Maximen und Reflexionen. Johann Wolfgang Goethe

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Maximen und Reflexionen - Johann Wolfgang Goethe


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      301. Sich subordiniren ist überhaupt keine Kunst; aber in absteigender Linie, in der Descendenz etwas über sich erkennen, was unter einem steht!

      302. Unser ganzes Kunststück besteht darin, daß wir unsere Existenz aufgeben, um zu existiren.

      303. Alles, was wir treiben und thun, ist ein Abmüden; wohl dem, der nicht müde wird!

      304. »Hoffnung ist die zweite Seele der Unglücklichen.«

      305. »L’amour est un vrai recommenceur.«

      306. Es gibt im Menschen auch ein Dienenwollendes; daher die chevalerie der Franzosen eine servage.

      307. »Im Theater wird durch die Belustigung des Gesichts und Gehörs die Reflexion sehr eingeschränkt.«

      308. Erfahrung kann sich in’s Unendliche erweitern, Theorie nicht in eben dem Sinne reinigen und vollkommener werden. Jener steht das Universum nach allen Richtungen offen, diese bleibt innerhalb der Gränze der menschlichen Fähigkeiten eingeschlossen. Deßhalb müssen alle Vorstellungsarten wiederkehren, und der wunderliche Fall tritt ein, daß bei erweiterter Erfahrung eine bornirte Theorie wieder Gunst erwerben kann.

      309. Es ist immer dieselbe Welt, die der Betrachtung offen steht, die immerfort angeschaut oder geahnet wird, und es sind immer dieselben Menschen, die im Wahren oder Falschen leben, im letzten bequemer als im ersten.

      310. Die Wahrheit widerspricht unserer Natur, der Irrthum nicht, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: [48]die Wahrheit fordert, daß wir uns für beschränkt erkennen sollen, der Irrthum schmeichelt uns, wir seien auf ein- oder die andere Weise unbegränzt.

      311. Es ist nun schon bald zwanzig Jahre, daß die Deutschen sämmtlich transscendiren. Wenn sie es einmal gewahr werden, müssen sie sich wunderlich vorkommen.

      312. Daß Menschen dasjenige noch zu können glauben, was sie gekonnt haben, ist natürlich genug; daß andere zu vermögen glauben, was sie nie vermochten, ist wohl seltsam, aber nicht selten.

      313. Zu allen Zeiten sind es nur die Individuen, welche für die Wissenschaft gewirkt, nicht das Zeitalter. Das Zeitalter war’s, das den Sokrates durch Gift hinrichtete, das Zeitalter, das Hussen verbrannte: die Zeitalter sind sich immer gleich geblieben.

      314. Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeinere repräsentirt, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen.

      315. Alles Ideelle, sobald es vom Realen gefordert wird, zehrt endlich dieses und sich selbst auf. So der Credit (Papiergeld) das Silber und sich selbst.

      316. Die Meisterschaft gilt oft für Egoismus.

      317. Sobald die guten Werke und das Verdienstliche derselben aufhören, sogleich tritt die Sentimentalität dafür ein, bei den Protestanten.

      318. Es ist eben, als ob man es selbst vermöchte, wenn man sich guten Raths erholen kann.

      319. Die Wahlsprüche deuten auf das, was man nicht hat, wornach man strebt. Man stellt sich solches wie billig immer vor Augen.

      [49]320. »Wer einen Stein nicht allein erheben mag, der soll ihn auch selbander liegen lassen.«

      321. Der Despotismus fördert die Autokratie eines jeden, indem er von oben bis unten die Verantwortlichkeit dem Individuum zumuthet und so den höchsten Grad von Thätigkeit hervorbringt.

      322. Alles Spinozistische in der poetischen Production wird in der Reflexion Machiavellismus.

      323. Man muß seine Irrthümer theuer bezahlen, wenn man sie los werden will, und dann hat man noch von Glück zu sagen.

      324. Wenn ein deutscher Literator seine Nation vormals beherrschen wollte, so mußte er ihr nur glauben machen, es sei einer da, der sie beherrschen wolle. Da waren sie gleich so verschüchtert, daß sie sich, von wem es auch wäre, gern beherrschen ließen.

      325. »Nihil rerum mortalium tam instabile ac fluxum est quam potentia non sua vi nixa.«

      326. »Es gibt auch Afterkünstler: Dilettanten und Speculanten; jene treiben die Kunst um des Vergnügens, diese um des Nutzens willen.«

      327. Geselligkeit lag in meiner Natur; deßwegen ich bei vielfachem Unternehmen mir Mitarbeiter gewann und mich ihnen zum Mitarbeiter bildete und so das Glück erreichte, mich in ihnen und sie in mir fortleben zu sehn.

