Die Ungerächten. Volker Dützer
Читать онлайн книгу.Haar.
»Dann schlagen wir heute Nacht zu«, sagte er.
»Endlich«, bestätigte Esther. »Wenn du mich fragst, bist du übervorsichtig.«
»Besser, vorsichtig zu sein, als in einer Gefängniszelle zu landen«, antwortete er. »Wenn noch ein Mord bekannt wird, zählt die Polizei eins und eins zusammen.«
»Na und? Niemand kann dich mit Mitschkes Tod in Verbindung bringen.«
»Du vergisst, dass Gomulka mich erkannt hat. Sie suchen alle Männer, die sich auf die Stelle bei Mitschke beworben hatten.«
Sie küsste ihn auf die Brust. »Und wenn schon. Die Stadt ist groß.«
»Lass uns aufstehen. Wir müssen los«, drängte er.
Sie fuhr mit ihren schlanken Fingern an seinem Bauch entlang. »Eine halbe Stunde haben wir noch.«
Das sah Pawel ein.
Die Dämmerung war einer mondlosen Nacht gewichen, als sie sich mit vier anderen Mitgliedern der Gruppe trafen, die sich auf Esthers Vorschlag hin Sikarier nannten. Die Messermänner hatten während der römischen Besetzung Palästinas zum Terroristenkader der gewaltbereiten Zeloten gehört, die sich mit allen Mitteln gegen die verhassten Eroberer gewehrt hatten. Wie die zum Widerstand gegen die Römer bereiten Juden einten die Mitglieder der Gruppe zwei starke Gefühle: der Hass auf die Deutschen und das Verlangen nach Vergeltung.
Anfangs hatte sich Pawel unwohl unter all den Juden gefühlt. Er gab sich zwar als solcher aus, besaß aber überhaupt keine Kenntnisse über die jüdische Kultur. Als Esther ihm auf den Zahn gefühlt hatte und misstrauisch geworden war, gestand er kleinlaut, dass seine Eltern zwar polnische Juden gewesen seien, ihren Glauben jedoch nicht praktiziert hätten. Aus diesem Grund sei er auch nicht beschnitten. Er verstand es geschickt, in ihr Mitleid zu wecken über seine Unkenntnis, der er sich vorgab zu schämen. Noch am selben Abend begann sie, ihn zu unterrichten. Und zwar nicht nur in den religiösen Gepflogenheiten ihres Volkes, sondern auch in der Praxis der jüdischen Liebeskunst.
Nun saß er auf einem der Sofas im Gemeinschaftsraum, studierte die Gesichter der anderen und lauschte Esthers mitreißenden Worten. Ari war bleich wie ein Toter. Er hat Angst, dachte Pawel. Am liebsten würde er sich in ein Loch verkriechen, doch der Druck der Gruppe ist zu stark.
Dabei war der neue Plan geradezu narrensicher. Drei Tage lang hatte er Bolkow beschattet. Da Esther ein Zimmer unter dem Dach bewohnte und der frühere Kapo als Hausmeister im Gemeindezentrum ein und aus ging, musste Pawel höllisch aufpassen, ihm nicht über den Weg zu laufen. Eine Begegnung mit ihm hätte ihr Vorhaben zunichtegemacht.
»Hast du ihm aufgetragen, was ich gesagt habe?«, fragte er.
»Isaak wird Bolkow gleich bitten, wegen des anstehenden Gottesdienstes für heute Schluss zu machen«, antwortete Esther. »Wenn er sich auf den Weg gemacht hat, warten wir zehn Minuten, dann fahren wir ihm nach.«
Pawel nickte zufrieden.
»Wer verkündet das Urteil?«, fragte ein hagerer Mann mit abstehenden Ohren, dessen Namen Pawel vergessen hatte.
»Ich bin das Opfer und darum klage ich auch an«, antwortete Pawel. »Wen habt ihr zum Vollstrecker gewählt?«
»Das Los ist auf Ari gefallen«, sagte Jaron.
Darum ist er so blass, wurde Pawel klar.
»Weiß jeder, was er zu tun hat?«, rief Esther in die Runde.
Alle nickten, einige unmerklich, andere mit grimmiger Entschlossenheit.
»Gut. Ich sage Isaak Bescheid.«
Esther verließ den Raum. Niemand sprach ein Wort. Ari starrte auf einen Fleck auf dem Fußboden.
Der Feigling wird kneifen, dachte Pawel, und uns irgendwann alle auffliegen lassen.
