Maximen und Reflexionen. Johann Wolfgang Goethe

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Maximen und Reflexionen - Johann Wolfgang Goethe


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und für nützlich, was ihnen gefällt.

      345. Alle Menschen, wie sie zur Freiheit gelangen, machen ihre Fehler gelten: die Starken das Übertreiben, die Schwachen das Vernachlässigen.

      346. Der Kampf des Alten, Bestehenden, Beharrenden mit Entwicklung, Aus- und Umbildung ist immer derselbe. Aus aller Ordnung entsteht zuletzt Pedanterie; um diese los zu werden, zerstört man jene, und es geht eine Zeit hin, bis man gewahr wird, daß man wieder Ordnung machen müsse. Classicismus und Romanticismus, Innungszwang und Gewerbsfreiheit, Festhalten und Zersplittern des Grundbodens: es ist immer derselbe Conflict, der zuletzt wieder einen neuen erzeugt. Der größte Verstand des Regierenden wäre daher, diesen Kampf so zu mäßigen, daß er ohne Untergang der einen Seite sich in’s Gleiche stellte; dieß ist aber den Menschen nicht gegeben, und Gott scheint es auch nicht zu wollen.

      347. Welche Erziehungsart ist für die beste zu halten? Antwort: die der Hydrioten. Als Insulaner und Seefahrer nehmen sie ihre Knaben gleich mit zu Schiffe und lassen sie im Dienste herankrabeln. Wie sie etwas leisten, haben sie Theil am Gewinn; und so kümmern sie sich schon um [53]Handel, Tausch und Beute, und es bilden sich die tüchtigsten Küsten- und Seefahrer, die klügsten Handelsleute und verwegensten Piraten. Aus einer solchen Masse können denn freilich Helden hervortreten, die den verderblichen Brander mit eigener Hand an das Admiralschiff der feindlichen Flotte festklammern.

      348. Alles Vortreffliche beschränkt uns für einen Augenblick, indem wir uns demselben nicht gewachsen fühlen; nur in so fern wir es nachher in unsere Cultur aufnehmen, es unsern Geist- und Gemüthskräften aneignen, wird es uns lieb und werth.

      349. Kein Wunder, daß wir uns alle mehr oder weniger im Mittelmäßigen gefallen, weil es uns in Ruhe läßt; es gibt das behagliche Gefühl, als wenn man mit seines Gleichen umginge.

      350. Das Gemeine muß man nicht rügen; denn das bleibt sich ewig gleich.

      351. Wir können einem Widerspruch in uns selbst nicht entgehen; wir müssen ihn auszugleichen suchen. Wenn uns andere widersprechen, das geht uns nichts an, das ist ihre Sache.

      352. Es ist soviel gleichzeitig Tüchtiges und Treffliches auf der Welt, aber es berührt sich nicht.

      353. Welche Regierung die beste sei? Diejenige, die uns lehrt, uns selbst zu regieren.

      354. Dociren kannst du Tüchtiger freilich nicht; es ist, wie das Predigen, durch unsern Zustand geboten, wahrhaft nützlich, wenn Conversation und Katechisation sich anschließen, wie es auch ursprünglich gehalten wurde. Lehren aber kannst du und wirst du, das ist: wenn That dem Urtheil, Urtheil der That zum Leben hilft.

      [54]355. Gegen die drei Einheiten ist nichts zu sagen, wenn das Sujet sehr einfach ist; gelegentlich aber werden dreimal drei Einheiten, glücklich verschlungen, eine sehr angenehme Wirkung thun.

      356. Wenn die Männer sich mit den Weibern schleppen, so werden sie so gleichsam abgesponnen wie ein Wocken.

      357. Es kann wohl sein, daß der Mensch durch öffentliches und häusliches Geschick zu Zeiten gräßlich gedroschen wird; allein das rücksichtslose Schicksal, wenn es die reichen Garben trifft, zerknittert nur das Stroh, die Körner aber spüren nichts davon und springen lustig auf der Tenne hin und wider, unbekümmert, ob sie zur Mühle, ob sie zum Saatfeld wandern.

      358. Arden von Feversham, Shakespeare’s Jugendarbeit. Es ist der ganze rein-treue Ernst des Auffassens und Wiedergebens, ohne Spur von Rücksicht auf den Effect, vollkommen dramatisch, ganz untheatralisch.

      359. Shakespeare’s trefflichsten Theaterstücken mangelt es hie und da an Facilität: sie sind etwas mehr, als sie sein sollten, und eben deßhalb deuten sie auf den großen Dichter.

      360. Die größte Wahrscheinlichkeit der Erfüllung läßt noch einen Zweifel zu; daher ist das Gehoffte, wenn es in die Wirklichkeit eintritt, jederzeit überraschend.