      328. Mein ganzes inneres Wirken erwies sich als eine lebendige Heuristik, welche, eine unbekannte geahnete Regel anerkennend, solche in der Außenwelt zu finden und in die Außenwelt einzuführen trachtet.

      329. Es gibt eine enthusiastische Reflexion, die von dem [50]größten Werth ist, wenn man sich von ihr nur nicht hinreißen läßt.

      330. Nur in der Schule selbst ist die eigentliche Vorschule.

      331. Der Irrthum verhält sich gegen das Wahre wie der Schlaf gegen das Wachen. Ich habe bemerkt, daß man aus dem Irren sich wie erquickt wieder zu dem Wahren hinwende.

      332. Ein jeder leidet, der nicht für sich selbst handelt. Man handelt für andere, um mit ihnen zu genießen.

      333. Das Faßliche gehört der Sinnlichkeit und dem Verstande. Hieran schließt sich das Gehörige, welches verwandt ist mit dem Schicklichen. Das Gehörige jedoch ist ein Verhältniß zu einer besondern Zeit und entschiedenen Umständen.

      334. Eigentlich lernen wir nur von Büchern, die wir nicht beurtheilen können. Der Autor eines Buchs, das wir beurtheilen könnten, müßte von uns lernen.

      335. Deßhalb ist die Bibel ein ewig wirksames Buch, weil, so lange die Welt steht, niemand auftreten und sagen wird: ich begreife es im Ganzen und verstehe es im Einzelnen. Wir aber sagen bescheiden: im Ganzen ist es ehrwürdig und im Einzelnen anwendbar.

      336. Alle Mystik ist ein Transscendiren und ein Ablösen von irgend einem Gegenstande, den man hinter sich zu lassen glaubt. Je größer und bedeutender dasjenige war, dem man absagt, desto reicher sind die Productionen des Mystikers.

      337. Die orientalische mystische Poesie hat deßwegen den großen Vorzug, daß der Reichthum der Welt, den der Adepte wegweis’t, ihm noch jederzeit zu Gebote steht. Er [51]befindet sich also noch immer mitten in der Fülle, die er verläßt, und schwelgt in dem, was er gern los sein möchte.

      338. Christliche Mystiker sollte es gar nicht geben, da die Religion selbst Mysterien darbietet. Auch gehen sie immer gleich in’s Abstruse, in den Abgrund des Subjects.

      339. Ein geistreicher Mann sagte, die neuere Mystik sei die Dialektik des Herzens und deßwegen mitunter so erstaunenswerth und verführerisch, weil sie Dinge zur Sprache bringe, zu denen der Mensch auf dem gewöhnlichen Verstands-, Vernunfts- und Religionswege nicht gelangen würde. Wer sich Muth und Kraft glaube, sie zu studiren, ohne sich betäuben zu lassen, der möge sich in diese Höhle des Trophonios versenken, jedoch auf seine eigene Gefahr.

      340. Die Deutschen sollten in einem Zeitraume von dreißig Jahren das Wort Gemüth nicht aussprechen, dann würde nach und nach Gemüth sich wieder erzeugen; jetzt heißt es nur Nachsicht mit Schwächen, eignen und fremden.

      341. Die Vorurtheile der Menschen beruhen auf dem jedesmaligen Charakter der Menschen, daher sind sie, mit dem Zustand innig vereinigt, ganz unüberwindlich; weder Evidenz noch Verstand noch Vernunft haben den mindesten Einfluß darauf.

      342. Charaktere machen oft die Schwäche zum Gesetz. Weltkenner haben gesagt: »Die Klugheit ist unüberwindlich, hinter welcher sich die Furcht versteckt.« Schwache Menschen haben oft revolutionäre Gesinnungen; sie meinen, es wäre ihnen wohl, wenn sie nicht regiert würden, und fühlen nicht, daß sie weder sich noch andere regieren können.

      343. In eben dem Falle sind die neuern deutschen [52]Künstler: den Zweig der Kunst, den sie nicht besitzen, erklären sie für schädlich und daher wegzuhauen.

      344. Der Menschenverstand wird mit dem gesunden Menschen rein geboren, entwickelt sich aus sich selbst und offenbart sich durch ein entschiedenes Gewahrwerden und Anerkennen des Nothwendigen


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