Die Ungerächten. Volker Dützer
Читать онлайн книгу.anderen grölten vor Lachen.
Ich werd’s euch schon noch zeigen, dachte Pawel. Ihr werdet eure Überheblichkeit bereuen. Und ich werde genauso wenig Pardon gewähren wie Theissen oder Kaindl.
Er verließ den Schrottplatz wie ein Hund, den man vom Hof gejagt hatte, und schwor sich, dass er wiederkommen würde. Noch in dieser Nacht.
5
Hannah blickte auf das Rollfeld des Frankfurter Flughafens hinab und wärmte ihre Hände an einer Tasse mit heißer Schokolade. Sie trank einen Schluck und genoss die klebrige Süße in ihrem Mund.
Es gab Zeiten in meinem Leben, da hätte ich für ein Stück Schokolade einen Mord begehen können, überlegte sie. Wie es dem Betreiber des Flughafencafés wohl gelungen war, seine Vorräte aufzufüllen? Es kam einem kleinen Wunder gleich, dass er in diesen Zeiten der Not eine solche Köstlichkeit anbieten konnte. Offenbar unterhielt er beste Kontakte zu den Amerikanern.
Der Winter schien in diesem Jahr ewig zu dauern und verlor nur zögernd seine eisige Kraft, selbst im milden Klima des Maintals war es jetzt, Anfang April, ungewöhnlich kalt. Ein stürmischer Wind trieb schiefergraue Wolken über den Himmel, aus denen vereinzelt winzige Schneeflocken rieselten.
Seit drei Wochen streifte Hannah auf der Suche nach Arbeit durch die Stadt. Sie war entschlossen gewesen, Scott zu beweisen, dass sie sich als Pilotin durchsetzen konnte. Inzwischen musste sie sich eingestehen, dass ihr Vorhaben zu scheitern drohte. Keine der ausländischen Fluggesellschaften und Frachtfluglinien stellte eine Frau ein. Dieser Beruf war eine Männerdomäne, in der sie keine Chance hatte. Die Verantwortlichen, zu denen sie sich hartnäckig durchfragte, warfen sie entweder kopfschüttelnd hinaus oder konnten sich ein Grinsen kaum verkneifen. Wahrscheinlich hielten die meisten sie für größenwahnsinnig. Hannahs Hinweis, dass in den angloamerikanischen Ländern Pilotinnen durchaus zum Alltag gehörten, quittierten die Dummköpfe mit einem spöttischen Lachen.
Ihr Streit mit Scott lag gut vier Wochen zurück. Seitdem hatte er sich nicht wieder bei ihr gemeldet. Er hätte sie mit Empfehlungsschreiben unterstützen können, aber sie war zu starrköpfig, um die Reumütige zu spielen und ihn um Hilfe zu bitten. Vielleicht war er aber auch schon in die USA zurückgekehrt, ohne sich zu verabschieden.
Selbst schuld, dachte sie, schließlich hast du ihm in aller Deutlichkeit einen Korb gegeben. Umso besser, wenn er unerreichbar für sie war, so würde sie ihn schneller vergessen. Jedenfalls steckte sie nicht den Kopf in den Sand und sah tatenlos zu, wie die Nazis überall wieder an Einfluss gewannen.
Gedankenverloren spielte sie mit der erkaltenden Tasse. Sie war nie zuvor völlig allein gewesen, selbst in ihren dunkelsten Stunden in den Anstalten in Herborn und Hadamar nicht. Sie hatte Leid und Verlust erfahren und Verbrechen erlebt, die sie niemals würde vergessen können. Doch stets waren Freunde an ihrer Seite gewesen: Ruth und Thea, der stumme Joschi, Lissy und natürlich Scott.
Hans Simonek kam ihr in den Sinn und die Nacht, in der sie ihn davor bewahrt hatte, in den Tod zu springen. Er blieb ihre erste und größte Liebe, aber eine gemeinsame Zukunft war ihnen nicht vergönnt gewesen.
»Wenn es keinen Ausweg gibt, werde ich mit dir gehen«, hatte sie gesagt. »Aber noch gebe ich nicht auf. Das Leben wartet auf uns dort draußen. Bald ist der Krieg vorbei und die Nazis sind am Ende. Etwas Neues wird beginnen, an dem ich teilhaben will.«
»Glaubst du das wirklich?«, hatte Hans gefragt.
»Ja. Ganz fest«, hatte sie geantwortet.
»Dann will ich noch warten. Wirst du mich wärmen? Es ist so kalt.«
Das hatte sie getan. Einander in den Armen haltend, in der ständigen Angst vor Entdeckung, hatten sie die Nacht zusammen verbracht. Nun war Hans tot, erschossen von SS-Oberscharführer Rolf Heyrich, der irgendwo in Deutschland unter falschem Namen lebte und seine Freiheit genoss. Sicher, es gab Hinweise darauf, dass er tot war. Doch solange sie seine Leiche nicht gesehen hatte oder einen anderen Beweis für seinen Tod in den Händen hielt, ging sie davon aus, dass er lebte. Heyrich hatte schon einmal alle zum Narren gehalten.
