Die Ungerächten. Volker Dützer
Читать онлайн книгу.Waldrand lag etwa hundert Schritte entfernt, weder SS noch die Männer des Volkssturms waren zu sehen. Er fragte sich, warum sie bei der Mordaktion mitmachten. Entweder hatte man sie dazu gezwungen oder sie waren genauso fanatisch wie die Teufel in den schwarzen Uniformen.
Sein Vater war kaum bei Bewusstsein. Pawel schob seine Arme unter die Achseln des alten Mannes und zog ihn an die Scheunenwand. Er kroch ins Freie, drehte sich um und zerrte ihn nach draußen.
Die Scheune brannte inzwischen wie eine riesige Fackel, im Inneren konnte niemand mehr am Leben sein. Beißender schwarzer Qualm drang durch die Ritzen und Spalten, selbst in einiger Entfernung war die Hitze unerträglich. Pawel rüttelte seinen Vater an der Schulter. Der Alte hustete und schlug die Augen auf.
»Komm!«
Pawel half ihm auf und stützte ihn. Er machte sich Sorgen wegen der Schusswunde und des Blutverlusts. »Wenn wir den Wald erreichen, sind wir in Sicherheit«, keuchte er.
Der alte Mann schüttelte müde den Kopf. »Ich schaffe es nicht. Du musst allein gehen.«
»Ich lasse dich nicht zurück. Niemals.«
Ohne auf seinen Protest zu achten, betrat Pawel die Wiese und sah sich wachsam um. Die brennende Scheune gab ihnen Deckung, ein stürmischer Wind fachte die Flammen an, die turmhoch in den Himmel loderten. Ein Teil des Daches stürzte ein, Funken stoben auf.
Nach wenigen Schritten spürte Pawel, wie erschöpft er war. Das Gewicht des apathischen alten Mannes zog ihn unerbittlich zu Boden. Sein Vater stöhnte vor Schmerz, er stolperte und stützte sich unwillkürlich auf sein verwundetes Bein.
Der Waldrand, der ihm vorhin so nah vorgekommen war, schien jetzt mit jedem Schritt wie ein Trugbild weiter vor ihm zurückzuweichen. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass sie entdeckt wurden. Ein überraschter Ausruf, ein Schuss, dann wäre es vorbei. Aber nichts geschah.
Sie schafften es bis zu einer Gruppe Kiefern mit tief herabhängenden Zweigen. Pawel brach in die Knie, sein Vater fiel zu Boden und blieb auf dem Rücken liegen. Pawel sah zur Scheune zurück. Die Lastwagen fuhren ab, ein Soldat auf einem der Fuhrwerke kämpfte mit den Zugpferden, die von den Flammen in Panik versetzt wurden. Niemand schien auf den Gedanken zu kommen, dass jemand der Feuerhölle entkommen sein könnte. Pawel konnte selbst kaum glauben, dass sie lebten.
Da er kein Messer hatte, versuchte er, mit den Zähnen vom zähen Drillichstoff seiner Hose einen Streifen abzureißen, um die Schusswunde zu verbinden. Der Ausdruck in den Augen seines Vaters erschreckte ihn – so still, so friedlich und demütig.
»Wir müssen weiter«, sagte er.
Unmerklich schüttelte der Alte den Kopf. »Ich würde dich nur aufhalten. Meine Reise endet hier.«
Wütend zerrte Pawel an dem Stoff. »Sag so etwas nicht. Du wirst sehen, wir schaffen es. Wir werden Hilfe finden, irgendwo. Die Nazis sind am Ende.«
»Es ist zu spät.«
Tränen schossen ihm in die Augen. »Nein, das ist es nicht. Glaubst du wirklich, das Schicksal hat uns das Lager, den Marsch und das Feuer überstehen lassen, damit wir hier sterben?«
Sein Vater tastete nach Pawels Hand. »Du musst leben, denn du hast eine Aufgabe.«
Pawel sah ihn verständnislos an. »Was meinst du?«
»Milena … und all die anderen. Sie dürfen nicht umsonst gestorben sein. Jemand muss sie rächen. Versprich mir, dass du die Deutschen für ihre Verbrechen bestrafen wirst. Du wirst nicht allein sein. Der Schrei nach Vergeltung wird sich überall erheben. Und du … musst dir Freunde suchen, Gleichgesinnte, musst …« Sein Brustkorb hob sich stockend, das fahle Gesicht glänzte wächsern. »Versprich es mir.«
Pawel zögerte. Ein Versprechen, das er einem Sterbenden gab, würde er einhalten müssen, auch wenn es seinen weiteren Lebensweg bestimmen sollte.
»Versprich es mir.«
Pawel nickte. »Ich verspreche es.«
»Gut.«
Der Alte schloss die Augen. Nach einer Weile hörte er auf zu atmen. Pawel blieb neben dem Toten sitzen, hielt seine Hand und weinte die Tränen, die er sich all die Monate versagt hatte.