Esther kam zurück und blickte die Männer der Reihe nach an. »Was macht ihr denn für Gesichter? Ihr seid ein Haufen Zauderer und Feiglinge.«
Jaron wollte widersprechen, doch Pawel schnitt ihm das Wort ab.
»Was wir vorhaben, fällt keinem von uns leicht. Aber wir tun, was wir tun müssen, weil uns sonst keine Gerechtigkeit widerfährt. Denkt an eure Familien, an eure Väter, Mütter und Kinder, die die Nazis ermordet haben. Ihre Seelen schreien nach Rache.«
Zunächst noch verhalten, stimmten sie ihm nach und nach lautstark zu.
»Es geht los«, sagte Esther.
Jaron fuhr den Laster, den sie bei dem Überfall auf Mitschke benutzt hatten. Pawel nahm auf dem Beifahrersitz Platz und drückte seine schwarze Mütze tief in die Stirn. Esther und die anderen hockten unter der Plane auf der Ladefläche.
Sie fuhren langsam durch die leeren Straßen, Regen fiel lautlos auf das nasse Kopfsteinpflaster. Die Scheinwerfer erfassten eine Gestalt, die über den Gehweg eilte und Schuttbergen auswich, die in die Fahrbahn ragten. Jaron fuhr langsam weiter, bis er Bolkow eingeholt hatte. Pawel kurbelte das Seitenfenster herunter und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen.
»He, Kumpel. Haste mal Feuer?«
Bolkow blieb stehen, klopfte die Taschen seiner Jacke ab und zog ein Zündholzbriefchen hervor.
»Klar«, sagte er, »wart mal ’ne Sekunde.«
Er riss ein Streichholz an und schützte es mit den hohlen Händen. Pawel beugte sich aus dem Fenster, die winzige Flamme beleuchtete flackernd seine Züge.
»Kowna!«
Bolkow riss erschrocken die Augen auf und ließ das Streichholz fallen. Bevor er Fersengeld geben konnte, waren Esther und die anderen von der Ladefläche gesprungen, stülpten ihm einen Sack über den Kopf und fesselten ihn. Eine Minute später jagte der Lastwagen aus der Stadt hinaus.
»Glaubst du, dass es richtig ist, was wir tun?«, fragte Jaron.
Pawel warf die Kippe aus dem Fenster. »Du etwa nicht? Wie viele Mitglieder deiner Familie sind im KZ umgekommen?«
»Alle. Die Schweine müssen bestraft werden, trotzdem will ich kein Mörder sein.«
»Das sind wir nicht. Wir nehmen unser Recht in die eigenen Hände und setzen es durch, das ist kein Verbrechen.«
»Viele Wege führen nach Rom.«
»Den Nazis war jedes Mittel recht, um uns auszulöschen. Mir ist jedes Mittel recht, um Gerechtigkeit zu erlangen«, antwortete Pawel.
Jaron schwieg und steuerte den Lastwagen durch die Nacht.
Auf ihn muss ich aufpassen, ermahnte sich Pawel, er ist genauso weich wie Ari.
Nachdem sie die Randbezirke der Stadt hinter sich gelassen hatten, bogen sie in einem Waldstück auf einen Feldweg ab, der zu einem kleinen See führte. Pawel hatte sich die Gegend vor ein paar Tagen genau angesehen, sie war perfekt geeignet für ihr Vorhaben.
Der Wagen hielt auf einer Lichtung, Jaron stellte den Motor ab. Pawel hörte, wie Esther und die anderen von der Ladefläche kletterten. Das Licht einer Taschenlampe huschte über Baumstämme und dichtes Buschwerk. Das schwarze Wasser des Sees glitzerte wie flüssiges Pech.
Pawel nahm eine Lampe aus dem Handschuhfach und stieg aus. Ari und der Kerl mit den abstehenden Ohren hatten ihre Pistolen gezogen, Esther zog Bolkow den Sack vom Kopf und verpasste ihm einen Tritt. Er stolperte und landete in einer Schlammpfütze. Hastig drehte er sich auf den Rücken und unternahm einen hilflosen Versuch davonzukriechen. Sie hatten seine Beine zusammengebunden, darum konnte er nur unbeholfen strampeln.
Pawel schaltete die Lampe ein und richtete sie auf das kreideweiße Gesicht des ehemaligen Kapos. »Ich habe nicht vergessen, was du mir angetan hast, Bolkow.«
»Das waren andere Zeiten, Kowna. Jeder hat ums Überleben gekämpft.«
»Um dir Vorteile zu verschaffen, hast du gemeinsame Sache mit den Nazis gemacht. Ich habe gesehen, wie du Wozniak, Michalsky und den