Hannah hatte darüber nachgedacht, sich bei einer Fluggesellschaft in Hamburg oder Berlin zu bewerben, doch nach den Abfuhren, die sie in Frankfurt hatte einstecken müssen, verließ sie der Mut. Am Morgen hatte sie sich bei der neugegründeten VAG – der Verkehrsaktiengesellschaft Rhein-Main – vorgestellt. Immerhin war sie dort nicht rundweg abgelehnt worden. Man hatte sie allerdings auf das kommende Jahr vertröstet, in dem sich vieles ändern sollte.
In gedrückter Stimmung bezahlte sie die Schokolade und schlenderte an den Fenstern der Aussichtsplattform entlang. Auf den Landebahnen standen Passagierflugzeuge ausländischer Fluggesellschaften, Frachtflugzeuge und Militärmaschinen der Amerikaner. Hannah drückte sich die Nase an der Scheibe platt und wünschte sich nichts mehr, als eine dieser Maschinen steuern zu dürfen. Verhungern würde sie nicht, in der Stadt gab es Arbeit genug – als Kellnerin oder Küchenhilfe. Aber sie wollte nicht nur Geld verdienen, sie wollte mehr. War sie deshalb eine eigensinnige, verwöhnte Göre?
Seufzend wandte sie den Blick von den Rollfeldern ab. Nein, das war sie nicht. Sie musste ihren eigenen Weg gehen. Das hatte sie immer getan, auch wenn es ihren Mitmenschen nicht passte. In der Schule hatte man sie die verrückte Hannah genannt, und den Spitznamen verdankte sie nicht nur den epileptischen Anfällen, die sie in ihrer Kindheit und Jugend gequält hatten. Stets saß sie zwischen allen Stühlen und es machte ihr nichts aus.
»Wenn Sie auf die Ankunft eines Passagiers warten, sollten Sie in die Wartehalle gehen, sonst werden Sie ihn verpassen.«
Hannah drehte sich um. Im Café saßen nur wenige Gäste, ein Kellner lehnte am Tresen und blickte gelangweilt herüber.
»Danke für den Hinweis, ich warte auf niemanden.«
Er zuckte mit den Schultern. »Es sah so aus.«
»Ich suche Arbeit«, entgegnete sie.
»Haben Sie es mal im Gastgewerbe versucht?«
Hannah dachte an die riesige Küche in Fritz Brunners Haus, in dem sie mehrere Jahre verbracht hatte.
»Ich suche etwas anderes.«
Der Kellner wrang einen Lappen aus und polierte den Tresen. »Hier herrscht jeden Tag ein reges Kommen und Gehen, ich höre so allerlei. Vielleicht kann ich Ihnen einen Tipp geben. Was darf’s denn sein?«
Hannah musterte ihn abschätzend. Wie eine Anmache klang sein Angebot nicht. Wahrscheinlich war ihm langweilig, und geschwätzig schien er obendrein zu sein. Was er sagte, war allerdings nicht von der Hand zu weisen. Nicht nur Fluggäste, sondern auch das Personal der Fluglinien besuchte das Café. Dabei schnappte er ganz sicher jeden Tag Neuigkeiten auf.
»Ich bin Pilotin«, sagte sie.
Er bedachte sie mit einem Blick, in dem eine Mischung aus ungläubigem Erstaunen und Belustigung lag. Sein Mundwinkel zuckte amüsiert.
»Im Ernst?«, fragte er.
»Ja, im Ernst«, antwortete Hannah. »Was ist daran so komisch?« Sie ballte die Fäuste und funkelte ihn wütend an.
Der Kellner legte den Lappen hin und stützte sich auf den Tresen. »Nichts. Ich frage mich, was ein so hübsches Mädchen dazu bringt, einen Beruf zu ergreifen, in dem es nicht die geringste Chance auf eine Anstellung hat.«
»Die Amerikaner sind nicht so engstirnig wie die Deutschen«, gab sie bissig zurück.
»Kann sein. Vor allem dürfen ausschließlich sie und sieben weitere ausländische Gesellschaften Inlandsflughäfen ansteuern.«
»Das wird sich ändern.«
Er betrachtete sie mit unverhohlener Neugier. »Sie sind von der hartnäckigen Sorte, was? Das gefällt mir, vielleicht hab ich was für Sie. Können Sie ein Flugzeug auch warten oder reparieren? Verstehen Sie etwas von Motoren?«
Hannah dachte an die vielen Stunden, die sie mit Scott auf dem Flugfeld oder im Hangar verbracht hatte. Sie