Er wusste nicht, wie lange er neben seinem toten Vater ausgeharrt hatte, als er Stimmen hörte, die ihn aus seiner Starre rissen. Er kroch ins Unterholz und verbarg sich in einer von Haselnusssträuchern überwucherten Senke. Durch die Zweige sah er zwei Männer, die so dicht vor ihm standen, dass er sie beinahe mit der ausgestreckten Hand hätte berühren können. Einer der beiden rollte ein Bündel zusammen und warf es ins Unterholz. Es war eine SS-Uniform. Der zweite Mann trug einen dunklen Wollmantel und eine olivgrüne Feldmütze der Wehrmacht. Es war Bolkow. In dem anderen Mann erkannte Pawel SS-Hauptscharführer Gerhard Theissen.
»Machen wir, dass wir fortkommen«, sagte Theissen.
Bolkow nickte. »Meine Freunde warten bereits auf uns. Wir müssen uns beeilen.«
Sie entfernten sich rasch nach Westen, Pawel blieb allein zurück. Die Mörder würden nun in der Menge der Flüchtenden untertauchen, sich neue Papiere besorgen und niemals für ihre Untaten bestraft werden. Pawel ballte die Fäuste und grub die Fingernägel in die Handflächen, bis der Schmerz unerträglich wurde. In diesem Augenblick schwor er beim Tod seiner Schwester, das Versprechen, das er seinem Vater gegeben hatte, unter allen Umständen einzulösen. Er würde Theissen suchen und ihn eines Tages finden, auch wenn er der Jagd nach ihm sein Leben opfern musste. Und der Tod des verfluchten Mörders sollte erst der Beginn seiner schrecklichen Vergeltung sein.
2
Zwei Jahre später, 8. März 1947
Hannah Bloch schlug den Kragen ihrer pelzgefütterten Fliegerjacke hoch, um sich vor der beißenden Kälte zu schützen. Trotz der warmen Armeestiefel, der olivgrünen Hose und dem Wollschal fror sie. Ihr Atem kondensierte auf der Fensterscheibe der Straßenbahn, die sich ihren Weg durch die Trümmerwüste Frankfurts bahnte. Hannah wusste, dass sie großes Glück gehabt hatte, weil Scott Young, Lieutenant der US-Army und Agent des CIC, einen Narren an ihr gefressen hatte. Er versorgte sie mit allem, was nötig war, um in der zerstörten Stadt zu überleben. So war auch die schicke Jacke ein Geschenk von ihm.
Sie lehnte die Stirn gegen die kalte Glasscheibe und dachte an die vergangene Nacht. Scott besaß alles, was sich eine Frau wünschen konnte. Er war klug, aufmerksam und hatte Humor. Er sah blendend aus und war ein zärtlicher Liebhaber. Sie wusste, dass er sie aufrichtig liebte und bei jeder Gelegenheit auf Händen trug. Eigentlich sollte sie mit einem solchen Mann an ihrer Seite überglücklich sein, denn es erging ihr weit besser als der großen Mehrheit der Bevölkerung. Die meisten Menschen waren vollauf damit beschäftigt, ihr Überleben zu organisieren und schlugen sich nicht mit einem komplizierten Liebesleben herum. Die Stadt war voll mit Frauen, die darauf warteten, dass ihre Männer endlich heimkehrten oder dass sie wenigstens Gewissheit über deren Schicksal erlangten. Niemand wusste genau, wie viele Ehemänner, Väter und Söhne auf den Schlachtfeldern Russlands für den Wahn vom Großdeutschen Reich ihr Leben gelassen hatten. Wie so oft in ihrem Leben hatte Hannah Glück im Unglück gehabt, dennoch brachte sie es fertig, mit dem Schicksal zu hadern und sich über ihre Gefühle im Unklaren zu sein.
Seit Wochen grübelte sie darüber nach, was sie für Scott empfand. An ihm lag es nicht, dass sie regelmäßig Phasen des Trübsinns durchlebte. Er gab sich große Mühe, ihr zu helfen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Doch die Bilder in ihrem Kopf verfolgten sie auch, wenn sie mit ihm zusammen war. Sie schlichen sich in ihre Träume und schoben sich am Tag immer dann vor ihre Augen, wenn sie glaubte, die schrecklichen Ereignisse loslassen zu können: die Nacht bei der Kapelle, die Grube, Lubeck, der sie zwang, zu graben, bis sie auf die Leichen der Deserteure stieß und damit auf die Erkennungsmarke – den furchtbaren Beweis, dass ihre erste große Liebe Hans Simonek tot war. Vielleicht hätte sie ihn vergessen können, wenn sie sich ehrlich darum bemühte, aber sie wollte es nicht. Solange sie die Erinnerung an ihn wachhielt, lebte er in ihrem Herzen weiter. Und das war ihr Problem.
Die