematiker gering zu schätzen, welches sie,


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