      361. Allen andern Künsten muß man etwas vorgeben, der griechischen allein bleibt man ewig Schuldner.

      362. »Vis superba formae.« Ein schönes Wort von Johannes Secundus.

      363. Die Sentimentalität der Engländer ist humoristisch und zart, der Franzosen populär und weinerlich, der Deutschen naiv und realistisch.

      [55]364. Das Absurde, mit Geschmack dargestellt, erregt Widerwillen und Bewunderung.

      365. Von der besten Gesellschaft sagte man: ihr Gespräch ist unterrichtend, ihr Schweigen bildend.

      366. Von einem bedeutenden frauenzimmerlichen Gedichte sagte jemand, es habe mehr Energie als Enthusiasmus, mehr Charakter als Gehalt, mehr Rhetorik als Poesie und im Ganzen etwas Männliches.

      367. Es ist nichts schrecklicher als eine thätige Unwissenheit.

      368. Schönheit und Geist muss man entfernen, wenn man nicht ihr Knecht werden will.

      369. Der Mysticismus ist die Scholastik des Herzens, die Dialektik des Gefühls.

      370. Man schont die Alten, wie man die Kinder schont.

      371. Der Alte verliert eins der größten Menschenrechte: er wird nicht mehr von seines Gleichen beurtheilt.

      372. Es ist mir in den Wissenschaften gegangen wie einem, der früh aufsteht, in der Dämmrung die Morgenröthe, sodann aber die Sonne ungeduldig erwartet und doch, wie sie hervortritt, geblendet wird.

      373. Man streitet viel und wird viel streiten über Nutzen und Schaden der Bibelverbreitung. Mir ist klar: schaden wird sie wie bisher, dogmatisch und phantastisch gebraucht; nutzen wie bisher, didaktisch und gefühlvoll aufgenommen.

      374. Große, von Ewigkeit her oder in der Zeit entwickelte, ursprüngliche Kräfte wirken unaufhaltsam, ob nutzend oder schadend, das ist zufällig.

      375. Die Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgethan. Alles, was wir gewahr [56]werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe sprechen wir aus, und in so fern ist die Idee selbst ein Begriff.

      376. Im Ästhetischen thut man nicht wohl zu sagen: die Idee des Schönen; dadurch vereinzelt man das Schöne, das doch einzeln nicht gedacht werden kann. Vom Schönen kann man einen Begriff haben, und dieser Begriff kann überliefert werden.

      377. Die Manifestation der Idee als des Schönen ist ebenso flüchtig als die Manifestation des Erhabenen, des Geistreichen, des Lustigen, des Lächerlichen. Dieß ist die Ursache, warum so schwer darüber zu reden ist.

      378. Echt ästhetisch-didaktisch könnte man sein, wenn man mit seinen Schülern an allem Empfindungswerthen vorüberginge oder es ihnen zubrächte im Moment, wo es culminirt und sie höchst empfänglich sind. Da aber diese Forderung nicht zu erfüllen ist, so müßte der höchste Stolz des Kathederlehrers sein, die Begriffe so vieler Manifestationen in seinen Schülern dergestalt zum Leben zu bringen, daß sie für alles Gute, Schöne, Große, Wahre empfänglich würden, um es mit Freuden aufzufassen, wo es ihnen zur rechten Stunde begegnete. Ohne daß sie es merkten und wüßten, wäre somit die Grundidee, woraus alles hervorgeht, in ihnen lebendig geworden.

      379. Wie man gebildete Menschen sieht, so findet man, daß sie nur für Eine Manifestation des Urwesens oder doch nur für wenige empfänglich sind, und das ist schon genug. Das Talent entwickelt im Praktischen alles und braucht von den theoretischen Einzelnheiten nicht Notiz zu nehmen: der Musicus kann ohne seinen Schaden den Bildhauer ignoriren und umgekehrt.

      [57]380. Man soll sich alles praktisch denken und deßhalb auch dahin trachten, daß verwandte Manifestationen der großen Idee, in so fern sie durch Menschen zur Erscheinung kommen sollen, auf eine gehörige Weise in einander wirken. Malerei, Plastik und Mimik stehen in einem unzertrennlichen Bezug; doch muß der Künstler, zu dem Einen berufen, sich hüten, von dem Andern beschädigt zu werden: der Bildhauer kann sich vom Maler, der Maler vom Mimiker verführen lassen, und alle drei können einander so verwirren, daß keiner derselben auf den Füßen stehen bleibt.

      381. Die mimische Tanzkunst würde eigentlich alle bildenden Künste zu Grunde richten, und mit Recht. Glücklicherweise ist der Sinnenreiz, den sie bewirkt, so flüchtig,


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